E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Scharnigg Der restliche Sommer
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-455-00300-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-455-00300-0
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Max Scharnigg wurde 1980 in München geboren und arbeitet als Journalist für diverse Magazine. 2010 erschien sein Romandebüt Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe, das mit dem Münchner Literaturstipendium gefördert und mit dem Bayerischen Kunstförderpreis sowie dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wurde. Sein zweiter Roman Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau erschien 2013. Die Experimente mit der Selbstversorgung fanden ihre Aufarbeitung in den Büchern Feldversuch (2012) und der großen Angelphilosophie Die Stille vor dem Biss (2015, Atlantik Verlag). Seit 2014 ist er Redakteur der Süddeutschen Zeitung am Wochenende. www.scharnigg.de
Autoren/Hrsg.
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Titelseite
Teile dieses Romans sind [...]
Widmung
Paul
Tin
Sara
Tin
Sara
Sonja
Sara
Tin
Sonja
Paul
Sonja
Sara
Wulfstedt
Tin
Sonja
Paul
Tin
Sara
Paul
Sonja
Trachinus vipera
Paul
August Sternberg: Abschied
Sara
Tin
Sonja
Über Max Scharnigg
Impressum
Paul
Für wen schreibst du, fragte sie, es war früher Nachmittag.
Für die Schatten der Orangenbäume, wollte er sagen. Nur damit sie die Zunge herausstreckte und so tat, als wäre sie von einer Kitschrakete getroffen worden. Für die Sirenen, wollte er sagen, denen er jetzt tatsächlich seit einer geraumen Weile zugehört hatte. Sie näherten sich in der Ferne und entfernten sich wieder in der Ferne. Unwahr kamen sie hier oben bei ihnen an, wie die Meeresbrandung auf einer Postkarte unwahr bei ihrem Empfänger ankommt. Diese Sirenen schienen ihm heute wie eine Warnung, ein vorsichtiger Hinweis, der ihm versichern sollte: Ja, Paul Neulich, es gibt noch Unglück in dieser Welt.
Ich schreibe für uns, sagte er. Keine ausgestreckte Zunge, aber auch keine Nachfrage.
Er hatte den kleinen Schreibtisch in den Schatten gestellt, den die breiten Fensterläden auf die Terrasse warfen. In den ersten Wochen war vom Meer noch ein kräftiger Westwind gekommen, und sie hatten die Fensterläden mit einem Strick an die Hauswand binden müssen, damit sie nicht wild schlugen. Ein paarmal waren sie ausgerissen, und das Geräusch, mit dem der Wind das schwere Holz dann an die Wand geworfen hatte, war das Wütendste, was sie auf ihrer ganzen Reise gehört hatten. Nach dem Wind war, von einem Morgen auf einen Nachmittag, die Hitze gekommen. Es war die Hitze, das war ihnen bald klar geworden, auf die der Ort gewartet hatte. Erst jetzt, wo die Tage von früh an gleichmütig hell ausgeleuchtet waren und über den Resten der Stadtmauer schon morgens die Luft flirrte, passte er genau zu seinem Schattenriss, hatten die Leben hier den rechten Takt und die Palmen in die gewünschte Trägheit gefunden. Erst in dieser breiten Sommerhitze bröckelten die kalkweißen Hausfassaden mit den immer müden Jalousien im richtigen Licht und nährten mit den herabfallenden Putzstücken die kleinen Bäume, die sich überall dort halten konnten, wo die Gassen einen scharfen Knick machten, so scharf, dass das Steinpflaster mürbe aufgerissen war und ein bisschen Erde freigegeben hatte.
Schatten war von nun an das Wichtigste, und die Einheimischen suchten ihn mit dem Instinkt von Tieren. Sie verschwanden tagsüber, hielten ihren Sommerschlaf in den dunklen Wohnhöhlen ihrer Vorfahren, verraten höchstens durch ein Pfannenklappern oder einen leise gestellten Radiosender mit Tanzmusik. Wer jetzt noch in den gleißenden Straßen mit dem Pflaster aus kleinen Steinen herumging, war Tourist. Je wärmer und farbloser die Tage wurden, desto mehr Besucher kamen. Sie führten mit ihrer Vorstellung von einer südlichen Kleidung ganz andere, synthetische Farben in den Ort ein, ließen sich dazu in sieben Tagen Arme, Beine und Hals röten und die Haarspitzen von Meerwasser und Sonne bleichen. Der Stamm der Urlauber, so schien es Paul, kam eigentlich kaum mit dem Stamm der Einheimischen in Berührung. Die Gruppen bewohnten den kleinen Ort in zwei getrennten Schichten, die sich nur gelegentlich zur Geldübergabe trafen. Die Gesichter der Einheimischen, hatte Sara in der erste Woche gesagt, haben so viele Falten, weil sie den Schatten so dringend brauchten. Er hatte nichts gesagt, aber eigentlich war er fest überzeugt, dass es doch eher das Meer war, das sich darin niederschlug. War es nicht jahrhundertelanges Hinaussehen und Augenkneifen, das diese Furchen aufwarf?
Sie hatten sich gestritten, erst heute Morgen. Es war einer jener Streits gewesen, bei denen sich zwei Menschen aus einer Laune heraus daran erinnern, dass sie vor nicht allzu langer Zeit noch Inhaber eines eigenen Lebens gewesen waren und ganz frei in ihren Entscheidungen. Frei im sinnlosen Herumstreifen am frühen Morgen, frei, am Vorabend das Lächeln des jungen Hutverkäufers zu erwidern. Frei auch im Liegenbleiben, obwohl die Signora schon zweimal vernehmlich mit ihrem Putzwagen gegen die Tür der Cabana gefahren war, in jenem besinnungslosen Unverständnis, das die ganze Welt Liebenden nach elf Uhr morgens entgegenbrachte. Nicht einer davon, eine Verdichtung aus allen diesen Momenten war der Anlass für ihren Streit gewesen, wie eine gemeinsam aufkochende Verstimmung, die in ein lustloses, aber doch akribisches Berechnen aller kürzlich erlittenen Ungerechtigkeiten mündete, das sich über Mittag und ihre Kaffeetassen hinweg fortgesetzt hatte, wenn auch mit anderen Mitteln. Sie hatten dann geschwiegen und gegenseitig so getan, als gäbe es hinter dem anderen etwas zu erkennen, als würde sich in seinem Rücken schon etwas abzeichnen, das ihn ersetzbar machte. Dazu gehörte es, später auf dem Markt unvermittelt in Seitenwege abzubiegen, ohne den anderen am Arm zu ziehen, und nicht auf ein Wort der Zustimmung zu warten, bevor sie den Händlern etwas abkauften. So war der ganze kleine Markt von Tavira Zeuge ihrer Verstimmung geworden und hatte dabei gute Geschäfte gemacht. Sie waren beide schlechte Schauspieler.
Als sie wieder oben bei der Cabana angelangt waren, Tomaten, Artischocken, zwei Doraden und zwei Kilo Boshaftigkeits-Bananen, die sie gekauft hatte, denn er ertrug den Geruch bei Hitze nicht, hatte die Signora ihre Bettlaken zum Lüften über die Hängematte geworfen. Die Einsamkeit ihrer sanft schwingenden Decken, ein Anblick wie Schlagsahne vor den alten Weinstöcken. Alles war in diesen Laken und nichts, als hätte die Sonne alle Spuren gebleicht und die Decken neu aufgeladen. Das schwebende Bett war die Wende an diesem Tag gewesen, und beide wussten es.
Er hatte zugesehen, wie sie erst die Einkaufstaschen auf den Boden und dann sich Kopf voran in die sonnenwarmen Decken und Kissen fallen ließ, zugehört, wie sie so baumelnd ihr Lied vom Fußballtorwart Theodor in den Stoff sang, eine Angewohnheit, die mehr Geräusch als wirkliches Lied war. Und er hatte ihre erwartungsvolle Stille danach absichtlich lange verstreichen lassen. Dann hatte sie laut Octopodes! gesagt, aber was sie eigentlich sagen wollte, war: Beachtung, jetzt. Gestern beim Essen waren sie sich uneinig gewesen, wie die Mehrzahl von Octopus lautete, Octopusse ja wohl nicht, und er hatte schließlich Octopoi vorgeschlagen.
Aber es ist griechisch, sagte sie jetzt triumphierend, immer noch in die Decke. Kein lateinischer Plural! Ist das deine große humanistische Bildung, dass du nicht mal Latein von Griechisch unterschieden kannst, ha? Sie lachte, und er musste die Hängematte mit beiden Händen auseinanderziehen, in die sie eingewickelt war wie ein Fisch im Netz. Musste sie auf eine Stelle an ihrem Nacken küssen, gleich unter den Haarflaum, und spürte dabei, wie ihr Lachen ganz nah an seinen Lippen vorbeipurzelte. Es war eine Stelle, die er sich früh gemerkt hatte, etwa so früh, wie man sich die entscheidende Straßenkreuzung auf dem Weg in ein neues Zuhause merkte. Von dieser Stelle an ihrem Hals, das wusste er, ging es für ihn immer weiter. Sie liebten sich schwankend und hastig in dem fliegenden Bett, die beiden Orangenbäume standen davor wie schamhaft abgewandte Passanten, aber nur so lange, bis sie lachte: »Es geht nicht, es geht nicht.« Dann nahm er sie und zog sie wortlos und ohne sich umzusehen, hinein zu ihrem Bett, das ohne die Decken ganz kahl im hellen Nachmittagslicht stand. Darauf breitete er sie in aller Seelenruhe aus, bis jeder Winkel ihres Körpers ausgeleuchtet war und sich mit Wärme vollsaugen konnte.
Später hatte sie gefragt, für wen schreibst du? Und er hatte gelogen. Nicht ganz, denn natürlich schrieb er für sie beide, seit sie unterwegs waren. Es waren die Honorare für die Ratgeber-Kolumne, die seit zwölf Jahren regelmäßig auf sein Konto flossen, ein unerschütterlicher Viervierteltakt, der ihm in seinem vorherigen Leben schon eine Wohnung zur Hälfte bezahlt hatte und ein oder zwei Autos und der sie beide nun schon fast ein Jahr voranbrachte, von einem Meer zum nächsten. Wenn diese Lebensader eines Tages endete, würde er nicht mehr August Sternberg sein, nicht mehr der geheimnisvolle Benimmlehrer und Gentleman im Stil-Teil des Magazins, den er Woche für Woche für die Leser auf siebzig Zeilen gab, wie ein Straßenkünstler in Florenz den Vivaldi gab. Bei ihm waren keine Perücke, Geige und Tonband zur Verwandlung notwendig, sondern lediglich der alte Rechner und eine kleine Handbibliothek mit versnobten britischen Adels- und Etiketteführern plus seiner gespielten hochnäsigen Strenge. Deutschlands Benimm-Papst Nummer 1, so warb das Heft mit ihm.
Also, August Sternberg würde ihm nicht fehlen, wenn irgendwann das Ende für die Kolumne kam. Auch nicht die Zuschriften der Leser, die immer entweder unerträglich unterwürfig waren und sich von ihm am liebsten jeden Gang zur Toilette (»Wie erklären Sie die Skepsis der Deutschen in Sachen Bidet, lieber Herr Sternberg?«) als stilistisch korrekt absegnen lassen wollten. Oder ihm wie Jagdtrophäen gesammelte Anzeichen der verrohten Gegenwart vorlegten (»Wäre nicht die Unsitte des Telefonierens in den Speedtrains ein treffliches Thema für Ihre Kolumne, hochverehrter Herr von Sternberg?«). Natürlich gab es mindestens genauso viele Leserbrief-Schreiber, die getroffen um sich beißen mussten und Briefe voller Unterstellungen schrieben, wonach es mit Herrn Sternbergs Noblesse oder seiner Weltläufigkeit ja nicht weit her sein konnte, wenn er dieses oder jenes zu erwähnen vergaß, in Heft 14 auf Seite 50, in seiner sogenannten Kolumne. Und überhaupt, es gäbe doch wohl Wichtigeres auf der Welt als dieses hochwohlgeborene Gefasel. Die Redaktion war so nett, die meisten dieser Briefe nicht an ihn weiterzuleiten.
Der Vorwurf des Gefasels hatte ihn von Beginn seines Schreibens an verfolgt. Wichtigeres auf der Welt. In der Tat, das gab es. Er erlebte es...




