Rytchëu | Alphabet meines Lebens | E-Book | www.sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Rytchëu Alphabet meines Lebens

Mit Bildern aus Juri Rytchëus Familienalbum. Autobiografische Erzählung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30449-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Mit Bildern aus Juri Rytchëus Familienalbum. Autobiografische Erzählung

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-293-30449-9
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Geboren in einer traditionellen Fellhütte am Polarkreis, geht er seinen Weg und bewahrt sich immer den wachen, heiteren, ironischen Blick auf die seltsamen Gebräuche der »zivilisierten« Welt. Noch nie hat Juri Rytchëu so persönlich, verschmitzt und anrührend von dem erzählt, was ihm, dem Tschuktschen aus dem äußersten Winkel Asiens, auf seiner Lebensreise widerfuhr. Hunderttausende von Leserinnen und Lesern kennen die Romane von Juri Rytchëu und haben den Autor auf seinen zahlreichen Lesungen erlebt. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2008 hat er diesen Rückblick auf sein Leben abgeschlossen.

Juri Rytchëu, geboren 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens, war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.
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Automobil


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kowlorgoor

Kowlorgoor heißt wörtlich Räderschlitten. Zum ersten Mal habe ich ein Automobil in der Sankt-Lorenz-Bucht gesehen, als ich im Sommer 1944 zum Bau des Militärflughafens dorthin abkommandiert war. Der Bau war ein Eilprojekt und streng geheim. Die angeworbenen Bauarbeiter, die fast mit Gewalt aus den Siedlungen am Meer zusammengeholt worden waren, wurden auf amerikanische Landungsboote verfrachtet und auf dem niedrigen Kieselufer von Kytrytkyn, am Eingang zur Lorenz-Bucht, abgesetzt. Hier waren bereits geräumige amerikanische Zelte aufgeschlagen worden, in denen nackte Pritschen standen. Das Gelände war mit Stacheldraht umzäunt, an den vier Ecken standen hölzerne Wachtürme mit bewaffneten Maschinengewehrschützen.

Wir wurden am Ufer aufgestellt und ins Lager geführt.

Das Automobil sah ich schon aus der Ferne. Es kam aus der hügligen Tundra angefahren und schwankte von einer Seite zur anderen, wie ein Lederkanu auf den Meereswellen. Es heulte und brummte, und unter ihm quoll Rauch hervor. Ich blieb verdutzt stehen. Dieser geheimnisvolle Räderschlitten, der ganz von allein, ohne Zugtiere, durch die hüglige Tundra fuhr, wirkte auf mich wie ein lebendiges Zauberwesen.

Das Auto sah wirklich wie ein lebendiges Wesen aus. Die Scheinwerfer waren die Augen, den Rumpf bildete die Pritsche, die Beine waren die Räder, der Kopf war das Fahrerhaus, das den bemerkenswertesten Teil, den brummenden heißen Motor, beherbergte. Später habe ich das lebendige Herz des Motors gefühlt, als ich die Hand auf die warme Motorhaube legte. Alle Automobile auf Tschukotka waren amerikanischer Herkunft, Studebakers, die die Sowjetunion als Kriegshilfe über das Lend-Lease-Abkommen erhalten hatte.

Jeden Morgen, wenn wir in aller Eile unser bescheidenes Frühstück hinunterschlangen, das aus Graupenbrei und einem Becher mit süßem Tee bestand, kamen die gerade erst erwachten Automobile zu den Zelten gefahren. Sie heulten unzufrieden, als ob sie darüber zornig wären, dass man sie in dieser kalten, nassen Morgenstunde geweckt hatte. Selbst ihre Scheinwerfer brannten trübe und irgendwie verärgert.

Die Spaten klapperten, als wir hastig auf die Pritschen kletterten. Ich spürte, wie unter mir der Wagen ächzte und stöhnte und wie er kreischend und mit knirschenden Eisengelenken langsam anfuhr, immer schneller wurde und durch die hüglige Tundra zur fernen Landzunge holperte, wo wir für die Landebahn des Flughafens Kieselsteine aufluden. Die Arbeit war selbst für einen so kräftigen jungen Mann wie mich sehr schwer.

Nach einiger Zeit wurde ich befördert: Ich kam als Gehilfe des Kochs in die Küche für die Lastträger, die fast alle Landsleute von mir waren. Zu meinen Pflichten gehörte es, das Feuer unter der Kochplatte zu unterhalten, in die ein riesiger Kessel eingelassen war. Mit demselben Spaten, mit dem ich Kohle ins Feuerloch schaufelte, rührte ich das Essen im Kessel um, damit es nicht anbrannte. Auch diese Arbeit war nicht leicht, machte aber satt.

Schade war, dass ich nun nicht mehr mit dem Wagen fuhr und ihn nur noch aus der Ferne sah. Ich hatte immer Angst, von vorn an ein Auto heranzutreten, ich fürchtete unter die schwarzen Räder zu kommen, falls es dem eisernen Monster plötzlich einfallen sollte loszufahren.

Ein richtiger Autofanatiker wurde mein Uëlener Landsmann Wassili Kornejewitsch Ryppel. Er war schon früher mit seiner Vorliebe für die Technik aufgefallen, konnte Uhren reparieren, Nähmaschinen und sogar die »Archimedes«-Bootsmotoren, die damals in die Fischfangschaluppen eingebaut wurden.

Auf dem Bau bemühte sich Ryppel, möglichst immer in der Nähe eines Autos zu sein. Er war der Erste, der dem Fahrer half, wenn etwas kaputtging. Es gab für ihn kein größeres Glück, als neben dem Fahrer in der Kabine eines Studebakers zu sitzen. Manchmal sahen wir, wie Ryppel sogar das Lenkrad hielt und scheinbar eigenhändig das Auto lenkte.

Doch plötzlich flog eine schreckliche Nachricht von Zelt zu Zelt: Ryppel hatte ein Auto in die Tundra entführt! Die Wachsoldaten jagten ihm hinterher. Auch ich rannte los.

Der abgesoffene Laster stand mit der Nase zu einem kleinen Tundrasee. Die Räder waren im sumpfigen Tundraboden stecken geblieben. Der Bösewicht saß in der Kabine, sein Kopf war auf die Arme gesunken.

Die Soldaten umzingelten den Wagen und fluchten entsetzlich. Sergeant Sotow, der Kommandant der motorisierten Truppe, kam angerannt. Er riss die Wagentür auf. Da hob Ryppel den Kopf, und alle sahen seinem Gesicht an, wie glücklich er war. Mein Landsmann lächelte so selig, als ob er gerade einen Grönlandwal erlegt hätte.

»Was freust du dich, du Dussel!«, schrie ihn der Sergeant an. »Weißt du, was dir für den Diebstahl von Militäreigentum droht! Das Tribunal! Und nach dem Kriegsgesetz die Erschießung!«

Ryppel, der immer noch glücklich lächelte, kletterte aus der Kabine und sprang federnd auf den Erdhügel. »Ich hab es geschafft, ihn zu bändigen!«, sagte er auf Tschuktschisch. Allerdings war ich der Einzige, der seine Worte verstand.

»Festnehmen!«, brüllte Sergeant Sotow, und zwei bewaffnete Soldaten rannten zu Ryppel, drehten ihm die Arme auf den Rücken und führten ihn zur Wache ab.

Das Auto wurde mithilfe eines Raupenschleppers aus dem Sumpfboden gezogen. Es war völlig unbeschädigt und fuhr bereits am nächsten Tag wieder fröhlich die aufgeschüttete Straße entlang und transportierte Kieselsteine vom Ufer des Meerbusens.

In unserem Zelt wurde lange darüber diskutiert, auf welche Weise wohl unser Landsmann Wassili Kornejewitsch Ryppel hingerichtet werden würde. Sie würden den Uëlener Jäger wohl am Meeresufer erschießen, auf dem Kap Kytrytkyn. Wir rätselten: Würden mehrere Menschen auf ihn schießen? Oder würde nur ein Soldat hervortreten, vielleicht sogar der Kommandeur der motorisierten Truppe, Sergeant Sotow, persönlich? Ich brachte dem Häftling Brei, dünnen Tee und Brot und wunderte mich über seine gute Laune. Offensichtlich kümmerte ihn der nahe Tod überhaupt nicht.

Etwas hielt mich zurück, mit Ryppel ein längeres Gespräch anzufangen, irgendeine unsichtbare Grenze, die das Schicksal meines Landsmanns von meinem und dem der anderen Uëlener trennte, die nach Beendigung des Flughafenbaus wieder nach Hause zurückkehren würden, in ihren Heimatort, zu ihren Verwandten und Freunden. Nur Ryppel würde nicht zurückkommen … Vielleicht werden sie uns erlauben, wenigstens seinen Leichnam in die Heimat zu bringen? Ryppels Tochter, deren Namen die russischen Lehrer kaum aussprechen konnten – Ryppelyttyne –, ging in dieselbe Klasse wie ich und war sehr begabt für die mathematische Wissenschaft.

Doch Ryppel verhielt sich seelenruhig, als ob nichts Besonderes passiert wäre.

Als ich die Wache verließ und an dem bewaffneten Soldaten vorbeiging, hörte ich hinter mir die Stimme des Häftlings. Er sang Kriegslieder, die er bei den Soldaten gelernt hatte:

Furchtlos im Kampf wird sich zeigen,

wer Stalin studiert – für und für!

Wen Sturm und Gefahren nicht beugen,

sein Weg – Komsomol – führt zu dir.

Schließlich war der Bau abgeschlossen. Ein Flugzeug aus der Prowidenije-Bucht machte eine Testlandung, und aus diesem Anlass organisierte die Leitung ein großes Fest. Alle erhielten ein Geschenk – eine doppelte Portion Graupengrütze und hundert Gramm reinen Spiritus. Die Feier aber begann erst richtig, als die Hohe Militärführung angeflogen kam – ein General. Er kam aus Chabarowsk und hatte an einem Tag die Reise von mehreren Tausend Kilometern bis zur Sankt-Lorenz-Bucht geschafft.

Zu Ehren des Generals stellte sich am Rand der Landebahn, die mit Transparenten, Fahnen und einem riesigen Stalin-Porträt geschmückt war, das motorisierte Regiment mit blitzblank gewaschenen Automobilen auf. Die Soldaten hatten sich ebenfalls herausgeputzt. Etwas abseits hatte mit glänzenden Messingposaunen das Militärorchester Platz genommen, das von Zeit zu Zeit Melodien intonierte und damit das uralte Meeresufer mit völlig neuen Tönen betäubte und die Vögel in Angst und Schrecken versetzte. Alle waren in gehobener Festtagsstimmung. Auch ich freute mich auf die baldige Rückkehr in mein heimatliches Uëlen, in die Schule.

Ich brachte dem Häftling das festliche Mittagessen, er bekam sogar die hundert Gramm Spiritus in einem Aluminiumbecher. Ryppel trank den reinen Alkohol aus, ohne mit der Wimper zu zucken, und erstmals bekam sein ewig fröhliches Gesicht einen traurigen Ausdruck. »So ist das nun«, sagte er zu mir. »Meine letzten Tage sind gekommen. Bald werde ich hingerichtet …«

»Wirst du wirklich erschossen?«, fragte ich ihn mit ersterbender Stimme. Ryppel nickte schweigend und begann die Grütze zu essen. Aber als ich ging, sang er wieder seine Kriegslieder.

Über dem Meer tauchte das Flugzeug des Generals auf. Bevor es auf der neuen, mit kleinen Wimpeln abgesteckten Bahn landete, zog es ein paar Kreise über dem Flughafen, der wartenden Menge, den Häuschen der Bezirksregierung und dem laut spielenden Orchester, wobei es mit seinem Motorengebrumm die Marschklänge übertönte.

Die Erbauer...


Leetz, Antje
Antje Leetz, geboren 1947 in Frankfurt am Main, war Lektorin für neue russische Literatur im Verlag Volk und Welt Berlin und Redakteurin in einem Verlag in Moskau. Sie ist als Herausgeberin, Übersetzerin und als Autorin von Radiofeatures zum Thema Russland tätig.

Rytchëu, Juri
Juri Rytchëu, geboren 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens, war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.



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