Savit Anna und der Schwalbenmann
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-16696-0
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-641-16696-0
Verlag: cbj
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Gavriel Savit ist Autor und Schauspieler. Nach seinem Abschluss an der Universität von Michigan - als Musicaldarsteller - zog er nach New York, um dort seine Bühnenlaufbahn zu verfolgen. Als Schauspieler und Sänger ist Gavriel Savit inzwischen auf drei Kontinenten aufgetreten, von New York bis Brüssel und Tokyo. Er lebt in Brooklyn. 'Anna und der Schwalbenmann' ist sein erster Roman.
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Als Anna Lania am Morgen des 6. November im Jahr 1939 – ihrem siebten Jahr – aufwachte, gab es verschiedene Dinge, von denen sie nichts wusste.
Anna wusste nicht, dass der Führer der Gestapo im besetzten Polen den Rektor der Krakauer Jagiellonen-Universität per Anordnung dazu gezwungen hatte, die gesamte Professorenschaft (zu der Annas Vater gehörte) zu einer Vorlesung und Debatte antreten zu lassen – über die Richtung, die die polnische Akademie unter der deutschen Herrschaft einschlagen sollte. Angesetzt auf Mittag desselben Tages.
Sie wusste nicht, dass ihr Vater und seine Kollegen vom Hörsaal 56 erst in ein Krakauer Gefängnis gebracht würden und dann in verschiedene Internierungslager auf polnischem Gebiet, bevor man sie schließlich in das Konzentrationslager Sachsenhausen in Deutschland verschleppen würde.
Sie wusste auch nicht, dass einige Monate später eine Gruppe von überlebenden Kollegen ihres Vaters weiter in das noch berüchtigtere Lager Dachau in Oberbayern geschickt werden würde, doch dass ihr Vater zu diesem Zeitpunkt nicht mehr transportfähig wäre.
Das Einzige, was Anna an diesem Morgen wusste, war, dass ihr Vater für einige Stunden aus dem Haus gegangen war.
Siebenjährige Mädchen sind ein bunter Haufen. Manche von ihnen behaupten, sie seien längst erwachsen, und es fällt einem schwer zu widersprechen; andere hängen noch an den verwunschenen Geheimnissen der Kindheit, die sich tief in ihren Köpfen entfalten und ihnen wichtiger sind als jedes Gespräch, das sie mit Erwachsenen führen; wieder andere (die größte Gruppe) sind unschlüssig, zu welcher Gattung sie gehören, und je nach Tag, Stunde oder Augenblick zeigen sie ein völlig anderes Gesicht.
Anna gehörte in ihrem siebten Jahr zur letzten Gruppe, und ihr Vater trug dazu bei, diesen schillernden Zustand zu bewahren. Er behandelte sie wie eine Erwachsene – mit Achtung, Rücksicht und Respekt –, doch er schaffte es gleichzeitig, in ihr das Gefühl zu erhalten, dass alles, was ihr auf der Welt begegnete, eine ganz neue Entdeckung war, die sie auf ihre einmalige Art erfasste.
Annas Vater war Sprachen-Professor an der Jagiellonen-Universität, und wenn man mit ihm zusammenlebte, hatte jeder Tag der Woche eine andere Sprache. Mit ihren knapp sieben Jahren sprach Anna fließend Deutsch, Russisch, Französisch und Englisch, konnte sich auf Jiddisch und Ukrainisch verständigen und besaß Grundkenntnisse in Armenisch und dem karpatischen Romani.
Ihr Vater sprach niemals Polnisch mit ihr. Polnisch, die Landessprache, erklärte er, käme von selbst.
Natürlich würde kein Mensch so viele Sprachen lernen wie Annas Vater, wenn er nicht gerne reden würde. In den meisten ihrer Erinnerungen war er ins Gespräch vertieft – lachte, erzählte Witze, diskutierte oder seufzte mit einem seiner vielen Freunde und Bekannten, die über die ganze Stadt verstreut waren.
Lange dachte Anna sogar, dass jede der Sprachen, die ihr Vater sprach, auf den jeweiligen Gesprächspartner zugeschneidert war wie ein Maßanzug. Französisch war nicht Französisch, sondern die Sprache von Monsieur Bouchard. Jiddisch war nicht Jiddisch, sondern die Sprache von Reb Schmulik. Jedes Wort auf Armenisch, das Anna je gehört hatte, erinnerte sie an das Gesicht des kleinen alten Tatik, der sie und ihren Vater stets mit einer winzigen Tasse starkem, bitterem Kaffee begrüßte.
Jedes armenische Wort roch nach Kaffee.
Wäre Annas Leben ein Haus, dann wären die Männer und Frauen, mit denen ihr Vater sich in seiner Freizeit unterhielt, die tragenden Säulen. Sie hielten den Himmel oben und die Erde unten, und sie lächelten Anna an und redeten mit ihr wie mit ihrem eigenen Kind. Nie war es nur Professor Lania, der willkommen geheißen wurde, immer waren es Professor Lania und Anna. Oder, wie sie sagten, Professor Lania und Anja oder Hannale oder Anke oder Anuschka oder Anouk. Anna hatte so viele Namen, wie es Sprachen, wie es Menschen auf der Welt gab.
Wenn aber ein Vater mit jedem eine andere Sprache spricht, stellt sich ein Kind irgendwann die Frage: Was ist die Sprache meines Vaters?
Was ist meine?
Die Antwort war einfach: Ihre Sprache war die der anderen. Alle anderen Menschen waren an eine Sprache gefesselt, im besten Fall an zwei oder drei, nur Annas Vater schien vollkommen frei zu sein von diesen Grenzen, die jeden sonst in der weiten, bunten Landschaft von Krakau einschlossen.
Er war auf keine Art zu sprechen beschränkt. Er konnte sein, was er wollte. Außer vielleicht er selbst.
Und was auf Annas Vater zutraf, musste auch auf Anna zutreffen. Statt eine Sprache an seine Tochter weiterzugeben, die sie bestimmte, schenkte Annas Vater ihr die ganze Vielfalt der Sprachen, die er kannte, und sagte: »Bediene dich. Erschaffe dir etwas Neues.«
Sie hatte keine Erinnerung an ihren Vater, in der er nicht redete.
In ihrer Erinnerung war er wie eine lebendige Statue in seiner gewohnten Zuhörhaltung: das rechte Bein über das linke geschlagen, Ellbogen auf dem Knie, das Kinn in der Hand. Diese Haltung nahm er häufig ein, und selbst wenn er schweigend lauschte, war er dabei nicht weniger beredt, denn seine Lippen und Brauen zuckten und wanden sich, als würden sie auf die Dinge antworten, die er hörte. Andere Menschen mussten rätseln, was seine Gesten zu bedeuten hatten, doch Anna sprach auch diese Sprache fließend und musste nicht fragen.
Sie und ihr Vater verbrachten unendlich viel Zeit im Gespräch. Sie sprachen in jeder Sprache in jedem Winkel der Wohnung und auf jeder Straße der Stadt. Von allen Menschen, das glaubte sie fest, sprach ihr Vater am liebsten mit ihr.
Als Anna zum ersten Mal verstand, dass eine Sprache ein Kompromiss zwischen den Menschen war – dass zwei Menschen, die die gleiche Sprache sprachen, nicht unbedingt gleich waren –, stellte sie ihrem Vater das einzige Mal, seit sie denken konnte, eine Frage, auf die er keine Antwort hatte.
Sie waren auf dem Heimweg von einem ihrer Ausflüge und es dämmerte. Anna wusste nicht, in welchem Teil der Stadt sie sich befanden. Ihr Vater hielt fest ihre Hand, und sie musste laufen, um mit seinen langen Beinen Schritt zu halten.
Er wurde noch schneller, während die Sonne hinter den Dächern und anschließend hinter den Hügeln versank, und als die Dunkelheit hereinbrach, rannten sie.
Anna hörte sie, bevor sie sie sah. Eine Männerstimme lachte – laut und fröhlich, so aufrichtig amüsiert, dass auch Anna lächelte, neugierig, was der Grund für die Heiterkeit war. Doch in dem Moment, in dem sie die Straße erreichten, aus der der Lärm kam, erstarrte ihr Lächeln.
Da waren drei Soldaten.
Der lachende Soldat war der kleinste von ihnen. An die anderen erinnerte sie sich kaum, nur daran, dass sie unwahrscheinlich groß auf sie wirkten.
»Spring!«, rief der kleine Soldat. »Spring! Spring!«
Der grauhaarige alte Mann vor ihnen tat sein Bestes, dem Befehl zu gehorchen, und hopste erfolglos auf der Stelle, denn anscheinend stimmte etwas mit seinem Bein nicht – es sah aus, als wäre es gebrochen. Offensichtlich hatte er schreckliche Schmerzen. Mit großer Mühe biss er die Zähne zusammen, wenn er auf den Pflastersteinen landete, und konnte doch nicht verhindern, dass sein verzerrtes Gesicht seine Qualen verriet.
Dies schien den kleinen Soldaten noch mehr zu amüsieren.
Vielleicht der schlimmste Teil der Erinnerung war die reine, unbeschwerte Freude dieses Lachens. Für Anna war es Doktor Fuchsmanns Sprache, die der Soldat sprach, und folglich lachte er auch darin.
Doktor Fuchsmann war ein dicker, fast kahler Mann, der stets eine Weste trug. Er hatte eine Brille und einen Stock, mit dessen Hilfe er den ganzen Tag durch seine kleine Apotheke humpelte. Er kicherte gern und wurde ständig rot, und in der kurzen Zeit, seit Anna ihn kannte, hatte er ihr mehr Kekse zugesteckt, als sie je auf einem Haufen gesehen hatte.
Der kleine Soldat sprach Doktor Fuchsmanns Sprache.
Anna war verwirrt. Sie brachte weder den Soldaten mit dem Doktor zusammen, noch den Doktor mit dem Soldaten. Also tat sie, was jedes Kind in ihrer Situation getan hätte.
Sie fragte ihren Vater.
Wäre Annas Vater nicht der gewesen, der er war, und hätte Anna in ihren sieben Lebensjahren nicht so viel Deutsch gehört, geredet und gedacht – kurz, wäre ihre Aussprache nicht so überzeugend muttersprachlich gewesen –, dann hätte diese Geschichte vielleicht aufgehört, bevor sie überhaupt begann.
»Papa«, sagte Anna, »warum lachen sie über diesen Mann?«
Annas Vater antwortete nicht.
Der Soldat drehte sich um.
»Weil«, sagte er, »dieser Mann kein Mann ist, Kleine. Er ist ein Jude.«
Anna erinnerte sich genau an diesen Satz, denn er veränderte ihre Welt. Sie hatte gedacht, sie wusste, was Sprache war, wie Sprache funktionierte, wie die Menschen verschiedene Wörter aus der Luft sogen, um damit die Dinge einzufangen.
Aber das hier war viel komplizierter.
Reb Schmulik sagte nicht Jude. Reb Schmulik sagt Jid.
Und dieser Soldat, ganz gleich welche Sprache er sprach, war so verschieden von Doktor Fuchsmann, wie er es von Reb Schmulik, dem Juden, sein wollte.
Im Jahr 1939 war eine Gruppe von Menschen, die Deutsche hießen, in ein Land gekommen, das Polen hieß, und hatte die Herrschaft über die Stadt Krakau übernommen, in der Anna lebte. Kurze Zeit später setzten die Deutschen einen Plan namens »Sonderaktion...