E-Book, Deutsch, 170 Seiten
Schäfer Die demokratische Rückentwicklung der Republik Türkei
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96095-935-9
Verlag: GRIN Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 170 Seiten
ISBN: 978-3-96095-935-9
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Die Türkei galt lange als Musterstaat, welcher in Bezug auf seine Gesellschaft traditionell islamisch geprägt ist und gleichzeitig trotzdem seinen modernen Staatscharakter betont hatte. Die Einschätzungen vieler Journalisten und Politiker lassen nun allerdings vermuten, dass ein gesellschaftlicher sowie politischer Wandel eingesetzt hat. Manche bezeichnen diesen Wandel als Rückentwicklung von schon erreichten gesellschaftlichen und demokratischen Werten. Markus Schäfer untersucht, warum und wie sich die Türkei zurückentwickelt hat. Dabei beantwortet er folgende Fragen: Was ist überhaupt eine Demokratie? Wie demokratisch beziehungsweise undemokratisch ist die Türkei tatsächlich? Wieso unterstützt die Mehrheit der Bevölkerung die Entscheidungen der Regierenden und die Entwicklungen innerhalb ihres Landes? Hat sich die Republik Türkei weg von einer Demokratie entwickelt? Und wenn ja, warum und wie kam es zu dieser Entwicklung? Aus dem Inhalt: -Recep Tayyip Erdogan; -Autokratie; -Defekte Demokratie; -AKP; -Modernisierungstheorie; -Transformation
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2 Theoretischer Rahmen
Der theoretische Rahmen erstreckt sich also von einer herausgearbeiteten Definition der Demokratie über Transformations- bzw. Transitionstheorien hin zu einer rückwärtsgewandten Transformation. Dabei basiert bei Ersterem die Überprüfung der Demokratie auf einem normativen Verständnis der Theorie. Bei der rückgewandten Transformation ist ein normatives Vorgehen jedoch eher deplatziert. Denn die Transformationstheorien bilden zwar hohe Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Entwicklungen, jedoch sind die eigentlichen Prozesse und Abläufe von zahlreichen Faktoren abhängig: Pfade, Umwelt, Akteure etc. (vgl. Zapf 1997) Aus diesem Grund spricht man hierbei vielmehr von „heuristischen Modellen“ (Zapf 1975: 212). 2.1 Demokratietheorie
Die Herausarbeitung und Definition des Demokratiebegriffs ist eine nicht zu unterschätzende Aufgabe für einen Forscher. Denn diese Definition leitet sich aus der jeweiligen Demokratietheorie ab. Zwar stimmen die meisten Wissenschaftler darin überein, dass die Demokratietheorien eine beschreibende, erklärende und bewertende Untersuchung von Demokratien ermöglichen sollen, (vgl. Schmidt 2010: 487) dennoch gibt es durchaus ein großes Feld an verschiedenen Theorien, was denn eine Demokratie auszumachen scheint – aufgrund zahlreicher unterschiedlicher Einschätzungen und Meinungen. (vgl. Buchstein 2016: 2) Diese rivalisierenden Vorstellungen beziehen sich dabei nicht nur auf die wissenschaftliche Ebene der Diskussionen, sondern ebenfalls auf die praktische politische Ebene, sprich die Auseinandersetzung zwischen den jeweiligen Parteien und ihren Akteuren auf Basis ihrer parteilichen Ideologien. (vgl. ebd.: 2; 4 f.) Jede der Theorien hat ihre eigenen Schlüsselbegriffe und Leitbilder, die auf den jeweiligen Erfahrungsgrundlagen und Beobachtungsperspektiven der forschenden Personen basieren. Auch kann es sein, dass eine Theorie in diesem Fachbereich nicht einfach endet, sondern andere Erkenntnisse womöglich in den jeweiligen Denkansatz eingespeist oder daraus neue Theorien entwickelt werden. Die Demokratietheorie nimmt ihren Anfang schon in der Antike. Für Aristoteles beispielsweise besteht die beste Form der Demokratie[5] aus einer Staatsverfassung, die zusammen mit dem menschlichen Handeln ein tugendhaftes Leben ermöglichen soll. Genannt seien hier zum Beispiel Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit. (vgl. Schmidt 2010: 486) Im weiteren Verlauf der Geschichte kommen noch weitere Denkweisen hinzu, wie etwa die Idee eines Gesellschaftsvertrages bei Hobbes oder Rousseau. Während also die älteren Theorien ihren Fokus mehr auf die grundsätzliche Ausgestaltung einer Demokratie zu legen scheinen, gehen neuere Ideen tiefer und legen ihren Schwerpunkt auf den Pluralismus des Systems und die Partizipation des Volkes. Wiederum andere greifen bei ihren Überlegungen den Ökonomiegedanken auf. (vgl. ebd.) Die Theorien unterscheiden sich aber nicht nur danach, worauf sie ihr Hauptaugenmerk richten, sondern sie lassen sich auch danach unterscheiden, ob sie statisch oder dynamisch angelegt sind. (vgl. ebd.) Während die dynamischen Ansätze nach Prozessen und Veränderungen ausgerichtet sind und sich darüber hinaus zum Teil ebenfalls mit In- und Output der Demokratie auseinandersetzen können, beschäftigen sich die statischen Ansätze mit einem bestimmten Zustand des zu testenden Falles.[6] Die Untersuchung dieser Arbeit richtet sich nach der nötigen Zustandsbeschreibung der türkischen Demokratie, die entweder mithilfe einer empirischen oder normativen Demokratietheorie vorgenommen werden kann.[7] 2.1.1 Typen moderner Demokratietheorien
Diese immer weiterführende Ausdifferenzierung des Demokratiebegriffs beziehungsweise der Demokratietheorien führt zu einer Menge an wissenschaftlicher Literatur, die es zu überschauen und einzuordnen gilt. Während die eigentlichen Typen in einer idealen Politikwissenschaft als sich gegenseitig ergänzend verstanden werden sollten, werden sie aufgrund von immer weiter ausdifferenzierten Teilbereichen innerhalb einer real existierenden Politikwissenschaft immer mehr als Gegensätze betrachtet. (vgl. Buchstein 2016: 9) Da für diesen wissenschaftlichen Beitrag allerdings eine Demokratietheorie von Nöten ist, wird zuvor geklärt, welcher Typus einer Demokratietheorie letztlich verwendet wird. Die empirische Demokratietheorie untersucht politische Systeme, die sich selbst als Demokratie bezeichnen. Wissenschaftler dieses Bereichs versuchen das jeweilige politische System zu beschreiben und letztlich Aussagen über die kausalen Wirkungszusammenhänge in diesem System aufzustellen. Um die verschiedenen Systeme in demokratische Systemtypen klassifizieren, um deren Funktionsvoraussetzungen benennen und um deren Leistungsfähigkeit messen zu können, bedient sich die empirische Demokratietheorie unterschiedlicher Methoden der qualitativen und quantitativen Sozialforschung. Aus diesen gewonnen Erkenntnissen und getroffenen Aussagen wird dann eine induktive Theoriebildung vorgenommen, bei der es schrittweise zur Verallgemeinerung der empirischen Befunde kommt. Eine systematische empirische Analyse lässt sich auch schon in den Schriften des Platon und des Aristoteles erkennen. (vgl. ebd.: 15) Normative Demokratietheorien machen dagegen Aussagen über positive Soll-Zustände der Demokratie. Sie haben den Anspruch „überzeugende Begründungen für demokratische Herrschaftssysteme und deren konkrete institutionelle Ausgestaltung“ (ebd.: 27) zu geben. Somit stellen sie Maßstäbe auf, mit deren Hilfe sie real existierende politische Systeme nach ihrer Qualität bewerten können. (vgl. ebd.) Offensichtlich ist, dass es sich hierbei nicht um eine völlig wertfreie, wissenschaftliche Einordnung der jeweiligen Demokratie handelt, sondern eine solche Bewertung teilweise explizit zum Gegenstand der Wissenschaft wird. Normative Demokratietheorien erheben einen universellen Geltungsanspruch, welcher auf bestimmten Überlegungen zu einzelnen Grundwerten fußt. (vgl. ebd.: 28) Letztlich kommt keine Konzeption einer Demokratie ohne normative Elemente aus, „denn die Entscheidung für oder gegen Demokratie basiert auf Werten, die nicht theoretisch ableitbar sind“ (Dirmoser 2005: 123). Die idealtypische Abstraktion eines solchen Demokratiemodells soll durch seine Beschaffenheit jede Art von Diktatur verhindern, „einschließlich jener Diktatur, die aus einer Tyrannei der Mehrheit hervorgeht“ (Offe 1994: 83 f.). Während also zusammenfassend der normative Typus der Demokratietheorie eher auf den ideengeschichtlichen Überzeugungen, den bisherigen Erkenntnissen der Demokratiewissenschaft und einzelnen Grundwerten beruht (Demokratiebegründung), zeichnet sich der empirische Typus durch die aktivere Erkenntnis und Forschung zur Systembeschreibung sowie Verallgemeinerung aus (Demokratieforschung).[8] (vgl. Buchstein 2016: 2) Zur Einordnung der Türkei wird also eine statische normative Demokratietheorie genutzt, da die Messung der Qualität der türkischen Demokratie auf bestimmten Grundwerten der politischen Partizipation und der bürgerlichen Freiheitsrechte sowie auf Grundprinzipien zur Organisation des politischen Systems beruht. Es soll Aufschluss über mögliche Defizite und Fehlentwicklungen des Regimes gegeben werden. Im weiteren Verlauf soll zunächst ein Überblick über die bekanntesten Konzepte von Demokratien gegeben werden, ehe dann die dieser Arbeit zugrundeliegenden Merkmale einer Demokratie herausgearbeitet und erläutert werden. 2.1.2 Konzepte von modernen Demokratien
Der Begriff der Demokratie entspringt aus den griechischen Wörtern demos ‚Volk‘ und kratein ‚herrschen‘. Zusammengesetzt heißt dies so viel wie ‚Volksherrschaft‘. Volksherrschaft bedeutet weiter die Herrschaft der Vielen oder der Mehrheit. Hiervon lassen sich wiederum andere Herrschaftsformen, wie etwa die autokratischen Regime des Autoritarismus und des Totalitarismus abgrenzen. Abraham Lincoln bezeichnete zur Zeit des Sezessionskrieges die Demokratie als „government of the people, by the people, for the people“. (vgl. Schultze 2015: 90) Doch das bisher Behandelte lässt vermuten, dass die modernen Definitionen und Konzepte der Demokratie mehr als nur die bloße Volksherrschaft als Folge von Wahlen innerhalb eines repräsentativen Systems im Sinn haben, was die Definition von Lincoln impliziert. Eine Minimalkonzeption von Demokratie nach Joseph Schumpeter knüpft genau an diese Definition von Lincoln an. In seinem Werk „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ (1950) definiert er eine elektorale Demokratie. Er begreift die Demokratie als einen Konkurrenzkampf um die politische Führung, welcher durch Wahlen des Volkes entschieden wird. Für Schumpeter ist die Demokratie also die Methode zur Erreichung politischer Entscheidungen, „bei welcher Einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimme des Volkes erwerben“ (Schumpeter 1950: 428). Ein darauf aufbauender und sozusagen weiterentwickelter Entwurf ist die Polyarchie von Robert Dahl. Er versucht ein normatives-empirisches Konzept zu schaffen, bei welchem der Bürger beispielsweise ohne einen Verweis auf die konkreten Institutionen und die Art des Wahlrechts (Mehrheits- oder...