Rytchëu | Unter dem Sternbild der Trauer | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Rytchëu Unter dem Sternbild der Trauer

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-293-30459-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

ISBN: 978-3-293-30459-8
Verlag: Unionsverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dicht am Polarstern glitzern im Sternbild der Trauer jene Sterne, die aus den Seelen der Toten hervorgegangen sind. Dort sieht der Schamane Analko auch seinen Sohn Atun, der ein Opfer der Umwälzungen geworden ist, die über die Bewohner der Wrangel-Insel hereingebrochen sind. Den Stoff zu diesem Roman schöpfte Juri Rytchëu aus zwei Quellen: den Erzählungen seiner Stammesgenossen und aus den Akten eines damals aufsehenerregenden Moskauer Prozesses. 1934 schlägt eine sowjetische Forschergruppe auf der Wrangel-Insel ihr Lager auf. Die Insel am Polarkreis wird zum Schauplatz des unheilvollen Zusammenpralls zweier Kulturen. Beim jungen Atun endet die Zerreißprobe zwischen den materiellen Verlockungen der eingebrochenen »Zivilisation« und dem traditionellen Leben und magischen Denken tödlich.

Juri Rytchëu, geboren 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens, war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.
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1


Die ersten Tage auf der Wrangel-Insel versanken in einem Wirrwarr, in sich widersprechenden Befehlen und ordinären Flüchen; darin überboten sich der Kapitän des Eisbrechers »Lütke«, der das Entladen zu beschleunigen suchte, um schneller die Rückfahrt antreten zu können, und Minejew, der seine Wirtschaft an den neuen Leiter der Polarstation, Sementschuk, übergab, wobei dieser erst unbesehen alles hinnahm, dann alles stückweise durchzählen wollte: Kognakflaschen, Säcke mit Zucker, Patronen, Pelzbekleidung, Rentierfelle …

Die Zimmerleute errichteten schnell zwei neue Häuser – eins war für den neuen Chef bestimmt. Die Ankömmlinge bezogen einstweilen die alten Häuser – Doktor Wulfson und seine Frau erhielten zwei kleine Räume, und das freute Nikolai Lwowitsch und Gita Borissowna so, dass sie zunächst nicht einmal daran dachten, wie sie in dieser Enge Kranke behandeln und die geplanten wissenschaftlichen Forschungen durchführen sollten.

Hauptsache, sie waren endlich die aufreibende Nachbarschaft von Konstantin Dmitrijewitsch Sementschuk und seiner Gattin Nadeshda Indiktorowna los, die bereits im Zug Moskau-Wladiwostok verlangt hatte, mit »Genossin Vorgesetzte« angeredet zu werden.

Vorbei war der aufregende Winter 1934, da die Schiffbrüchigen von der »Tscheljuskin« aus der Tschuktschen-See nördlich von Kap Wankarem gerettet wurden. Über hundert Personen, darunter Frauen und sogar ein Neugeborenes, hatten in der Polarnacht auf einer driftenden Eisscholle ausgeharrt.

Das Land empfing die von der »Tscheljuskin« Heimgekehrten wie Helden, und in diesem freudigen Tohuwabohu wurde eine neue Expedition auf die Wrangel-Insel vorbereitet.

Doktor Wulfson und seine Frau hatten sich auf eine Zeitungsanzeige des Arktischen Instituts hin beworben. Ihrem neuen Vorgesetzten begegneten Doktor Wulfson und seine Frau das erste Mal vor dem Arbeitszimmer des inzwischen berühmt gewordenen Polarforschers Otto Juljewitsch Schmidt.

»Ich muss dringend zum Volkskommissar Jagoda!« erklärte Sementschuk geschäftig. »Wir sehen uns im Zug. Die Medikamente und die sonstige medizinische Ausrüstung sind bereits verladen.«

»Wie denn das?« sagte Wulfson verwundert. »Am Ende fehlt ein Medikament oder ein Gerät, das wir in der Polarstation unbedingt benötigen?«

Obwohl er das ruhig und sogar ein wenig bittend sagte, entgegnete Sementschuk gereizt: »Dann hätten Sie noch länger fürs Packen gebraucht! Zum Glück war der Biologe Wakulenko da … Ich musste ihn beauftragen, sich um die medizinische Ausrüstung zu kümmern, obwohl er dafür eigentlich nicht verantwortlich ist.«

Der raue Vorgesetztenton machte Eindruck – der Doktor blinzelte betreten, und seine Frau erklärte: »Wir mussten den Sohn unterbringen … Verstehen Sie uns recht: Es ist nicht so leicht, sich von ihm für ganze drei Jahre zu trennen. Sie wissen doch – und wenn es zehnmal Verwandte sind, trotzdem …«

Im Zug brachte Sementschuk den Doktor und dessen Frau in seinem Abteil unter. Nadeshda Indiktorowna versuchte es zu verhindern, sie hätte die Nachbarschaft des offensichtlich an ihr interessierten jungen Biologen Wakulenko vorgezogen, doch ihr Mann sagte unerwartet streng: »Es muss sein!«

Schon der erste Anblick des Doktors und seiner Frau hatte in ihm ein sonderbares Gefühl geweckt: Diese beiden Intellektuellen, zweifellos kultiviert und feinfühlig, würden von nun an ihm unterstellt sein, denn die Partei, die Regierung und Otto Juljewitsch Schmidt höchstpersönlich hatten ihn zu ihrem Vorgesetzten bestimmt.

Während der ersten Reisetage gewann Sementschuk – so schien es ihm jedenfalls – die gebührende Achtung aller Expeditionsteilnehmer, und dazu trug nicht unwesentlich bei, dass er immer wieder seine Begegnung mit dem allmächtigen Volkskommissar Jagoda erwähnte.

Meistens saßen sie bis spät in die Nacht im Speisewagen und tranken Bier.

Wenn jemand ins Abteil des Chefs kam, gingen der Doktor und seine Frau schnell hinaus. Sie standen lieber im Gang am Fenster, und das ärgerte Sementschuk. Wollten sie mit ihm und Nadeshda Indiktorowna nichts zu tun haben? Empfanden Widerwillen? Verachteten sie sogar insgeheim? Im Abteil zogen sie es auch noch vor zu lesen, antworteten zerstreut auf Fragen, wichen offensichtlich einer Unterhaltung aus.

»Warum gehen Sie dauernd raus?« fragte Sementschuk sie einmal.

»Im Abteil ist es doch schon so eng«, bemerkte Nikolai Lwowitsch.

»In der Polarstation wird es noch enger«, sagte Sementschuk. »Wir müssen uns ans Kollektiv gewöhnen. Sie aber sondern sich ab und erwecken den Eindruck, als machten Sie das absichtlich, als wären Sie etwas Besonderes …«

»Gott bewahre!« versuchte Wulfson zu protestieren. »Etwas Besonderes? Im Gegenteil!«

»Wir haben das Gefühl, dass man sich uns gegenüber irgendwie anders verhält«, mischte sich Gita Borissowna ein. »Man geht uns geradezu aus dem Weg.«

»Vielleicht sind Sie selber schuld? Tun Sie nicht selber alles, um einen engeren Umgang mit den übrigen Expeditionsteilnehmern zu vermeiden? Natürlich sind nicht alle so gebildet wie Sie, aber es sind auch Hochschulabsolventen darunter, wissenschaftliche Mitarbeiter …«

»Zum Beispiel Wakulenko«, erklärte Sementschuks Frau. »Er ist Wissenschaftler, Biologe. Die Biologie aber ist die Lehre von allen lebenden Organismen des Planeten, darunter auch vom Menschen. Sie, Doktor, wissen als Arzt natürlich viel über den menschlichen Organismus, Wakulenko aber sind die Organismen aller Tiere der Erde vertraut, und er schickt sich an, auch die Tiere der Arktis zu erforschen.«

Sementschuk hörte einigermaßen verwundert, was seine Frau von sich gab – schon die wenigen Tage ihrer Bekanntschaft mit Wakulenko hatten Spuren hinterlassen … Wenn das so weiterginge …

An dem Abend blieben der Doktor und seine Frau zum Tee im Abteil. Wakulenko hatten sie den besten Platz überlassen – am Fenster, gegenüber Nadeshda Indiktorowna, die dort in ihrem orientalischen Morgenrock thronte.

Sementschuk hatte es sich neben seiner Frau bequem gemacht, und zu seiner anderen Seite, unmittelbar an der Tür, saß Doktor Wulfson. Gita Borissowna hockte neben Wakulenko, ihr war sichtlich unangenehm, dass der Biologe, der nach einem Glas Kognak am Abend aufgelebt war, laut redete und weit ausholend gestikulierte.

»Mir schwebt vor, auf der Wrangel-Insel vor allem das Walross zu studieren. Meines Wissens fühlt sich dieses erstaunliche Tier bei dem rauen Klima im eisigen Wasser wohl. Es hat Lungen, atmet freie Luft, kann sich aber stundenlang unter Wasser aufhalten. Behaart ist das Walross nicht, wie ich herausgefunden habe, und doch friert es nicht, das Vieh! Ist das nicht interessant? Vielleicht hat es Besonderheiten, die dem Menschen nützen würden? Wenn es gelingen würde, sie vom Walross auf den Menschen zu übertragen, könnte man unsereins gegen Kälte, gegen raues Klima unempfindlich machen!«

»Und so einen neuen Menschen schaffen!« ergänzte Sementschuk triumphierend. »Im Licht der Aufgaben, die uns die Partei und Stalin persönlich bei der Erschließung des nördlichen Seewegs gestellt haben … Geben Sie zu, Nikolai Lwowitsch, das ist eine grandiose Aufgabe! Und da müssen wir Genossen Wakulenko auf jegliche Weise unterstützen.«

Wulfson brummte etwas vor sich hin, aber da begann unerwartet Gita Borissowna zu reden. »Einverstanden, Wege zu finden, wie sich der Mensch dem rauen Klima anpassen kann, ist nicht nur für die Wissenschaft notwendig und wichtig, sondern auch für unser heutiges Anliegen, wie Konstantin Dmitrijewitsch richtig bemerkt hat. Warum aber müssen wir dafür das Walross studieren, wenn es doch Menschen gibt, die sich in der Kälte schon akklimatisiert, es verstanden haben, ihr Leben sozusagen an der Grenze der bewohnbaren Welt einzurichten?«

»Wen haben Sie im Auge, Gita Borissowna?« fragte Wakulenko neugierig.

»Die Eskimos«, erwiderte Gita Borissowna. »Die Einheimischen, die sich in Jahrhunderten an Kälte und Schnee gewöhnt haben …«

»Die Eskimos zählen nicht!« erkärte Wakulenko bestimmt. »Das sind rückständige Wesen, und es wird nicht so bald gelingen, sie aufs Niveau eines zivilisierten Menschen zu heben. Wie die letzten Wilden huldigen sie dem Schamanismus, sie essen alles roh, kleiden sich in Tierhäute und leben unter unhygienischen Bedingungen. Waschen sich jahrelang nicht, vielleicht sogar lebenslang! Können Sie sich das vorstellen, Nadeshda Indiktorowna?«

Sementschuks Frau rümpfte die Nase und zog eine Grimasse. »Ich stell mir mal vor, wie die riechen!«

»Was soll denn das!« rief Wulfson. »Werten Sie die Eskimos vielleicht geringer als Walrosse?«

»Und sei's nur darum, weil die Walrosse sich ihr Leben lang waschen«, entgegnete Wakulenko lächelnd. »Nehmen Sie zur Kenntnis, dass die Walrosse die reinlichsten von allen Meeressäugern sind. Wenn das Meeresufer schmutzig ist, kommen sie ganz bestimmt nicht aus dem Wasser. Sie ernähren sich nur von Mollusken, wozu sie mit ihren mächtigen Hauern den Meeresboden aufpflügen. Daher riecht ihr Fleisch auch nicht nach Fisch wie beispielsweise Seehundfleisch.«

...


Rytchëu, Juri
Juri Rytchëu, geboren 1930 als Sohn eines Jägers in der Siedlung Uëlen auf der Tschuktschenhalbinsel im äußersten Nordosten Sibiriens, war der erste Schriftsteller dieses nur zwölftausend Menschen zählenden Volkes. Mit seinen Romanen und Erzählungen wurde er zu einem berufenen Zeugen einer bedrohten Kultur. Juri Rytchëu starb 2008 in St. Petersburg.

Kossuth, Charlotte
Charlotte Kossuth, geboren 1925 in Bolkenhain/Schlesien, war Russisch-Lektorin in Halle/Saale und fast dreißig Jahre lang Verlagslektorin für russische und sowjetische Literatur in Berlin. Sie übersetzte u. a. Aitmatow, Astafjew und Granin. Sie starb 2014 in Berlin.



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