E-Book, Deutsch, 294 Seiten
Schäfer Ju Allambee
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-96112-783-2
Verlag: Windschief Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mellis Reise auf den Kontinent der Weisheit
E-Book, Deutsch, 294 Seiten
ISBN: 978-3-96112-783-2
Verlag: Windschief Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Der erste Teil einer Fantasiereihe zum Thema psychische Entwicklung und Grenzerfahrungen. Melli begibt sich auf die Reise ins große Unbekannte. Sie erlebt spannende Abenteuer, muss schwere Prüfungen bestehen und begegnet Wesen, die sie noch nie zuvor gesehen hat. Das alles lässt sie auf dem Weg zum Ziel menschlich reifen. Ein Buch für Fantasyfreunde und Interessierte ab elf Jahre.
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Prompt pustete ein derart starker Wind durch den Gang, dass die kleine Haustür mit einem heftigen Ruck auf geschleudert wurde und Melinda wie ein hilfloses Herbstblatt, mit Purzelbaum und Überschlag, unsanft auf den runden Teppich geschubst wurde. Das Kind rappelte sich auf, schob die langen, zerzausten Haare vor den Augen auseinander und schaute direkt in das breit lächelnde Pfannkuchengesichtchen von Tschindellika und die blinkenden Knopfaugen von Limetto. Er bewegte sein Näschen heftig schnuppernd auf und ab. Melli riss sich zusammen, sagte höflich "Guten Tag" und streckte die Hand aus, die von Tschindellika genommen und äußerst kräftig geschüttelt wurde.
"Gutes Kind, gutes Kind, genau richtig bist du!", murmelte die alte Frau und zog flink ein Maßband aus der Schürzentasche.
Sie packte Melli resolut bei den Schultern, drehte sie nach links und rechts, bog sie nach vorne und hinten, danach betastete sie ihre Füße und vermaß ihren Kopf. Limetto wieselte derweil in Melindas Taschen herum, wirbelte durch ihre Haare und knabberte an ihren Ohren. Melli hatte nicht genug Zeit, um ärgerlich zu werden, fragte sich aber ernsthaft, wie sie bei dieser merkwürdigen Frau Antworten auf ihre Fragen erhalten sollte. Doch da ließ diese von ihr ab, sah ihr freundlich in die Augen, pflückte das Eichhorn aus ihren Haaren und sagte liebevoll:
"Verzeih' meine Eile, gutes Kind, aber uns bleibt nur wenig Zeit bis zum Sonnenaufgang und ich möchte dir alles mitgeben, was ich Wertvolles für dich habe. Schau, da drüben, im Regal, dort stehen sieben erdfarbene Bücher, die dich auf deiner Reise begleiten. Nimm' das Erste mit dem weißen Siegel. Das ist deine Kleidertruhe. Nur du kannst sie öffnen, niemand sonst."
Melli suchte das Buch und fuhr mit den Fingern erst über den weichen Ledereinband, dann über das Siegel. Anschließend drückte und drehte sie es vorsichtig, bis sie ein leises Geräusch vernahm und der Verschluss sich mühelos öffnen ließ. Auf der Stelle hüpfte das Buch aus ihrer Hand und begann zu wachsen, wie sie es bei Wins schon gesehen hatte. Als es groß genug war und schon an die anderen Möbel stieß, konnte Melli es wie eine Truhe öffnen, um die Kleidung zu bestaunen, die sich ordentlich und gepflegt vor ihr ausbreitete.
Als erstes entdeckte sie die Fellstiefelchen, hellkaninchengrau, mit übereinander liegenden Schnallen und hellblauen Steinen. Eine genaue Nachbildung von Celestinos Stiefeln also, nur kleiner.
"Die sind wirklich schön", bemerkte Melli, "ich habe sie schon bei...bei dem Wesen mit der Kapuze gesehen".
Aufgeregt schlüpfte sie hinein und fand sie wunderbar bequem. Ein paar Minuten probierte sie dieses und jenes an, befühlte die Stoffe und bewunderte schillernde Farben und exotische Muster, bis sie auf den langen Mantel mit Kapuze stieß, der scheinbar nun auch ihr Schutz vor Wind und Wetter werden sollte. Melli legte ihn sich eher zögernd um die Schultern, da sie dieses Kleidungsstück im Gegensatz zu den anderen hässlich und langweilig fand.
"Ja, Kindchen", hörte sie Tschindellika neben sich, "die unscheinbarsten Dinge entpuppen sich häufig als die Wichtigsten. Er ist aus einem ganz besonderen Material gefertigt, Celestino kann durch seine Kapuze von innen hindurchsehen, aber von außen ist sie absolut blickdicht. Zusätzlich ist dieser Mantel eine wunderbare Tarnung, denn niemand beachtet etwas, das spröde und hässlich erscheint. Glaube mir, du wirst ihn auf deiner Reise schätzen lernen, behalte ihn gleich an.“
Das wollte Melli noch nicht ganz einleuchten, trotzdem setzte sie sich nun die Kapuze auf, die zu ihrer Überraschung nur bis zum Haaransatz reichte und gar nicht ihr ganzes Gesicht bedeckte, wie sie es erwartet hatte. "Tschindellika, wieso hört denn meine Kapuze schon hier oben auf und Celestinos nicht?" fragte sie verwirrt.
"Na ja", antwortete ihr Tschindellika, "weil du ein Gesicht hast und Celestino nicht, denn ein Gesicht besteht aus mehr als nur einer Öffnung zur Nahrungsaufnahme und ein paar schwarzen Augenpunkten."
"Er hat kein Gesicht?", schrie das Mädchen entgeistert und setzte sich polternd auf den Fußboden, "Das ist ja entsetzlich!"
"Nein, gar nicht", beruhigte Tschindellika sie sofort, "er wird es noch bekommen. Ihr werdet die verschiedensten Länder durchqueren und in jedem Land kommt ein Teil hinzu, denn ein Gesicht will geformt werden. Die Stellung der Augenbrauen, der Ausdruck seiner Augen, die Farbe seiner Wangen, die Form seines Mundes und die Furchen in seiner Haut zeichnen ein Bild seiner Seele und des Weges, den ihr gegangen seid. Auch seine Stimme ist noch nicht vollständig ausgebildet, sie wird erst richtig klingen, wenn er seine Aufgabe bewältigt hat. Im Moment hört er sich sehr heiser an, er spricht nicht gern, aber nach jedem Tor wird seine Stimme kraftvoller werden. Am Ende wird es sich zeigen, ob er die Kapuze absetzen kann, oder ob er die Chance auf ein wirkliches Gesicht für immer verspielt hat. Es ist Vorschrift und Tradition, dass ihn ein Menschenkind auf diesem Weg begleitet. Auf dich ist die Wahl gefallen, darum bist du hier. Du kannst ihm helfen Melinda, willst du das tun?"
Obwohl sie die Aussicht auf einen jungen Mann ohne Gesicht an ihrer Seite nicht gerade entzückend fand und sie sich beinahe wünschte, sie hätte niemals an der Butter gekratzt, reizte sie doch das Abenteuer. So antwortete sie schneller mit "ja", als sie sich selbst darüber wundern konnte. Tschindellika nickte erfreut angesichts dieser Entscheidung. Mit einem Fingerschnipsen schloss sie die Kleidertruhe, welche seufzend schrumpfte. Anschließend ging sie hinüber zum Bücherregal. Langsam nahm sie selbst das zweite Buch, auf dem ein blutrotes Siegel glänzte, in die Hand.
"Das Rotsiegelbuch, Melinda, lässt sich nur dann öffnen, wenn es wirklich gebraucht wird, ansonsten bleibt es fest verschlossen, zum Schutz der Anderen und zu deinem eigenen."
Sie öffnete es und Melli schaute auf eine schwarze Lederpeitsche, ein großes silbriges Schwert und einen kleinen Dolch, ein Blasrohr mit tödlichen Pfeilen und Tonkugeln, ein Netz, ein Seil, eine Bärenfalle und einen Beutel Rattengift. Betreten und erschrocken trat sie einen Schritt zurück und hoffte insgeheim, dass dieses Siegel sich auf ihrer Reise nie, niemals wieder öffnen würde. Ihr Blick fiel auf Tschindellika, die leise seufzte und etwas zerbrechlich und müde wirkte, während sie auf ihren Sessel zu schlurfte.
Als sie sich setzte, meinte Melli in ihren Augen so etwas wie einen kleinen, sorgenvollen Schatten entdecken zu können, doch so schnell wie er gekommen war, verschwand er wieder. Bei Melli blieb er nur als ein kleines, flüchtiges, unangenehmes Gefühl hängen, an das sie sich später noch erinnern sollte. Doch rasch hatte sie jetzt das nächste Buch heraus gezogen und bewunderte das dunkelgrüne, seidig schimmernde Siegel, in welches eine Pflanze eingearbeitet worden war.
"Wie schön es ist!" entfuhr es Melli und sie konnte gar nicht erwarten, den Inhalt zu sehen.
Doch er überraschte sie, denn aus dem wachsenden Buch quollen nun die verschiedensten Pflanzen und beinahe fühlte sie sich enttäuscht.
"Die Schönheit der Natur!" lachte Tschindellika mit einem Blick auf Melindas Gesicht, dann aber wurde sie ernst und sah dem Mädchen in die Augen. "Sie hat Ehrfurcht verdient, mehr als irgendetwas sonst. Sie schenkt uns Nahrung und nützt Mensch und Tier, ohne jemals etwas dafür verlangt zu haben. Die Natur zu achten und alles, was in ihr lebt, bringt tiefen Ausdruck in ein Gesicht."
Und wie zur Bestätigung zog sie Limetto hinter ihrem Rücken hervor, der sich zu einer flaumigen Kugel zusammengerollt hatte und tief schlief. Sie hielt ihn in ihrer Handfläche, so, dass Melli ihn streicheln konnte. Melinda spürte, wie sich der zerbrechliche Eichhörnchenkörper beim Atmen hob und senkte und dann vertrauensvoll räkelte, aufgrund der sanften Berührung. Sie verstand, was Tschindellika meinte und hatte für sich einen kleinen Schatz entdeckt. Tschindellika legte Limetto in ein Körbchen mit Laub, das auf der Fensterbank stand und wandte sich den Pflanzen zu.
"Jede Einzelne hat ihren Namen und ihre Wirkung. Ein paar von den Wichtigsten werde ich dir erklären. Sieh` her und pass gut auf! Hier, dies ist Eisenkraut (Verbena officinalis), die Stängel rau, haarig und quadratisch, mit kleinen lila Blüten. Ein Tee wird euer Sehvermögen stärken und euch beruhigen. Der kleine verzweigte Stängel dort, mit den kleinen weißen Blüten, ist Hirtentäschelkraut (Capsella bursa pastoris), mit seinem Extrakt stillst du innere und äußere Blutungen. Hier vorn, echter, wertvoller Jasmin (Jasminum officinale), dunkelgrünes, üppiges Laub und süß duftende weiße Blüten, sein Öl benötigst du zur Behandlung von Schlangenbissen. Ja, nimm` ruhig mal eine Blüte in die Hand! Und gleich daneben findest du Indianernessel (Monarda didyma), ovale, gezahnte Blätter und karminrote bis purpurne Blüten. Blüten und Blätter werden leicht zum Schlaftrunk.
Dort, das buschige Pflänzchen mit den holzigen, flaumigen Stängeln und den rosa und bläulich purpurnen Blüten ist Ysop (Hyssopum officinale). Lege seine zerdrückten Blätter auf Wunden, um Infektionen zu verhindern und die Heilung zu beschleunigen. Er wird euch noch sehr hilfreich sein. Nun und schlussendlich das Schöllkraut (Chelidonium malus), mit seinen leuchtend gelben Blüten und gelappten Blättchen. Es enthält einen orange gelben Saft, der sich an der Luft rot färbt, dieser lindert Schmerzen. Natürlich findest du hier auch Zunder und Feuerstein für ein Feuer, denn manche Pflanzen musst du als Tee zubereiten. Und nun weiter...“ Melinda versuchte, sich Aussehen und Bedeutung der einzelnen Pflanzen zu merken und nickte...