E-Book, Deutsch, 207 Seiten
Russell Unpopuläre Betrachtungen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-905811-47-6
Verlag: Europa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 207 Seiten
ISBN: 978-3-905811-47-6
Verlag: Europa Verlag
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Das 'Lexikon Linker Leitfiguren' schließt den Artikel über Bertrand Russell mit der Feststellung: 'Die Linke in der Bundesrepublik hat es sich wohl zu leicht mit ihm gemacht: Als Mitstreiter gegen den Rüstungswettlauf und die atomare Bedrohung, als Ankläger gegen die amerikanische Kriegsführung in Vietnam und als Vordenker antiautoritärer Erziehung war er in ihren Reihen willkommen. Sein philosophisches Werk und der Geist seiner Kritik blieben aber aus dem theoretischen Diskurs der Linken ausgeschlossen ... Er sollte für die Linke eine Provokation bleiben: als radikaler Aufklärer.'In 'Unpopuläre Betrachtungen' stellte Russell 1950 Essays zusammen, die 'gegen den zunehmenden Dogmatismus der Rechten wie der Linken, der unserem tragischen Jahrhundert bisher seinen Stempel aufgedrückt hat, ankämpfen'. Sie zeigen ihn als eben jenen radikalen Aufklärer; denn 'wirkliche Philosophie handelt von Dingen, die für jeden Gebildeten von Interesse sind', unter anderem: Philosophie und Politik, Philosophie für Laien, Der Weg zum Weltstaat, Die tieferen Beweggründe der Philosophie, Die Aufgaben des Lehrers, Ideen, die der Menschheit genützt haben, Ideen, die der Menschheit geschadet haben. -- Dieser Text bezieht sich auf eine vergriffene oder nicht verfügbare Ausgabe dieses Titels.
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Die Engländer zeichnen sich unter den Völkern des modernen Europa durch ihre hervorragenden Philosophen und ihre Verachtung für die Philosophie aus. Beides ist ein Zeichen für ihre Intelligenz. Missachtung der Philosophie wird jedoch – sofern man sie zum System entwickelt – wiederum selbst zu Philosophie – zu dem, was man in Amerika »Instrumentalismus« nennt. Ich möchte darauf hinweisen, dass schlechte Philosophie sehr gefährlich werden kann und deshalb den Grad negativen Respekts verdient, den wir etwa dem Blitz oder dem Tiger zollen. Welche positive Achtung einer »guten« Philosophie zukommen mag, will ich vorläufig dahingestellt sein lassen. Die Beziehungen zwischen Philosophie und Politik sind in England weniger deutlich geworden als auf dem europäischen Kontinent. Empirismus ist im Allgemeinen mit Liberalismus verknüpft, doch war Hume immerhin ein Tory. Der philosophische Idealismus hat gewöhnlich auf ähnliche Weise eine Verbindung zum Konservatismus, doch war T. H. Green, ein Hauptgegner des Empirismus, politisch ein Liberaler. Auf dem Kontinent haben sich die Unterschiede klarer herausgeschält, und dort hat sich auch eine größere Bereitwilligkeit gefunden, Lehrgebäude als ein Ganzes anzuerkennen oder abzulehnen, ohne ihre Bestandteile einzeln einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Die Philosophie war in den meisten Kulturstaaten fast stets eine Angelegenheit, über welche die jeweiligen Machthaber eine offizielle Meinung hatten, und so ist es noch heute, mit Ausnahme der Länder, in denen eine liberale Demokratie herrscht. Die katholische Kirche ist an die Philosophie des Thomas von Aquino, das Sowjetsystem an die von Marx gebunden. Die Nationalsozialisten übernahmen den deutschen Idealismus in seinen Grundzügen, wenngleich das Maß der Kant, Fichte oder Hegel zu schuldenden Achtung im Einzelnen nicht festgelegt war. Katholiken, Kommunisten und Nationalsozialisten sind alle der Meinung, dass ihre Ansichten über Fragen der praktischen Politik unlöslich mit ihren theoretischen philosophischen Ansichten zusammenhängen. Der demokratische Liberalismus seinerseits war zur Zeit seiner ersten Erfolge mit der empirischen Philosophie verknüpft, wie sie Locke entwickelt hatte. Ich will nun diese Beziehung zwischen Philosophie und politischen Systemen in ihrer tatsächlichen Existenz betrachten und untersuchen, wie weit sie logisch stichhaltig ist und wie weit sie einer wenn nicht logischen, so doch psychologischen Zwangsläufigkeit unterliegt. Sofern eine dieser beiden Beziehungen tatsächlich besteht, kann die Philosophie eines Individuums tatsächlich in den engsten Zusammenhang mit Glück oder Unglück von weiten Teilen der Menschheit geraten. Das Wort »Philosophie« ist in seiner Bedeutung keineswegs festgelegt. Wie das Wort »Religion« hat es eine verschiedene Bedeutung, je nachdem man es zur Beschreibung gewisser historischer Züge von Kulturen verwendet oder zur Bezeichnung einer Tendenz oder einer geistigen Haltung benutzt, die in der Gegenwart als wünschenswert erachtet wird. Soweit Philosophie an den Universitäten der westlichen demokratischen Welt als Studienfach betrieben wird, ist sie – zumindest der Absicht nach – ein Teil der wissenschaftlichen Arbeit und auf die gleiche Unabhängigkeit aus, die von den anderen Wissenschaften angestrebt wird; die Behörden verlangen von ihr nicht, zu Schlussfolgerungen zu gelangen, die der Regierung genehm sind. Viele Philosophieprofessoren würden sowohl die Zumutung von sich weisen, ihre Schüler in politischen Fragen zu beeinflussen, wie überhaupt die Ansicht, dass Philosophie in ihren Jüngern Tugenden heranbilden solle. Das kann, so würden sie sagen, ebenso wenig Angelegenheit des Philosophen wie des Physikers oder Chemikers sein. Das einzige Ziel der Universitätsausbildung sollte das Wissen sein; die sittliche Bildung junger Menschen sollte Eltern, Schullehrern und den verschiedenen Konfessionen überlassen bleiben. Aber diese Auffassung von der Philosophie, für die ich viel Sympathie hege, ist etwas sehr Neues und selbst in der modernen Welt wenig verbreitet. Ihr steht eine völlig andere Ansicht gegenüber, die seit dem Altertum vorherrschend gewesen ist, und der die Philosophie ihre soziale und politische Bedeutung verdankt. In diesem historisch üblichen Sinne ist Philosophie aus dem Versuch einer Synthese zwischen Wissenschaft und Religion hervorgegangen, oder genauer gesagt, aus dem Versuch, eine Lehre von der Natur des Universums und der Stellung des Menschen darin mit einer praktischen Ethik zu vereinen, die lehrt, was als die beste Lebensführung zu gelten hat. Philosophie unterschied sich – zumindest nominell – von der Religion dadurch, dass sie sich auf keine Autorität oder Tradition berief; von der Wissenschaft unterschied sie sich insofern, als sie in erster Linie dem Menschen eine Anleitung zum Leben zu geben suchte. Ihre kosmologischen und ethischen Theorien waren eng miteinander verquickt: manchmal beeinflussten ethische Motive die Ansichten des Philosophen über die Natur des Universums, manchmal führten ihn seine Ansichten über den Kosmos zu ethischen Schlussfolgerungen. Bei den meisten Philosophen schlossen die moralischen Ansichten politische Konsequenzen ein; einige vertraten das System der Demokratie, andere das der Oligarchie; einige priesen die Freiheit, andere die Disziplin. Fast alle erdenklichen philosophischen Richtungen übrigens wurden schon von den Griechen entwickelt, und die Kontroversen der heutigen Zeit beschäftigten bereits die Vorsokratiker. Das Hauptproblem von Ethik und Politik besteht darin, auf irgendeine Weise die Erfordernisse des Gemeinschaftslebens mit den Wünschen und Begierden des Individuums in Einklang zu bringen. Das wurde – sofern es überhaupt möglich war – mit Hilfe verschiedener Mittel erreicht. Wo es eine Regierung gibt, kann zur Verhinderung von anti-sozialen Handlungen derjenigen, die der Regierung nicht angehören, das Strafgesetz gebraucht werden, und das Gesetz kann durch Religion gestärkt werden, insofern die Religion lehrt, dass Ungehorsam gottlos sei. Wo es eine Geistlichkeit mit genügend starkem Einfluss gibt, um ihre Moralgesetze bei weltlichen Herrschern durchzusetzen, werden selbst die Herrscher in gewissem Ausmaß dem Recht unterworfen; es gibt hierfür eine Fülle von Beispielen im Alten Testament und in der mittelalterlichen Geschichte. Könige, die wirklich an eine göttliche Weltherrschaft und an Lohn und Strafe in einem jenseitigen Leben glauben, fühlen sich weder allmächtig noch fähig, ungestraft zu sündigen. Dieses Gefühl wird etwa von dem König in Shakespeares »Hamlet« zum Ausdruck gebracht, wenn er die Unbeugsamkeit der göttlichen Gerechtigkeit mit der Gefügigkeit irdischer Richter gegenüber der königlichen Macht vergleicht. Soweit Philosophen sich mit dem Problem der Erhaltung des Sozialgefüges befasst haben, strebten sie nach Lösungen, die weniger offenkundig von Dogmen abhingen als diejenigen, die ihrerseits die offiziellen Religionen anzubieten hatten. Die meisten Philosophien sind die Reaktion auf einen Skeptizismus gewesen; sie sind in Epochen entstanden, in denen die Autorität allein nicht mehr zur Erzielung des für die Gemeinschaft notwendigen Minimums an Glauben ausreichte, so dass zur Erreichung dieses Resultats neue Argumente gefunden werden mussten, die wenigstens ihrem äußeren Anschein nach vernunftgemäß waren. Dieser Beweggrund hat zu einer tiefen Unaufrichtigkeit geführt, mit der die meisten Philosophien sowohl des Altertums wie der Neuzeit behaftet sind. Eine oft nur unbewusste Furcht, dass klares Denken zu Anarchie führen könnte, hat oft die Philosophen bewogen, sich in die Nebelwolken trügerischer und dunkler Behauptungen zu hüllen. Selbstverständlich hat es Ausnahmen gegeben; die bemerkenswertesten sind Protagoras im Altertum und Hume in der Neuzeit. Beide waren auf Grund ihres Skeptizismus politisch konservativ. Protagoras war sich nicht klar, ob die Götter existierten, aber er hielt daran fest, dass sie auf jeden Fall verehrt werden sollten. Nach seiner Auffassung hatte die Philosophie nichts Erbauliches zu lehren, und musste man sich, wenn man die Moral erhalten wollte, auf die Gedankenlosigkeit der großen Masse und ihre Bereitschaft verlassen, zu glauben, was man sie gelehrt hatte. Deswegen durfte nichts getan werden, was die volkstümliche Kraft der Tradition zu schwächen geeignet war. Bis zu einem gewissen Grade kann das gleiche von Hume gesagt werden. Nach dem er seine skeptischen Gedankengänge entwickelt hatte, die, wie er selbst zugibt, keinem Menschen als Leitfaden für seine Lebensführung dienen könnten, ging er zu einem praktischen Ratschlag über, der jedermann davon abgehalten hätte, ihn überhaupt zu lesen. »Nur Nachlässigkeit und Unaufmerksamkeit«, sagt er, »können uns helfen. Aus diesem Grunde baue ich ganz auf diese Eigenschaften.« Er legt damit nicht die Gründe dar, aus denen er selbst ein Konservativer war; aber es ist klar, dass »Nachlässigkeit und Unaufmerksamkeit« zwar zur Ergebung in den status quo führen, aber keinen Menschen ohne die Hilfe anderer Gründe zur Unterstützung irgendeines...