E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Sarrazin "Wir schaffen das"
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7844-8413-6
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erläuterungen zum politischen Wunschdenken
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8413-6
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie funktioniert Politik? Wo liegen die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg von Gesellschaften? Und warum ist alles, was wir tun, auch politisch? Thilo Sarrazins Essay behandelt die Kunst erfolgreicher Politik, von den theoretischen Grundpfeilern über den Gegensatz von Verantwortungs- und Gesinnungsethik bis zum Verhältnis von Macht und Opportunismus. Er erklärt politische Theorie und zeigt, wie sehr Politik sämtliche Lebensbereiche durchdringt, sodass wir quasi nicht anders können, als eine Haltung dazu zu entwickeln. Wer dieses Buch gelesen hat, wird Politik mit anderen Augen betrachten und besser verstehen, warum es in jedem Fall lohnt, am politischen Prozess teilzuhaben.
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Kapitel 2 Das Moralische in der Politik Für die Moral politischen Handelns traf Max Weber die Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik: Es »ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: ›der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim –, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handeln aufzukommen hat«.9 Mit dieser Unterscheidung zeigt er die Grenzen moralischer Betrachtung in der Politik auf: »Keine Ethik der Welt kommt um die Tatsache herum, dass die Erreichung ›guter‹ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in Kauf nimmt, und keine Ethik der Welt kann ergeben: wann und in welchem Umfang der ethisch gute Zweck die ethisch gefährlichen Mittel und Nebenerfolge ›heiligt‹.«10 Konsequent gesinnungsethisch forderte der Präses der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, im April 2015 die Staaten der EU auf, »dem Schleuserwesen (...) durch mehr legale Wege in die EU schnell und effektiv den Boden zu entziehen (...) Flüchtlinge« sollten »in Europa in großem Umfang neu angesiedelt werden.« Der unvermeidbaren Konsequenz, dass sich damit noch mehr Menschen aus Afrika auf den Weg machen und sich auf gefährliche Boote begeben, entzog er sich.11 Seine Perspektive zielte nicht auf die Folgen des von ihm vorgeschlagenen Handelns, war also nicht verantwortungsethisch. Die Empörung, die er wie viele andere artikulierte, weiß keinen inhaltlichen Rat, sie »macht sich ein gutes Gewissen, indem sie anderen ein schlechtes macht«.12 In Fragen der Moral lässt der Mensch nicht mit sich spaßen. Humor hat er meist nur dort, wo es um die Moralvorstellungen anderer, nicht aber um die eigenen geht. Unter Moral verstehe ich dabei nicht nur ethische Verhaltensvorschriften und ethische Urteile im engeren Sinn, sondern die gesamte Bandbreite der werthaften und auf Werturteile gestützten Haltung zur Welt, zum Mitmenschen, zur Gesellschaft und zur eigenen Rolle und Aufgabe im Leben. Moral kann religiös begründet sein, zwingend ist das aber nicht. Auch ein Atheist kann starke moralische Gefühle haben. Moralische Einstellungen lassen sich weder beweisen noch rational hinterfragen. Sie beruhen auf Werturteilen, die im vorrationalen Raum entstehen und rational allenfalls im Hinblick auf ihre logische Vereinbarkeit oder Widersprüchlichkeit hinterfragt werden können. Natürlich bewegen sich Werturteile und die auf ihnen gründende Moral nicht im luftleeren Raum. Sie ergeben sich einerseits aus der angeborenen teils identischen, teils individuell unterschiedlichen Natur des Menschen und andererseits aus dem Gesamtfeld der sozialen, kulturellen und religiösen Einflüsse, die von Geburt an auf ihn einwirken. Moralische Einstellungen in einer Gesellschaft können sich im Zeitablauf ändern. Sie unterscheiden sich zudem nach sozialer Gruppe, Stamm, Volk, Kulturkreis und Religion, und diese Unterschiede können sehr stark und langlebig sein. Die Ansichten zur Nachhaltigkeit und Verwurzelung solcher Unterschiede gehen weit auseinander: Universalisten, zu denen viele linke Journalisten, Ökonomen, aber auch Theologen zählen, halten solche Unterschiede zwischen Kulturen, Völkern und Gesellschaften eher für einen dünnen Firnis, unter dem nach einiger Anpassung dann doch die Einheit der menschlichen Natur hervortritt. Zudem halten sie solche Unterschiede für historisch überholt und glauben, dass ihre Bedeutung in der modernen Welt schnell zurückgeht. Thomas L. Friedman kleidete diese Auffassung in das schöne Bild, dass die Welt durch immer neue Schübe von Globalisierung immer flacher wird. Er glaubt, dass sich Kulturen und Gesellschaften aufgrund dieser Kräfte universal angleichen.13 Viele Historiker, Kulturwissenschaftler und Politikwissenschaftler meinen dagegen, dass kulturelle, ethnische und religiöse Unterschiede ein großes Beharrungsvermögen haben und dass die Kräfte der Globalisierung und der technischen Entwicklung eher zu lang anhaltenden verschärften Gegensätzen entlang kultureller und religiöser Grenzen führen werden. Samuel P. Huntington schrieb dazu: »Für Menschen, die ihre Identität suchen und ihre Ethnizität neu erfinden, sind Feinde unabdingbar, und die potenziell gefährlichsten Feindschaften begegnen uns an den Bruchlinien zwischen den großen Kulturen der Welt.«14 Die Diskussion über Bedeutung und Nachhaltigkeit solcher Unterschiede ähnelt unter sachkundigen und verständigen Diskussionspartnern ein bisschen der Diskussion darum, ob ein Glas halb voll oder halb leer ist. Betrachtet man die anhaltenden Konflikte in der islamischen Welt und deren Zusammenstoß mit der westlichen Kultur, so gewinnt Huntingtons pessimistische Sicht seit einigen Jahrzehnten an Gewicht. Es ist der rational weder zu begründende noch zu widerlegende Charakter solcher Unterschiede, ihre rein emotionale oder (vom religiösen Standpunkt) metaphysische Sicht, die zahlreiche Debatten so fruchtlos wie hitzig macht, was zudem oft dazu führt, dass diese Debatten gar nicht erst stattfinden oder nur zum Schein ausgetragen werden. Damit sind wir bereits am vorrationalen Kern der moralischen Begründung von Politik angelangt. Im Sinne eines Werturteils benenne ich zwei moralische Prinzipien, die ich meinen Betrachtungen zugrunde lege. Das sind die utilitaristische Maxime des englischen Philosophen Jeremy Bentham, es gehe darum, das »größte Glück der größten Zahl« zu verwirklichen, und der kategorische Imperativ Immanuel Kants, wonach jeder sein individuelles Handeln so ausrichten soll, dass es jederzeit als allgemeiner Maßstab gelten kann. Auch meine Entscheidung für diese beiden Prinzipien ist weder beweisbar noch widerlegbar und in diesem Sinne vorrational. Der vorrationale Charakter politischer Grundeinstellungen Zum vorrationalen Charakter moralischer Einstellungen bemerkte der schottische Philosoph David Hume 1739: »Die Sittlichkeit erregt Affekte und erzeugt oder verhindert Handlungen. Die Vernunft allein ist aber hierzu ganz machtlos; die Sittenregeln sind folglich keine Ergebnisse unserer Vernunft.«15 Darum könne man Moral auch nicht mit Vernunft begründen. Vernunft bewege sich in den Kategorien von wahr oder falsch, Moral dagegen in den Kategorien von Gut oder Böse. »Nach allem diesem ist es unmöglich anzunehmen, dass die Unterscheidung zwischen dem sittlich Guten und dem sittlich Bösen durch die Vernunft gemacht werde.«16 Hume gesteht der rationalen Vernunft keine eigenständige Rolle für das menschliche Handeln zu, er sieht sie vielmehr als eine Art Vollzugsorgan der menschlichen Gefühle und Leidenschaften: »Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.«17 Als Diener der Gefühle ist die rationale Vernunft für den Menschen allerdings unverzichtbar: »Es bleibt uns also nur die Wahl zwischen falscher Erkenntnis oder gar keiner.«18 Der 29 Jahre alte David Hume veröffentlichte sein Werk A Treatise of Human Nature 1740 unter Pseudonym und bekannte sich (wohl aus Sorge vor einer Skandalisierung durch Theologen und Moralphilosophen) erst Jahrzehnte später dazu. Er hätte sich nicht sorgen müssen, denn es fand zunächst kaum Beachtung, und die zweite Auflage erschien erst 1817, vier Jahrzehnte nach seinem Tod. Indem Hume zeigte, was die menschliche Vernunft nicht vermag, wies er ihr zugleich den Platz zu, wo sie fruchtbar sein kann: die Welt mit den Mitteln von Empirie und Logik im steten Bewusstsein der eigenen Grenzen kritisch zu erforschen.19 Humes Denken ist ein Vorläufer der modernen Erkenntnistheorie, wie sie einige Jahrzehnte später von Immanuel Kant entwickelt und schließlich von Karl Popper zum Kritischen Rationalismus fortgeführt wurde.20 Vereinfacht ausgedrückt, treffen die menschlichen Passionen und Gefühle eine Entscheidung oder fällen ein Urteil, und die Aufgabe, Entscheidung oder Urteil rational nachvollziehbar zu begründen, wird dann an den Verstand quasi delegiert. Wegen dieser Gefühlsbindung löst es bei manchen eine geradezu atavistische Wut aus, wenn man mit rationalen Argumenten gegen Positionen angeht, deren Begründung auf der Gefühlsebene liegt. Auch die klassische Positionierung der menschlichen Ansichten zu Politik und Gesellschaft auf der Skala von links bis rechts – bei denen es sich im Kern um moralische Ansichten handelt – folgt grundsätzlich vorrationalen Entscheidungen auf der Gefühlsebene und sucht jeweils die passenden, dem menschlichen Verstand zumutbaren Rationalisierungen, die aber nicht die tatsächlichen Gründe darstellen. Einem schönen Bild von Jonathan Haidt folgend ist der bewusste Verstand wie der Reiter auf einem Elefanten: Der Elefant (unsere Gefühle und Leidenschaften) geht, wohin er will. Der Reiter auf dem Elefanten erfindet die rationalen Gründe für die vom Elefanten eingeschlagene Richtung und glaubt am Ende sogar, er habe den Elefanten in diese Richtung...