Schachinger | Unzeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 250 Seiten

Schachinger Unzeit


1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-7013-6241-7
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 250 Seiten

ISBN: 978-3-7013-6241-7
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In ihrem neuen Werk legt Marlen Schachinger Erzählungen vor, die von dichter Bilderflut und auffallender Genauigkeit der Sprache durchdrungen sind. Anhand
verschiedener Einzelfiguren greift die Autorin wesentliche Themen des 20. und
21. Jahrhunderts auf: Politische Systeme, begrenztes – grenzenloses Europa, Kapita -
lismus, Neoliberalismus – Sozialismus, die menschliche Gier, der gewollte Rückzug in
künstliche Idyllen…
Marlen Schachingers Figurenrepertoir beginnt bei Theresia, die auf das Sterben
wartet: Es ginge doch nicht an, dass der Tod sie vergäße! En passant wird der
Bogen von Zwangsarbeitern bis zum Eisernen Vorhang und dessen Entfernung
gezogen. Eine Erzählung folgt einer exzellenten, jüdischen Physikerin namens
Marietta, deren Arbeiten konfisziert werden, und die auch danach, an ihrem
Fluchtort, einer Gesell schaft mehr sein will, als nur a useless burden; lesend
folgt man einer HR-Mana gerin in den Feierabend, nach einem ganz normalen
Arbeitstag, bei dem es einzig darum ging, die Produktion zu erhöhen, das Men -
schen material auszubeuten oder in die Arbeitslosigkeit zu kicken… Bis man Lou
und Anna begegnet, zwei Linzer Kellnerinnen, die auf jeweils unterschiedliche
Art und Weise ver suchen, mit den politischen Umständen des Jetzt fertig -
zuwerden.
Marlen Schachingers Erzählungen bilden Zeit ab, stellen die Verhältnisse der Welt
dar, welche Realitäten einzelner widerspiegeln. Manchmal zynisch, oft ironisch,
sind sie real, ein Abbild der Gegenwart, schlicht: am Puls der Zeit.
Die eine Unzeit ist.

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I Hinter Mauern … und Theresia wartete auf das Sterben, das kommen musste, auch sie holen musste, es ging doch nicht an, dass der Tod sie vergaß, nahm er die anderen allesamt mit sich, Michael, Michl-Mischa und Michal, zu tun gab es seit langem nichts mehr, für sie, seit sie nicht hinauskonnte, in den Garten zumindest, gab es keinen Grund, hier zu liegen und zu atmen, aber das ließ sich nicht beenden, das Atmen, weil man mit sich übereingekommen war, dass jetzt Schluss sein müsse, mit dem Atmen, dem Leben, und beschlossen hatte sie es siebenhunderteinundachtzig Mal, das wusste Theresia, auch ohne einen ihrer Zettel aus der Tasche des Schürzenkleids zu Rate zu ziehen – lesen hätte sie die Notiz ohnehin nicht können, da machten ihre Augen nicht mehr mit, bloße Gewohnheit war ihr die Winzigkeit der Buchstaben geblieben, die sie früher nötig gehabt hatte, um für jede Nachricht möglichst wenig Papier zu benutzen, nun, seit geraumer Zeit schon, rutschten sie ihr übereinander, die Buchstaben, das war nicht weiter schlimm; alles Niedergeschriebene befand sich ohnedies eingeprägt in ihr Gedächtnis, sie brauchte nur die Augen zu schließen; das hatte sie gestern auch getan, ihre Urenkelin Marie-Therese, die sich eine Pause als Dorfschreiberin gewünscht hatte, war nach Hause gekommen, zu ihr, um sie zu sehen, und hatte eine Notiz am Boden gefunden, im Schlaf musste sie aus der Schürzentasche gerutscht sein, und Marie-Therese wollte wissen, was das sei, und danach, weshalb Theresia denn nun weine, und statt einer Antwort hatte Theresia leise gefragt, wie es heute sei, in Rechnitz, denn dort feierten sie im Schloss ein Fest, das hatten sie im Radio erzählt, und die Gäste der Stellungsbauprominenz ermordeten währenddessen zweihundert nichtmarschfähige Juden, nur so, während dieses Abschiedsfests, um sie am nächsten Tag von Zwangsarbeitern verscharren zu lassen, irgendwohin mussten die Leichen ja, und die Zwangsarbeiter, Mitwisser, die man nicht mehr brauchen konnte, war ja ein Abschiedsfest gewesen, die erschoss man alsdann gleichfalls; wo das Erdloch ist, in dem man sie verscharrte, daran will keiner sich erinnern, das ist in diesem Land so üblich … aber Marie-Therese hatte nichts verstanden, kein Wort, hatte sich kurz neben Theresia gehockt, ihr das Zettelchen in die Hand gedrückt, ›Da‹ hatte sie gesagt, sonst nichts, und Isabella war ins Zimmer gekommen, um Scheiter nachzulegen, damit Theresia es warm habe, und Marie-Therese hatte ihre Mutter leise, doch nicht leise genug, gefragt, ob die Uromi jetzt komplett gaga geworden sei – besorgt hatte ihre Stimme geklungen, auch wenn die Wortwahl anderes nahelegte, und Jan war hereingekommen, hatte sich zu Theresia gesetzt, an seinem linken Pulloverärmel hing noch Heu, ebenso wie in seinem Haar, er hatte ihren Kopf gestreichelt, ›Nicht weinen‹ und sein -ei- klang wie eh und je und mehr wie ein ›ej‹, der Laut ›ei‹ wollte ihm nie so recht gelingen, und weil Theresia lächelte, bloß ein wenig, mit dem linken Mundwinkel, hatte er jenes Wort nochmals gesagt, ›nicht wejnen, nicht‹, damit das Lächeln auch ihr Auge erreiche, dabei war doch den Augen ohnehin nicht mehr zu trauen, was nicht weiter schlimm war, Theresia hatte ihr Gedächtnis, darin war alles notiert, in winzigen, dicht aneinandergedrängten Buchstaben, und ihr Gehör: nach wie vor dasjenige eines Luchs’, und Isabellas Antwort an ihre Tochter war eine Zurechtweisung, Marie-Therese solle nicht in dieser schnoddrigen Art reden, die hatte sie natürlich auch gehört, und Jans -ej-, das Rascheln des Taschentuchs, ein Ton, der in Theresias Ohren kratzte, weshalb vergaßen sie fortwährend, dass sie Stofftüchern den Vorzug gab?, manchmal, ja manchmal dachte Theresia, das Gedächtnis der Jungen lasse nach, und ihr Gehör, zu viel war da um ihre Ohren, an Gedanken und Sorgen und Plagen, und sie lächelte Jan zu, von der Ofenbank aus, der ihr die Träne abgetupft hatte, nur ihr rechtes Auge konnte noch weinen, in ihrer Hand, festumschlossen die Nachricht, und Jan hatte Isabella angesehen, dann Theresia, war aufgestanden, um zu niemandem Bestimmten im Raum zu sagen, dass er und die neuen Nachbarn linkerhand, die vor ein paar Monaten erst aus der Stadt ins Dorf gezogen waren, gemeinsam beschlossen hätten, die Mauer niederzureißen, diejenige hinten im Garten, er habe lange genug hinter Mauern gelebt, es sei an der Zeit, dass man die entferne, und Isabella hatte ihm zugehört, die Ofenklappe geschlossen, sich die Hände an ihren Jeans abgewischt, bevor sie die Arme um Jans Hals geschlungen hatte, und Theresia hatte ihnen von der Ofenbank aus zugesehen, Jan und Isabella, es war gut, dass sie nun den Hof führten, miteinander, und Theresia hatte sich gefragt, ob ihr Leben auch ein solches hätte werden können, wie dasjenige ihrer Enkelin, sonnenblumengelb, so nannte Theresia Isabellas Leben für sich, und sie wusste, dass es gut war, und mehr noch: Sie wusste, dass sie heute Nacht sterben wollte, spätestens morgen Früh, dass jetzt ein für alle Mal Schluss sein müsse, mit Atmen und Leben… … in die Stimmen der Tiere hatte sich ein Klopfen geschlichen, Theresia sah zu Michael im hölzernen Rahmen, der auf dem Nachtkästchen stand, seit er nicht mehr bei ihr war, schaute zum Fenster, das nach Südwesten wies, irgendwo dort lag Spanien, dachte sie, müsste dort liegen, und Frankreich, über der Stuhllehne hing die Strickjacke, sie schlüpfte in ihre Holzpantinen, heute Morgen klapperten diese nicht über den Ziegelboden der Arkade, das Klopfen drang zu laut von hinten herüber, und Theresia trat fester auf, um zu übertönen, was so ungewohnt klang, dieses Klopfen, Ungewohntes war noch nie gut gewesen, dabei war der Himmel im Süden blau, keine Flieger zu sehen; die beiden Ziegen, das Schwein im Stall, alles schien zu sein wie an jedem Morgen, trotzdem war nichts, wie es sein sollte, seit Michael gegangen war, die Dorfstraße hinunter, wie die anderen zuvor, unter Thomas’ Augen – nicht nach Norden sehen, lieber nicht! –, und Theresia war froh, dass ihr Hof nach Süden offen war, ein Hof und ein weiterer Hof bilden ein Viereck, geteilt durch ein Steinmäuerchen, ausreichend hoch, um allein zu sein, niedrig genug, um hinüberzurufen, von der Leiter aus, während man die Früchte an den Obstbäumen prüfte, ›die Ringlotten wären bald, die Marillen ebenso …‹, und nein, das Klopfen heute Morgen stammte nicht von der Nachbarin, das war nicht der Klang eines Teppichs, der gereinigt wurde, nein, es kam vom rückwärtigen Garten her –, die Ringlotten, die Marillen, ihre Mutter würde herüberkommen, mit dem dicken Bauch solle ihre Tochter auf keine Leiter, sonst erhänge sich das Kind, hebe sie die Arme über den Kopf, und ob das denn jetzt habe sein müssen, ausgerechnet jetzt?, und Theresia dachte daran, dass man im Dorf ohnehin schon fand, sie passe nicht hierher, in dieses Dorf, wieso habe er sich eine Solche nehmen müssen, eine von dort, aber er sei ja auch anders, so hatten sie getuschelt, und Theresias Ohren, die diejenigen eines Luchses waren, hatten es gehört, sie hatte geschluckt und gelächelt, sich noch mehr Mühe gegeben, sie würde es schon lernen, eine Bäuerin zu sein, und Michael hatte gesagt, sie solle sich nicht grämen, ihn fänden sie ja auch komisch, hatte er gesagt, anders eben, und das, obwohl er die Dorfstraße hinunter war, wie die anderen zuvor, nur die Armbinde, die wollte er nicht, und Theresia hatte am Gemeindegraben gestanden, ins Wasser geblickt, braun vom Regen des gestrigen Tags, Michael wollte sie nicht nachsehen. Das Klopfen hörte nicht auf, Stein auf Stein, so klang es, was sollte es nutzen, hinzugehen?, ihr Kleid spannte über dem Bauch, sie würde die Schürze höher binden, den Knopf, der nicht mehr schloss, darunter verbergen, warum ausgerechnet jetzt?, hatte ihre Mutter gefragt, und manchmal dachte Theresia, dass so ein Bauch immer noch runder werden konnte, wenn alles andere spitz und knochig an ihrem Körper geworden war, die Knie, das Kinn, die Ellenbogen, und sie holte die Ziegen Mille und Molle aus dem Stall, es war besser, nicht alleine nach hinten zu gehen, nicht um zu schauen, sondern um die Ziegen nach hinten zu bringen, in diesen Zeiten war es nicht gut, allzu viel zu sehen, zu hören, und Stimmen gesellten sich zum Klopfen, nein, nur eine, die Thomas-Stimme, sein bellendes Schreien. Theresia entriegelte das Scheunentor, das Klopfen hörte auf, ihre Holzpantinen klangen dumpf auf dem gestampften Lehmboden, auf dem sie durch die Scheune ging, Mille und Molle neben sich, bis zum rückwärtigen Tor, dieser Haken klemmte stets, und sie zog das Tor zu sich heran, so gut dies eben ging, drückte den Haken gleichzeitig nach oben, Mille stieß den Kopf ungeduldig gegen das Holz, Theresia wickelte sich das Seil fester ums Handgelenk, kaum wäre es offen, würde Mille ziehen, ungeduldig vor Gier, und Molle würde die Beine in den Boden stemmen, bis Mille auf und davon wäre; ja, so war sie Michal zum ersten Mal begegnet, er war herbeigeeilt, Thomas’ Gezeter im Nacken, hatte die Ziege eingefangen, ihr Mille zurückgebracht, wortlos, aber ein Nicken in den Augen – wie jetzt –, nur einige wenige Sekunden, von oben, ein kleines Nicken, ein wären-die-Zeiten-andere, und still wandte sie den Kopf, fort...


Beruf: Leiterin des "Instituts für Narrative Kunst"

Angaben zur Person: geboren 1970 in Oberösterreich, studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Deutsche Philologie, Französisch und Ästhetik in Wien sowie in Paris. Ihr bisheriges Werk (Kurzgeschichten, Romane, Hörstücke, Lyrik sowie Sachbücher aus dem Fachbereich HerStory und zur Pädagogik der Schreiblehrgänge) wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet.
In ihrer Dissertation zum Thema „Werdegang" fokussierte sie die Charakteristika
unterschiedlicher Schreibstudiengänge in Europa und den USA. Sie lehrt seit 1999
Literarisches Schreiben, ist seit 2011 Künstlerische Leiterin des „Instituts für Narrative Kunst Niederösterreich", zudem lehrt sie an der Universität Wien „Literarisches Schreiben". Marlen Schachinger lebt und arbeitet im niederösterreichischen Weinviertel und in Wien.
Im Otto Müller Verlag erschienen: denn ihre Werke folgen ihnen nach (2013),
Albors Asche (2015)



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