Sandig | Monster wie wir | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

Sandig Monster wie wir

Roman
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7317-6181-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 240 Seiten

ISBN: 978-3-7317-6181-5
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Ruth spielt Geige und hat Angst vor Vampiren. Sie wächst in einem Pfarrhaus in der ostdeutschen Pampa auf. Aber Gott ist kein Parteisekretär, um dessen Schutz man buhlen könnte. Ihr bester Freund Viktor hat einen Mondglobus und Falten im Gesicht. Er fürchtet sich nur vor seinem Scheißschwager. Aber dann findet er diesen Schalter in seinem Kopf, um rein gar nichts zu empfinden. Und wird selbst zum Fürchten. Was Gewalt bedeutet, wissen sie beide. Hier, wo der Braunkohleabbau ganze Dörfer und Wälder verschlingt, hilft man sich am besten selbst. Viktor macht jeden Tag Sit-ups und rasiert sich eine Glatze. Dass einer wie er als Au-Pair nach Frankreich geht, versteht niemand. Doch für Viktor ist es überall besser als zu Hause. Und Ruth? Die flüchtet sich ins Geigenspiel.Wohin es die beiden auch verschlägt, überall werden sie von Gewalt eingeholt. Wann also schaut Ruth von ihrer Geige auf? Und vor allem: Wie rettet man einander? 'Monster wie wir' ist der erste Roman der gefeierten Dichterin und Klangkünstlerin Ulrike Almut Sandig. In funkelnder Prosa voll harter Beats schildert sie ihre Generation, geprägt von Um- und Aufbruch, von Identitätsverlust und der Suche nach Selbstbestimmung.'

Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis, 2020 mit dem Roswitha-Preis und 2021 mit dem Erich-Loest-Preis ausgezeichnet. 2023 gewann sie den Robert Gernhardt Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
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Autoren/Hrsg.


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1.

Einmal schwamm ich im Uterus meiner Mutter. Er war eng und mit Wänden versehen, die meinem Aufprall federnd nachgaben, um mich gleich wieder zurückzuschieben ins Zwielicht ihres Körpers, das natürlich rötlich war, obwohl ich die einschlägigen Dokumentationen erst Jahrzehnte später sah. Von außerhalb der Bauchdecke hörte ich Geräusche, ein Öffnen und Schließen von Türen oder Eisenluken, ein Schaufeln und Schaben von Eisen auf Eisen, gedämpftes Knistern und Knacken, rhythmisches Donnern wie von Kohlen beim Aufprall und das Kratzen der Ofenzange, unterbrochen von ihrer Stimme, die jemandem etwas mitzuteilen schien. Es war mir ziemlich egal, was meine Mutter da draußen trieb. Sie war mir schnuppe, wie Kindern die eigenen Mütter eben irgendwie schnuppe sind. Vielleicht kann man nur zu etwas eine Haltung haben, von dem man sich unterscheidet. Ich aber war ein kleiner, leichter Fötus in dunkelbraunen Cordhosen und hockte im Uterus meiner Mutter. Und gleichzeitig war ich Uterus und umgab mich selbst, von feinen Äderchen durchzogen.

Ich habe keinen Schimmer, wie alt ich war, als ich das träumte. Es wunderte mich jedenfalls nicht, dass mein Bruder auch mit von der Partie war. Wir hatten richtig Spaß, wir lachten und rempelten einander im Flug durch die Dunkelheit an wie zwei Kosmonauten in einer Raumkapsel bei Stromausfall. Sein Kopf mit den Segelohren hob sich schwarz gegen die schwach leuchtenden Wände ab. Ich wunderte mich nicht im Geringsten, als plötzlich ein Spalt Tageslicht hineinbrach und er sagte, Schnullerpuppe, wir sehen uns später, ich komm jetzt auf die Welt. Ich wollte natürlich mit und ruderte ihm mit meinen durchsichtigen Armen hinterher, aber Fly drehte sich noch mal um, das geht nicht, sagte er, du bist erst viel später dran. Also setzte ich mich im Schneidersitz aufs glatte Gebärmuttergewebe und sah ihm nach, wie er nach draußen kroch durch den Spalt, der sich hinter ihm wieder schloss, und sagte mir, schade eigentlich, aber na gut. Ich bin ja auch jünger.

Ich muss noch ziemlich klein gewesen sein. Denn als ich Fly später bei einem Imbiss in der Küche erzählte, ich könne mich an seine Geburt erinnern, lachte er mich aus und sagte, so ein Quatsch, ich sei doch vier Jahre jünger als er. Eben, sagte ich und kratzte mein gefrorenes Vanilleeis aus dem Becher. Deswegen bin ich ja auch noch dringeblieben. Hast du doch gesagt, dass ich noch nicht dran bin, weißt du das nicht mehr? Mein Bruder stand vom Küchentisch auf, fing sich eine dicke schwarze Fliege für eines seiner Experimente, und während er sie im geschlossenen Hohlraum zwischen seinen Händen behielt, lachte er weiter und erklärte: Mensch, Schnullerpuppe, wir waren zwar beide in Mamis Bauch, aber doch nicht beide zur selben Zeit.

Oder beginnt es mittendrin, in unseren Familien, mit denen wir aufstehen und schlafen gehen, als sei es selbstverständlich, ausgerechnet so zu leben und nicht anders?

Bei uns zu Hause wurde niemand verprügelt. In diesem Punkt unterschieden Fly und ich uns von den meisten Kindern, die wir kannten. Wenn wir auf Familienfesten unter uns waren, im Treppenhaus auf der Suche nach Weberknechten (seine Idee), auf dem Dachboden auf der Suche nach der Maske des Weihnachtsmannes aus der Adventsfeier der Christenlehre (meine Idee) oder bei den Stachelbeersträuchern im Garten (die Idee der Cousine aus Bitterfeld), während unsere Eltern noch im Esszimmer saßen und Kuchen aßen, fragte mein Bruder herum, wer zu Hause verprügelt werde. Wer von euch kriegt Kloppe? Wenn die Töchter des Studienfreundes unseres Vaters von den Ohrfeigen am Abendbrottisch berichteten oder, zögernd, die Cousine aus Bitterfeld von dem Gürtel, der hinter dem Spiegel der Mutter hing, huschte eine leise Genugtuung, die wahrscheinlich nur ich sah, über das Gesicht meines Bruders. Manchmal schob ich mich an ihm vorbei und sagte, nee, bei uns wird niemand verkloppt. Höchstens geklatscht. Wohin denn?, wollten die Töchter des Studienfreundes wissen. Na, aufn Po, sagte ich ungerührt und ignorierte die Faust meines Bruders an meiner Rippe. Wenn die Cousine aus Bitterfeld dann fragte: Mit oder ohne Klamotten?, und ich schnell, bevor Fly mir ins Wort fallen konnte, sagte: Natürlich ohne, sonst klatscht es ja nicht, huschte die gleiche Genugtuung, die ich eben noch auf dem Gesicht meines Bruders entdeckt hatte, über das meiner Cousine. Das sagt sie nur, damit sie wieder im Mittelpunkt steht, sagte er dann, knallte mir mit der Hand auf den Hinterkopf und rannte die Treppe zum Dachboden hinauf: Wollt ihr eine echte Urne sehen? Gefüllt? Die Töchter des Studienkollegen winkten ab, Urnen hatten sie selber auf dem Dachboden, aber die Cousine aus Bitterfeld eilte ihm nach und fragte: Was ist eine Urne? Da ist die Asche von toten Menschen drin, raunte mein Bruder ihr ins Ohr. Wenn du sie schüttelst, rasseln die Zahnkronen, und manche sind aus Gold!

Das war keine echte Kloppe. Kloppe ist es erst, wenn man hinterher was davon sieht, sagte mein Bruder. Ich sterbe, ich sterbe!

Wir lagen in unseren Betten, das Scheinwerferlicht der vorüberfahrenden Autos wanderte über die Kinderzimmerwände. Stimmt ja gar nicht, sagte ich. Du stirbst doch nicht an der Kloppe.

Nein, ich sterbe an etwas ganz anderem, tönte es aus seinem Bett. Mein Bruder lag auf dem Rücken und röchelte laut. Siehst du nicht, dass ich sterbe?, sagte er und griff sich mit beiden Händen an den Hals, bevor er nur noch Unverständliches grunzte und sich mit krampfartigen Bewegungen auf seiner Matratze hin und her warf. Ich sprang aus dem Bett und flüsterte: Ich hol Mutter! Nein, nein, röchelte mein Bruder halb erstickt, hol sie nicht. Hol mir lieber ein Bonbon. Ein Bonbon! Er grunzte zum Gotterbarmen und drehte mir ruckartig sein Gesicht zu, das in der Dunkelheit gespenstisch aussah.

Bist du sicher, dass das hilft?, fragte ich, und Fly gab zurück: Wenn du nicht sofort losläufst, sterbe ich wirklich, oh, oh! Das konnte ich nicht zulassen. Ich rannte in die Küche, rückte einen Stuhl vor das Küchenbuffet, stieg darauf und von dort auf die Ablage, wo ich aus dem oberen Fach ein Bonbon für Fly und eines für mich angelte, zur Beruhigung.

Was machst du da?, hörte ich hinter mir eine Stimme. Es war Pap. Ich hol nur was für Fly, damit er nicht stirbt, verteidigte ich mich. Im nächsten Moment lag ich in meinem Bett auf dem Bauch und drückte mein Gesicht ins Kissen, und Pap stand daneben. Er schlug die Decke zurück, zog mir die Pyjamahose herunter und schlug mir auf den Hintern. Nicht mit Kraft, aber mit Präzision. Als schlüge er auf einen defekten Automaten, oder als wäre er selbst ein Automat, der nur einen Arbeitsschritt, für den er konstruiert ist, durchführt. Dann aber ohne installiertes Sprachprogramm, denn Pap verrichtete die Schläge auf unsere Hinterteile grundsätzlich schweigend. Im Anschluss an seine erzieherische Pflicht zog er uns, zack, die Pyjamahosen wieder hoch und, zack, die Decke bis zum Hals. Am nächsten Morgen wären die Abdrücke seiner Hand auf unseren Hinterteilen längst verschwunden.

Nachdem Pap die Kinderzimmertür wieder hinter sich geschlossen hatte, lag ich in meinem Bett, noch immer auf dem Bauch, und heulte vor mich hin. Erst als die Atemzüge meines Bruders gleichmäßig und tief waren, streckte ich die Beine in die ausgekühlte untere Hälfte meines Bettes. Über die Zimmerdecke wanderte Scheinwerferlicht eines vorüberfahrenden Autos, und ich schloss die Augen.

Fly und ich teilten uns ein Kinderzimmer mit Mustertapete und hohen Fenstern. Das Scheinwerferlicht der wenigen Autos, die über die Kreuzung vorm Haus bogen, zog fensterförmig über die Wände, während ich mit Taschenlampe im Bett lag und in den Liederbüchern meiner Mutter blätterte. Viele sangen wir im Kindergottesdienst, ich erkannte sie an den Bildern. Mit dem Zeigefinger folgte ich den herauf- und herabsteigenden Tönen auf den Telegrafenleitungen der Notenzeilen und stellte sie mir als Schwalben vor, landend, klingend und wieder aufsteigend. Es war still im Kinderzimmer, von nebenan drang das monotone Geräusch des Fernsehers herüber, gedämpfte Gespräche. In meinem Kopf aber summte, klatschte und sang es, und folgte, wenn ich von den Noten aufsah, den leuchtenden Flecken über die Wände. Wurde auch Fly ins Bett geschickt, knipste ich schnell die Taschenlampe aus und stellte mich schlafend.

Gib dir keine Mühe, sagte er, ich hab’s gemerkt.

Ich gähnte demonstrativ und blinzelte. Du hast mich geweckt, nuschelte ich glaubwürdig. Hm, schon klar, feixte Fly und schob sich einen Stuhl vor den Schrank. Im Pyjama stieg er vom Stuhl auf die Kommode, balancierte zum Dach des Spielschranks, rief: Mein Name ist Spiderman!, und sprang mit Schmackes ins Bett neben mir.

Fly war am liebsten in der Luft. Tagsüber sprang er vom Garagendach. Oder von den Wipfeln der hohen Apfelbäume. Oder er kletterte auf den Schweinestall der Nachbarn und tobte darauf herum, bis die Ferkel zu quieken begannen und meine Mutter ihn herunterkommandierte und zum Celloüben ins Kinderzimmer schickte. Aber Fly fand so ziemlich alles spannender als Cello.

Wusstest du, dass Leim brennt?, fragte er mich und zog eine silberfarbene Tube aus der Hosentasche. Ich stand auf meinem Bett unterm Fenster. Mit den flachen Händen an der kühlen Innenscheibe hopste ich vor mich hin und beobachtete den sowjetischen Soldaten vorm Haus, den ein Wagen gerade in dem Moment auf der Kreuzung abgesetzt hatte, als ich vom Kindergarten heimgekehrt war. Wusstest du nicht, oder, sagte Fly. Die Federn meiner Matratze quietschten wie die Ferkel im Stall des Nachbarn zuvor, die Pappel neben der Kreuzung drehte ihre Blätter im trockenen Maiwind, die Kreuzung vor dem Haus stieg und fiel mit meinen versonnenen...


Sandig, Ulrike Almut
Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis, 2020 mit dem Roswitha-Preis und 2021 mit dem Erich-Loest-Preis ausgezeichnet. 2023 gewann sie den Robert Gernhardt Preis. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Ulrike Almut Sandig wurde in Großenhain geboren. Bisher erschienen von ihr vier Gedichtbände, drei Hörbücher, zwei Erzählungsbände, ein Musikalbum mit ihrer Poetry-Band Landschaft sowie zahlreiche Hörspiele. Ihre Gedichte wurden verfilmt und übersetzt, für ihr Werk erhielt sie zahlreiche Preise. Zuletzt wurde sie 2018 mit dem Wilhelm-Lehmann-Preis, 2020 mit dem Roswitha-Preis und 2021 mit dem Erich-Loest-Preis 2021. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.



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