E-Book, Deutsch, Band 59, 364 Seiten
Reihe: Theorie und Methode
Schäfer / Prinz / Šuber Pierre Bourdieu und die Kulturwissenschaften
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-7445-0344-0
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Zur Aktualität eines undisziplinierten Denkens
E-Book, Deutsch, Band 59, 364 Seiten
Reihe: Theorie und Methode
ISBN: 978-3-7445-0344-0
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Obwohl Pierre Bourdieu in den letzten drei Jahrzehnten international zum meistzitierten Sozialwissenschaftler aufgestiegen ist, zeichnet sich erst in den letzten Jahren auch eine Öffnung zu kulturwissenschaftlichen Themenstellungen in seinem Werk ab. Diesen Impuls aufgreifend, nähert sich der vorliegende Band der Bourdieu'schen Theorie aus einer genuin kulturwissenschaftlichen Perspektive. Dementsprechend liegen die inhaltlichen Schwerpunkte auf der Kontextualisierung der Bourdieu'schen Soziologie mit dem Poststrukturalismus und der Tradition der Vernunftkritik sowie der Ausarbeitung einer praxistheoretisch-ethnographischen Methodologie. Darüber hinaus werden die in der soziologischen Bourdieu-Rezeption bisher wenig diskutierten kulturwissenschaftlichen Themen wie mediale Repräsentation, Populärkultur, Postkolonialismus und Globalisierung mit Pierre Bourdieu und zugleich über ihn hinausgehend theoretisch gefasst und analysiert.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Kultursoziologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Globalisierung, Transformationsprozesse
- Interdisziplinäres Wissenschaften Wissenschaft und Gesellschaft | Kulturwissenschaften Kulturwissenschaften
Weitere Infos & Material
Sophia Prinz/Hilmar Schäfer/Daniel Šuber
Einleitung. Kulturwissenschaftliche Impulse und kritische Re-Lektüren von Pierre Bourdieus Soziologie
Obwohl Pierre Bourdieu in den letzten drei Jahrzehnten international zu einem der meistzitierten Sozialwissenschaftler aufgestiegen ist und somit unbestritten als ein neuer Klassiker der Soziologie gelten kann, ist das empirische und theoretische Potential seiner umfangreichen und vielfältigen Arbeiten längst nicht ausgeschöpft. So hat sich die soziologische Rezeption anfänglich vor allem für diejenigen Konzepte und Forschungsfelder interessiert, die Bourdieu in seinem wohl einflussreichsten Werk Die feinen Unterschiede (1982) herausgearbeitet hatte, und viele kleinere und größere Nebenlinien seiner Forschung sowie disziplinübergreifende Impulse und Interessen weitgehend unbeachtet gelassen. Im deutschsprachigen Raum konzentrierte sich die Beschäftigung mit Bourdieu zunächst vor allem auf die Ungleichheits- (Vester u.a. 1993; Herz 1996; Engler/Krais 2004) und Lebensstilforschung (Mörth/Fröhlich 1994; Müller 1997; Georg 1998) sowie die Bildungs- und Elitensoziologie (Krais 2001; Hartmann 2002).1 Durch die initialen Beiträge von Interpreten wie Axel Honneth (1984), Hans-Peter Müller (1986) und Klaus Eder (1989) wurde das genuin kultursoziologische Profil der Bourdieu’schen Theorie gegenüber der deutschen an Weber orientierten Kultursoziologie, die seit Ende der 1970er Jahre revitalisiert wurde (Gilcher-Holtey 1996: 125ff.), ins Spiel gebracht.2 Neu in die deutschsprachige Diskussion kam damit die »Frage nach der Erklärung von Verhaltensregelmäßigkeiten sozialer Gruppen und ihrer dauerhaften Prägung durch Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen sowie Lebensstildifferenzierungen« (Gilcher-Holtey 1996: 129). Darüber hinaus haben einige Vertreter der Kultursoziologie Bourdieus spätere Feldanalysen aufgegriffen, um die internen Logiken und Strukturmerkmale einzelner Felder der kulturellen Produktion zu untersuchen (Jurt 1995; Behnke/ Wuggenig 1994; Bogusz 2005). In Analogie zu Bourdieus eigenem analytischen Interesse an den symbolischen Kämpfen in der Sphäre der Hochkultur, haben sich diese feldtheoretischen Studien vor allem auf die Analyse der Kunst und Literatur konzentriert und die strukturhomologen Mechanismen und Strategien in populärkulturellen Feldern weitgehend außer Acht gelassen. Gegenüber diesen klassischen Positionen, die sich relativ eng an Bourdieus soziologischen und kulturtheoretischen Kernkonzepten und Analysegegenständen orientieren, zeichnen sich seit einiger Zeit zwei miteinander verschränkte Tendenzen ab, die bisherige Grenzziehungen hinter sich lassen und die Bourdieu-Rezeption in eine stärker kulturwissenschaftlich orientierte Lesart überführen. So wird erstens Bourdieus Ansatz zunehmend auch in kulturwissenschaftlichen Disziplinen – wie etwa der Literatur-, der Medien-und der Geschichtswissenschaft – aufgegriffen und mit den jeweiligen disziplinspezifischen Diskursen und Theorievokabularen verknüpft.3 Hier konstituiert sich somit ein Interesse am analytischen Potential von Bourdieus Theorie außerhalb der Soziologie, das unter anderem durch seine Arbeiten zu den Feldern kultureller Produktion angeregt zu sein scheint. Parallel dazu zeichnet sich zweitens auch innerhalb der Soziologie eine neuere Rezeptionslinie ab, die sich gegenüber einer Vielzahl von kulturellen Phänomenen und Themenkomplexen öffnet, die bisher genuin kulturwissenschaftliches »Terrain« darstellten. Damit wird sie zum einen den vielfältigen Themen und disziplinübergreifenden Fragestellungen, die Bourdieus Werk seit jeher immanent waren, stärker gerecht (Hillebrand u.a. 2006). Zum anderen werden theoretische Konzepte und Vokabulare aus der Werkzeugkiste der Kulturwissenschaften, die insbesondere von ihrer Rezeption des Poststrukturalismus geprägt sind, mit Bourdieus theoretischer Position ins Gespräch gebracht. Diese kulturwissenschaftlichen Impulse bestehen auch in einer stärkeren Betonung der praxeologischen Dimension von Bourdieus Sozialtheorie gegenüber einer sozialstrukturellen Lesart, wodurch der Begriff der Praxis ins Zentrum der soziologischen Betrachtung rückt (Erbrecht/ Hillebrandt 2002; Reckwitz 2003). Entgegen einer klassisch »strukturalistischen« Lesart, die sich vor allem für übersubjektive Klassenstrukturen und Feldlogiken interessiert, versucht eine solche Perspektive, die Bedeutung der alltäglichen, routinisierten Praxisformen und Deutungsweisen der Akteure stärker zu betonen. In diesem Zusammenhang treten auch die soziale Formung des Körpers und die praxiskonstitutive Wirksamkeit von medialen Symbolsystemen sowie materiellen und visuellen Artefakten deutlicher als bisher in den Fokus.4 Sowohl die verstärkte disziplinübergreifende Auseinandersetzung mit Bourdieu als auch die heuristischen Verschiebungen innerhalb der Soziologie bewirken, dass die soziologische Bourdieu-Rezeption sich neuen Forschungsfeldern zuwendet und Bourdieus Konzepte zunehmend einem kritischen Gebrauch und einer Kontextualisierung mit anderen theoretischen Positionen unterzieht. Diesen Impuls hin zu einer kulturwissenschaftlich und praxistheoretisch gewendeten Bourdieu-Lektüre innerhalb der Soziologie aufgreifend, nähert sich der vorliegende Band der theoretischen Rekonstruktion und empirischen Vertiefung verschiedener Aspekte der Bourdieu’schen Theorie, die in der Soziologie bisher noch wenig behandelt worden sind. Einen ersten Schwerpunkt bildet die Kritik an der strukturalistischen Engführung von Bourdieus Konzepten und die theoretische Fundierung eines praxistheoretischen Vokabulars, das demgegenüber die genuine Wandelbarkeit, Inkonsistenz und Instabilität von sozialen Strukturen, kulturellen Bedeutungsregimen und Machtverhältnissen betont. Wie sich in vielen Beiträgen des vorliegenden Bandes abzeichnet, stößt dabei Bourdieus eigenes Theorie- und Methodeninstrumentarium, das in erster Linie darauf ausgelegt war, die Reproduktion sozialer Strukturen zu erklären, an seine Grenzen und muss daher unter anderem mit Impulsen aus dem Poststrukturalismus sowie medien-, körper- und artefakttheoretischen Ansätzen verknüpft und um ethnographische sowie bildanalytische Methoden ergänzt werden. Anschließend an diese theoretisch-konzeptuelle Re-Lektüre von Bourdieu widmet sich ein zweiter Fokus des vorliegenden Bandes der Analyse von Phänomenen und Feldern, die von Bourdieu selbst und der bisherigen soziologischen Bourdieu-Rezeption nur peripher behandelt worden sind. Zu diesen bisher wenig beleuchteten Gegenstandsbereichen gehören u.a. die praxis- und wissenskonstitutive »symbolische Macht« von medialen und visuellen Repräsentationsformen, die intersektionale Verschränkung von Geschlechts- und Klassenhabitus, die (Re)Produktionslogiken von popkulturellen Feldern und die »Popularisierung« von hochkulturellen Feldern sowie die gesellschaftlichen Verhältnisse unter den Bedingungen von Postkolonialismus und Globalisierung.5Den Abschluss des Sammelbandes bilden Beiträge, die aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive Bourdieus Positionierung gegenüber den Geistes- und Kulturwissenschaften reflektieren. I. Zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus Am Beginn von Pierre Bourdieus intellektueller Entwicklung steht seine Konversion vom gelernten Philosophen zum ethnologisch forschenden Sozialwissenschaftler während seines Aufenthalts in Algerien. Wie Franz Schultheis in seinem Beitrag aufzeigt, dient ihm dabei die strukturalistische Anthropologie Lévi-Strauss’, die einen herausragenden Impuls für die kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Geistes- und Sozialwissenschaften darstellt, als ein zentraler theoretischer Referenzpunkt. Bourdieu entwickelt in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung von Lévi-Strauss die wichtigsten Grundelemente seiner sozialtheoretischen Position. Im Zuge seiner Kritik am strukturalistischen Paradigma ist es Bourdieus Ziel, einige zentrale Limitationen dieses Denkens zu überwinden und es um eine temporale Dimension zu ergänzen sowie insbesondere »die leibhaftigen Akteure wieder ins Spiel [zu] bringen« (Bourdieu 1992: 28), also mit dem Habitusbegriff ein Konzept für die Verkörperung sozial konstituierter und kollektiv geteilter Schemata des Wahrnehmens, Denkens und Handelns in die Sozialtheorie einzuführen. Ein Teil der Beiträge des Bandes wählt diese Strukturalismuskritik zum Ausgangspunkt für verschieden gelagerte Anschlüsse. So kontrastiert Andreas Reckwitz Bourdieus Analyse der sozialen Konstitution von Habitus und Subjektivität mit dem poststrukturalistischen Subjektbegriff von Michel Foucault, der sowohl Parallelen als auch Differenzen zu Bourdieus Theorie aufweist und somit andere Aspekte sozialer Subjektivierung sichtbar machen kann. Der Aufweis des komplementären Verhältnisses der beiden Positionen eröffnet des Weiteren die Frage nach ihrer Leistungs- und Erweiterungsfähigkeit im Kontext zukünftiger Forschungsprogramme der Subjektanalyse. Auch Hilmar Schäfer öffnet Bourdieus Ansatz gegenüber poststrukturalistischen Positionen, aber leitet diese theorieimmanent aus einer eingehenden Lektüre von Bourdieus Distanzierungsbemühungen gegenüber dem Strukturalismus...