Schachinger Albors Asche
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-7013-6229-5
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 264 Seiten
ISBN: 978-3-7013-6229-5
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Valerian hat sein Zimmer seit 21 Jahren, drei Monaten und sechs Tagen nicht verlassen. Vom Fenster aus beobachtet er, was in Albor vor sich geht, notiert alles akribisch in seiner Chronik. Eines Morgens taucht eine Fremde auf und zieht in die leerstehende Kirche neben Valerian ein. Sie trägt ein auffallend gemustertes Kleid, ihr Haar ist rot und bodenlang. Albors Männer beginnen die Kirche zu belagern, um einen Blick auf die Fremde zu erhaschen. Albors Frauen, denen die erkalteten Ehebetten zu schaffen machen, intrigieren und streuen Gerüchte. In Albor wird Andersartigkeit nicht hoch geschätzt, diese Erfahrung macht Pastora spätestens, als die Schere des Friseurs ihr vor aller Augen das Haar nimmt und das ›Komitee zur Aufrechterhaltung der Tugend und Ehrbarkeit‹ sich in ihr Leben mischt. In Albor wird auch nicht gemordet, selbst wenn Pastora eines Morgens über eine Leiche stolpert und weitere Tote sich bis zum Fluss hin sammeln. Valerian weiß um die Geschehnisse der Vergangenheit - die Schuld der einen und das Schweigen der anderen. Mit zunehmender Sorge um die Fremde beobachtet er die Veränderungen in Albor, die mit ihrer Ankunft beginnen und ihren Lauf nehmen, unaufhaltsam, denn alles ist in Fluss und man steigt keinesfalls zweimal in den gleichen...
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I Meteorologie, altgriechisch, µete???????a, Untersuchung der überirdischen Dinge und Himmelskörper In dieser Nacht hatte er, ebenso wie in den vergangenen Nächten, kaum geschlafen. Maria zog seit einundzwanzig Jahren, zwei Monaten und zweiundzwanzig Tagen ihre Spuren, in manchen Zeiten mehr, in anderen weniger. Er konnte ihre Silhouette über die Wand huschen sehen, und legte er sich ins Bett, ruhte ihr Gesicht bereits am Kissen. Dies hätte ihn nicht sich sorgen lassen, fremd war ihm jedoch, dass ihre Züge sich zu verändern begonnen hatten, sich verzerrten, und schloss er die Augen, rüttelte sie ihn wach … So ließ sich keine Ruhe finden. Er stand auf und trat an sein Schreibpult, die Chronik lag vor ihm, er prüfte erneut Thermometer – dreiundzwanzig Komma neun Grad – und Uhrzeit – vier Uhr sieben und siebzehn Sekunden –, sein Distrometer schwieg, er betrachtete die wenigen zuvor geschriebenen Zeilen: 13. SEPTEMBER, VIER UHR DREIZEHN: Statt der für diese Jahreszeit üblichen sechzehn Grad weist das Thermometer dreiundzwanzig Komma sieben Grad auf. Ein Faktum, das sich nicht erklären lässt. Keine Föhnlage zu verzeichnen. Die Morgennebel, welche in den vergangenen beiden Wochen den Tagesbeginn jeweils begleiteten, sind ausgeblieben. Eine Veränderung kündigt sich an, die noch nicht fassbar ist; mit einem außergewöhnlich milden Altweibersommer lässt sich dieser Temperaturanstieg nicht begründen. Er sah auf den Hauptplatz. Albor schlief. Vier Uhr einundzwanzig, Lucia würde um drei viertel sieben mit dem Frühstück kommen, er hatte noch ausreichend Zeit, seine gestrigen Studien zur Hydrogeologie fortzusetzen. Er blätterte zurück: OBGLEICH das Niederschlagsverhalten im ersten Halbjahr größtenteils ausgeglichen war und sich einzig mit geringen Abweichungen um das langjährige Mittel bewegte, konnten doch erst die ergiebigen Mainiederschläge die Grundwasservorräte (bis zu 150 cm) wieder auffüllen. Zu ungenau! Was war nur los mit ihm? Gestern diese Unruhe, heute eine sonderbare Angespanntheit, niemals zuvor wäre ihm solch ein Lapsus passiert. Verärgert griff er nach dem Bleistift, setzte ein Einfügungszeichen nach ›Halbjahr‹, ein weiteres nach ›Abweichungen‹, ein drittes hinter das Wort ›Mittel‹. Er stand auf, trat an das Regal neben dem Fenster, griff nach dem letztjährigen Band ›Meteorologie Albors‹. Er hätte später nicht sagen können, was ihn bewogen hatte, aus dem Fenster zu blicken, vielleicht war es die Farbe Rot, die Bewegung, die er, obwohl sein Blick auf die bereits in jener Schrift blätternden Finger gerichtet geblieben war, dennoch aus den Augenwinkeln wahrnahm. Ohne sich dessen gewahr zu werden, vergaß er zu tun, weswegen er aufgestanden war, legte das Buch achtlos am Schreibpult ab und starrte auf die Frau hinunter, die langsam, einen Koffer in der rechten Hand, über den Hauptplatz ging. Vier Uhr dreiundvierzig, das Sonnenlicht, ja, auch das war absonderlich: Weshalb ging an diesem Morgen die Sonne eindeutig früher auf? – Aber das würde er erst Stunden später realisieren; jetzt, in diesem Moment nahm er einzig ihre Schritte über den Platz wahr, ihr Innehalten, bevor sie sich, die Arme ausgebreitet, zu drehen begann, lachend über die Wellen, die hierdurch im Mosaik der marmornen Platten entstanden, wie einst er, als Kind … Sie sah zum Hirsch-Brunnen, den früher ein Einhorn geziert hatte, ging von Baum zu Baum, die Stämme berührend. Er betrachtete ihr rotes Haar, welches bei jedem Schritt von links nach rechts nach links über die Bodenplatten schwang, wehende Bögen zeichnete es in die Luft, und er verspürte eine plötzliche Freude, die er sogleich durch das Bedecken seines Mundes mit der Hand zurückzudrängen versuchte. Unter der Blutbuche blieb sie stehen, stellte den Koffer neben sich ab. Er griff nach dem Fernrohr. Sie hatte Sommersprossen, die sich über ihren Nasenrücken zogen, einunddreißig, und das Muster ihres Kleides glich in seinen Farben demjenigen der Regenbogenforelle, wiewohl die schwarzen Flecken des Tieres im Stoff winzig kleine Blumen darstellten, in deren Mitte jeweils ein grüngoldener Tupfer thronte, ihre Hand streichelte den Stamm des Baumes, das Herz, welches der Teufel vor vielen Jahren eingeritzt hatte. Von den sich darüber befindenden Initialen berührte sie nur das ›M‹, vor derjenigen des Teufels hingegen zuckte sie zurück; er sah hinüber, zum Balkon des Rathauses. Es gab kein anderes Wort für jenen Mann, bloß ›Teufel‹. Sie hob den Kopf, und er wich zurück, obgleich er sich sicher war, dass sie ihn, dort, wo er stand, in den Schatten des Zimmers, keinesfalls sehen konnte, ihre Augen waren blaugrün, wie das Meer. Sie bückte sich, nahm den Koffer wieder auf, ging weiter über den Platz, auf die verlassene Barbara-Kirche zu, und er konnte sie warten sehen, vor dem Portal, das Rot ihrer Haare und einen halben Koffer, bevor sie in jenem Gebäude verschwand. Erst da bemerkte er aufgrund seines überhasteten Einatmens, dem sogleich ein gegenläufiger Luftstrom folgte – ›Exspiration‹ analysierte sein Gehirn, doch das Volumen konnte er nicht berechnen, nicht einmal die Formel mochte ihm einfallen –, dass er seinen Atem, im Griechischen mit dem gleichen Wort bedacht wie ›Seele‹, offensichtlich angehalten hatte. Seine linke Hand griff nach der Kante des Schreibpults, langsam setzte er sich auf den Stuhl, rückte ihn zurecht, sodass er den Hauptplatz Albors ungehindert überblicken konnte, griff nach der Feder, smaragdgrün, zog sorgsam einen Strich unter die zuvor notierten Zeilen: VIER UHR DREIUNDVIERZIG … Als Lucia an die Tür klopfte, hatte er auf sieben Seiten die Ankunft der Fremden in Albor festgehalten, er hatte die wahrscheinliche Stärke ihres Haares berechnet, seine Spannkraft aufgrund der wehenden Bögen, die es in Luft und Kies zeichnete, hatte die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken vermerkt und die Schönheit ihrer Augen. Er hatte geschrieben, dass es ihn nicht wundere, dass sie, die Fremde, in die Barbara-Kirche einzog, denn nichts anderes bedeutete der Vorname dieser Heiligen als ›die Fremde‹, ihr Tag war der vierte Dezember, eine Märtyrerin unter Kaiser Gaius Galerius Valerius Maximinus, genannt Daja – so wurde es erzählt. Historisch belegen ließ sich Barbaras Existenz nicht, was der Legendenbildung immer schon förderlich gewesen war. Barbara, eine der vierzehn Nothelferinnen, Patronin der Sterbenden, wirkt gegen Feuer und Blitzschlag, Fieber, Pest und jähen Tod, hatte er notiert, und dass man deshalb diese Kirche, die hauptsächlich aus Holz gebaut worden war, ihr weihte, 1396, vielleicht auch erst 1398, das Schriftbild in den Annalen der Kirche war in all den Jahrhunderten verwischt worden, und dass sein Onkel 1984 die Kirchenbücher vor dem Wüten des Generals hatte retten können, grenzte ohnehin an ein Wunder, oder alle Nothelfer hatten zusammengewirkt – Achatius, Ägidius, Blasius, Christopherus, Cyriacus, Dionysius, Erasmus, Georg, Katharina, Margareta, Pantaleon, Veit – dreizehn, auf wen hatte er vergessen? Er hatte die Feder abgelegt, nach dem Bleistift gegriffen, auf dem Notizblock hatte er sich nochmals ihre Namen notiert, untereinander dieses Mal:
Achatius,
Ägidius,
Blasius,
Christopherus,
Cyriacus,
Dionysius,
Erasmus,
Georg,
Katharina,
Margareta,
Pantaleon,
Veit
– natürlich! Eustachius, Helfer in allen schwierigen Lebenslagen, wie konnte ihm bloß Eustachius entfallen, ausgerechnet ihm, der von einem Unglück ins nächste taumelte? Er hatte hochgesehen, weil er das Knarren einer Tür vernommen hatte, war ans Erkerfenster getreten, da war sie wieder, die Frau, fünf Uhr einundzwanzig, um die Kirche zu umrunden. Sie hatte hochgesehen, ihm lächelnd einen Gruß zugewunken, woraufhin er derart erschrocken zurückgewichen war, dass ihm der Bleistift entglitten war – winken, die althochdeutsche Wurzel verwies noch auf ›sich biegen‹, und er hatte sich an dem festgehalten, was er wusste, ebenso wie an den vierzehn Nothelfern, Eustachius nicht vergessen, das Memorieren seines Wissens verschaffte Boden, auch weil das Aufschlagen des Stifts in seinen Ohren mahnend geklungen hatte, Eustachius, Pantaleon und Veit, er hatte seinem Rollen zugesehen, wie sich der Stift über die von unzähligen Schritten weichgeschliffenen Holzdielen hinweg bewegt hatte, um zwischen den vorderen Füßen der Wäschekommode zu verschwinden, und er hatte dabei nur ihr Lächeln gesehen, die erhobene Hand. Er war erneut ans Fenster getreten, hatte gewartet; bis Lucias Klopfen die Normalität eines Morgens einmahnte, und ohne seine Entgegnung abzuwarten, trat sie ein, stützte das Tablett an ihrer Hüfte ab, um den Lichtschalter zu betätigen, und sie fragte ihn, ob er vorankomme, mit dem Kinn auf sein Schreibpult weisend, er konnte an ihrem Hals sehen, wo sie des Nachts gewesen war. An diesem Morgen blieb sie länger, befingerte den Pullover, der über der Sessellehne hing, trat an sein Bett, es schien, als rieche sie die Veränderung. Da sie an die aufgeschlagene Chronik trat, hatte er hastig das Buch geschlossen....