E-Book, Deutsch, 132 Seiten
Sander Aus der Traum
2. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7412-3254-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 132 Seiten
ISBN: 978-3-7412-3254-1
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Es läuft gar nicht gut für Jürg Hollander. Eigentlich wollte er in Berlin seine Doktorarbeit schreiben und mit Freundin Christiane ein erfülltes Sexleben haben. Aber auf nichts ist Verlass: die gemeinsame Wohnung hat Schimmelbefall, Christiane trennt sich telefonisch von ihm, und einen Job hat er auch nicht mehr. Das sieht so ziemlich nach Nullpunkt aus. Aber Hollander ist lebensuntauglich genug, sich nicht entmutigen zu lassen...
Geboren 1965 in Essen. Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie. Lebt seit 1994 in Berlin.
Autoren/Hrsg.
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Am Straussberger Platz in den schaurig-schönen Stalin-Bauten gab es die Zeitarbeitsvermittlung. Gehörte zum Arbeitsamt. Ich war nicht das erste Mal dort, also fand die eisgraue Sachbearbeiterin meine Daten in ihrem Karteikartenkästchen. „Hollander? Jürg?“ Ich nickte hoffnungssinnig, als bedeute das Kärtchen schon den Erfolg. Zuletzt hatte ich einen Job im Kaufhaus ergattert. Anfang November. Werbeabteilung. Was gut klang, entpuppte sich als Hilfstätigkeit beim Installieren der Weihnachtsdekoration. Lastwagenrädergroße Kränze hatte ich auf Klappleitern gezerrt und Lichterketten durch entlegene Wandhaken gefädelt. Da war ein ganzer Lagerraum vollgestapelt mit Weihnachtskränzen. Ein Jahr vorher muss sich einer meiner Vorgänger für gewissermaßen private Zwecke daraus bedient haben. Weihnachtskränze. Die hatte er mit auf den Friedhof genommen, um dort im großen Stil mit seinen Kameraden den Geburtstag von Rudolf Hess zu feiern. „Sie suchen etwas Längeres?“ fasste die Sachbearbeiterin etwas salopp mein vorgetragenes Ansinnen nach einer dauerhaften Anstellung als studentische Arbeitskraft zusammen. Sie sah mich jetzt das erste Mal durch ihre Augengläser, Modell Schneebrille, richtig an. „Dann interessiert Sie Bierzapfen am Wochenende wohl nicht so?“ mutmaßte sie und schob einen der drei grünen Notizzettel zur Seite weg. Auf grünen Zetteln waren die am Morgen telefonisch eingegangenen Job-Angebote vermerkt. Soviel wusste ich schon. Also nur drei. Zwei Tage Bierzapfen war besser als nichts. Die anderen beiden waren voraussichtlich Bauhelferjobs. „Also, wenn sonst...“ begann ich zu murmeln. Sie hob eines der zwei anderen grünen Blättchen auf Augenhöhe an. „Studieren sie vielleicht Medizin?“ wollte sie wissen und blinzelte über den Zettelrand. Zerknirscht schüttelte ich den Kopf, noch den Gedanken einer Notlüge erwägend. Sie ließ den Zettel zur Seite gleiten und griff nach Nummer drei. „Bauhelfer!“ flötete sie, und es lief mir frostig den Rücken hinab. „Was war denn der zweite für einer, ich meine, was denn für eine Arbeit --- so --- konkret?“ Widerwillig spähte sie noch einmal nach, das Blättchen kaum anhebend. „Werkstatt für geistig Behinderte. Sollte medizinische oder pädagogische Kenntnisse haben“, entzifferte sie gekonnt mühevoll. Ich grinste er-forschend. „Pädagogik hatte ich als Nebenfach. Da bin ich sozusagen prädestiniert...“ Mein Gesicht strahlte warme und hoffnungsvolle Blicke über ihr eisgeästeltes Haupthaar hinweg, die nahe Zukunft als Behindertenbetreuer sozusagen illuminierend. Ich hatte noch nie einen geistig Behinderten kennen gelernt. Egal. Sie schien noch skeptisch. Aber schließlich seufzte sie. „Rufen Sie hier an.“ Sie schob mir den Zettel entgegen. Kaum zwanzig Minuten später telefonierte ich mit einem Herrn Kantwerk. Am nächsten Tag - einem Freitag – stellte ich mich bei ihm vor. Ich bekam den Job. Da ich den Job ohne Schwierigkeiten bekam, konnte ich sicher annehmen, dass die Voraussetzungen nur so wichtig waren wie sie sein müssen, um auf einem grünen Zettel überhaupt erwähnt zu werden. Am Montag Morgen fing ich an. Eine Frau Hofschulz empfing mich. Klein, wach, vielleicht Anfang fünfzig, freundlich, aber mit dieser Ausstrahlung von tausend Jahren Erfahrung, die mich erst recht einschüchterte. Ob ich schon einmal ---? Na, das werde schon. Und sie schob mich in einen kleinen Raum, in dem an ein paar Schultischen diese seltsamen Menschen saßen, von denen ich nichts wusste. Einige beachteten mich gar nicht, andere sprangen auf, um mich erst mal zu umarmen. Frau Hofschulz nannte Namen. Die meisten Behinderten waren klein, rundlich, keiner entsprach meinem mitgebrachten Schönheitsideal. Am letzten Tisch wurde mir Sabine vorgestellt. Sie war blond. Ihr Gesicht war ein pausbäckiges Rund, in dem kleine Augen blinkten. „Setzen Sie sich erst einmal eine zeitlang zu ihr“, forderte Frau Hofschulz mich auf. Damit ließ sie mich allein --- Vor Sabine auf dem Tisch lag eine Art Handarbeit. Irgendwas mit Wollfäden, die durch so etwas wie ein kleines Netz aus Kunststoff gezogen werden mussten. Keine Ahnung. Und obwohl ich keine Ahnung von den meisten Dingen habe, nahm ich erst einmal an, das mit den Wollfäden sei eine reine Beschäftigungsmaßnahme. Später begegnete ich solchen Tätigkeiten tatsächlich. Zum Beispiel Tintenpatronen aus einer großen Schale nehmen, in die vorgebohrten Löcher auf einem großen Holzbrett stecken, danach alle wieder herausnehmen, in ein kleines Glas füllen und mit einem dicken Korkkorken verschließen - und der Betreuer nahm dann die ersten zwanzig fertigen Gläschen und kippte die Patronen wieder zurück in die große Schale. Carsten beispielsweise beschäftigte sich damit so ziemlich den ganzen Tag. Anfangs dachte ich, ich müsse sie heimlich entleeren, damit er nicht denkt, keine richtige Arbeit zu haben wie die anderen. Aber nach ein paar Tagen sah ich, wie er die Gläser selbst wieder öffnete und auskippte – das Gesicht genauso eifrig und zufrieden verzerrt wie beim Einfüllen. Carsten, der nicht sprechen konnte, der klein und gedrungen und mit schwarzem Oberlippenbärtchen in seiner Ecke etwas abseits von den anderen saß und der fast immer mit düsterem Gesichtsausdruck an einem vorbeiblickte. Und er wurde etwas ungehalten, wenn ich ihn zu lange warten ließ, bevor er sich im Lager Brett und Patronen holen durfte. Manchmal begann er dann mit den Fingernägeln der einen Hand am Gelenk der anderen zu kratzen. Wenn dann endlich Blut kam, beruhigte ihn das auch. Aus unserer Sicht waren Patronen natürlich besser. Carstens Lieblingsmethode zu etwas Blut zu kommen, waren die Scheiben der kleinen Feuermelder, die leider an jeder zweiten Ecke im Gebäude angebracht waren. Und wenn auf der Hinfahrt zur Behindertenwerkstatt irgendetwas seinen Unwillen erregt hatte, dann zogen ihn die kleinen Dinger so unwiderstehlich an, dass er mindestens eine zerschmetterte, mit einer überraschend präzisen Bewegung nahe an der Lichtgeschwindigkeit. Sabine hatte keine Neigungen, sich selbst zu verletzen. Zumindest nicht körperlich. Sie drehte ihr mondrundes Gesicht mit den dünnen, blonden, zum Pferdeschwanz zurückgebundenen Haaren mir zu und schaute von schräg unten in meine Augen: „Musst du auch kacken?“ Wie meinte sie das? Im Allgemeinen? Für einen anthropologischen Exkurs war´s aber wahrscheinlich nicht der richtige Moment. „Nein“, entschied ich. „Ich aber. Kommst du mit?“ Sie guckte mich mit lustigen Augen an. Wollte sie mich foppen? Oder konnte sie vielleicht wirklich nicht alleine ---? Gehörte es zu meinen Aufgaben als Betreuer? Oder musste ich pädagogischerweise das Thema ganz unterbinden? Oder zumindest die Wortwahl?? Ich war wohl selbst für Sabine, die ihre Wollfäden bisher in Zeitlupe verarbeitet hatte, nicht reaktionsschnell genug. Sie rollte vom Stuhl und watschelte an mir vorbei. Richtung Klo wahrscheinlich. Hoffentlich. Sah immerhin so aus, als hätte zumindest sie alles im Griff. Hintergründig dudelte ein etwas antiquierter Radiorekorder – kein CD-Laufwerk, kein Kugeldesign mit blinkenden LED-Äugelchen – irgendetwas Deutschsprachiges. Wenn die Musikkassette abgelaufen war, sprang sofort irgendjemand, der dazu in der Lage war, auf, drehte um und fand schließlich auch das Knöpfchen, um Seite zwei ertönen zu lassen. In den zwei Jahren als Behindertenbetreuer erwies sich mir eines als unzweifelhaft und der Verallgemeinerung statthaft: Geistig Behinderte lieben Deutsche Schlager. Sie sind der wahre Kern des Publikums. Als der Hitparade im ZDF die Einschaltquote mehr und mehr hinwegschrumpfte, da waren es die geistig Behinderten, die bis zuletzt mitschaukelten. Wenn überhaupt jemand die Vorausscheidung zum Grand Prix d´Eurovision de la Chanson wirklich genießen kann, dann die verwirrt-scheue Kerstin, deren Gehirn bei der Geburt keinen Sauerstoff bekam, oder die krähend-forsche Alexandra, deren permanent gute Laune vielleicht gerade mit ihrem ein klitzekleinwenig verdrehten Chromosomensatz zusammenhängt. Geistig Behinderte sind die Hardcore-Hörer in Deutschland, die nie genug kriegen können von Nino DeAngelo und Nikki, von Rosenberg und Kaiser. Als ich fast ein Jahr später öfter die Behinderten im kleinen Verkaufsladen der Werkstatt betreute – dort, wo Carsten seine Tintenpatronen steckte – fand ich auch dort ein ganzes Kassettenarchiv mit Schlagerinterpreten vor. Und wenn Claudia Jung die Wahreliebe in banale Quarten zerlegte, dann pinselte der stets gemütlich dreinblickende Bert die Holzklötze doppelt verträumt. Kaum einen Monat war ich, wenn auch noch etwas unsicher, so doch zufrieden in meiner neuen Lebenslage als Behindertenbetreuer, da fand eine Gynäkologin Viren, und zwar ausgerechnet in Christianes Gebärmutterhals. Die Ärztin deutete mögliche Gewebeveränderungen an....