E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Scharnigg Die Besteigung der Eiger-Nordwand unter einer Treppe
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-455-81006-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-455-81006-6
Verlag: Hoffmann und Campe
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was ist zu tun, wenn vor der eigenen Wohnungstür ein fremdes Paar Herrenschuhe steht? Wenn man von drinnen seine Freundin und eine unbekannte Männerstimme hört? Der Journalist Nikol Nanz macht das, was er am besten kann: Er übt sich im Rückzug und richtet sich erst mal häuslich unter der Treppe ein.
In seinem Versteck unter der Treppe hofft Nikol ungestört an einem Text über die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand schreiben zu können. Aber die Arbeit gerät bald ins Stocken. Das liegt nicht nur an den ungelösten Rätseln um seine Freundin, mit der ihn bis dahin eine herrlich abgeschiedene Liebe verband. Es liegt auch am alten Schmuskatz, dem ehemaligen Gletscherfotografen und Bergkristallverkäufer, der ihn in seinem Versteck aufstöbert und zum Essen einlädt. Gemeinsam versuchen sie, die Trampelpfade einer Liebe nachzugehen und Nikol zurück in den zweiten Stock zu bringen ... Max Scharnigg lockt den Leser in eine verzauberte Wunderkammer und führt ihn auf verschlungenen Wegen die Eiger-Nordwand und schließlich auch das Treppenhaus hinauf.
"Ein bemerkenswertes Debüt, großartig komponiert." Hubert Winkels, Deutschlandfunk
Autoren/Hrsg.
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EINS Es war der erste Donnerstag im April, an dem ich die Wohnung nicht mehr betrat. Damals schrieb ich seit Wochen an einem Artikel über die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand, und auf der Stadt lag ein Föhn, der die Menschen unruhig machte und schnell. Ich verließ die Zeitungsredaktion als Letzter und fuhr mit der U-Bahn nach Hause. Auf der Fahrt stand ich in Nachbarschaft zweier Männer in auffälligen Jacken. Sie hatten die Krägen bis fast unter das Kinn geschlossen und sprachen, halb in die eigene Jacke, halb zu ihrem Gegenüber, vom kommenden Wochenende. Ich hörte, wie der eine gerade »Abends wird es doch sicher genial« sagte, als sich das Geräusch der schließenden Türen über alles legte. Auf dem mir zugewandten Rücken des anderen standen in Großbuchstaben die Worte »Mammut Extreme« aufgestickt. Als ich sie in Gedanken tonlos vor mich hin sagte, kam die Ansage des U-Bahn-Fahrers, sodass es wie »Mammut Extreme Stiglmaierplatz« klang. Von München aus war Anderl Heckmair mit seinem Freund Wiggerl nach Grindelwald geradelt, 1938 war das. Sie hatten direkt vor der Eiger-Nordwand ein Zelt aufgeschlagen, ein paar Tage auf Wetter gewartet, sich mit Ovomaltine gestärkt und waren eingestiegen, in Wollpullovern. Unterwegs kamen sie an dem berühmten Bergsteiger Heinrich Harrer vorbei, der mit seiner Seilschaft schon länger in der Wand herumstocherte. Die Burschen hängten sich Harrer hintendran, und zu viert durchstiegen sie die Wand. Auf der Terrasse der Kleinen Scheidegg standen damals die Urlauber in Kniebundhosen und beobachteten den Aufstieg durchs Fernglas. Als Heckmair auf dem Gipfel ankam, war seine größte Sorge, dass er für die kommende Nacht keine Unterkunft finden würde, denn Wiggerl und er hatten kein Geld mehr. Später musste er als Soldat an die Ostfront, danach wurde er Bergführer in Oberstdorf. Vor zwei Monaten, am ersten Februar, ist Anderl Heckmair, der großartige Bezwinger des Eiger, gestorben. Das war mein achtundzwanzigster Geburtstag. Ich war überarbeitet, M. hatte das gesagt, und es stimmte. Vor zwei Wochen hatte ich um Urlaub angefragt, aber keine Antwort bekommen. Vielleicht ahnten sie, dass es mir gar nicht um Urlaub ging. Mit Strandschirmen hatte ich nichts im Sinn. Was ich wollte, war eine freundliche Stille, wie sie auf einem kleinen Stadtfriedhof herrscht. Das schwebte mir als Urlaub vor, eine freundliche Stille, in der ich mich bewegen konnte. Am Rotkreuzplatz stieg ich aus. Die Jacken fuhren weiter in den breiten Vorstadtgürtel, wo Müllberge planiert und darauf Reihenhaussiedlungen errichtet worden waren. Ich ging nicht durch die Leonrodstraße wie sonst, sondern bog erst eine Straße später ein. Die Gehsteige waren feucht und sauber. Vor mir ging eine junge Frau, die von hinten wie M. aussah mit ihrem dunkelblonden Pferdeschwanz. Aber sie war etwas größer und trug braune Lederstiefel, in denen ihre Jeans verschwand. Sie hatte es eilig, wie ich auch. Wir waren vor etwas über zwei Jahren in das Haus an der Jutastraße gezogen. Es hatte geschneit damals, und die Heizung hatte nicht funktioniert, sodass wir die erste Woche frieren mussten und M. das Bett kaum verließ. Wenn ich aus der Redaktion zurückkam, machte mein Atem in den kahlen Zimmern Wolken. Die junge Frau vor mir bog ebenfalls in die Jutastraße ein, was mich beunruhigte. Die Straße war nicht lang. Tatsächlich verlangsamte sie vor meiner Haustür den Schritt und zog mit einer kleinen Bewegung ihre Handtasche vor den Körper, um darin nach dem Schlüssel zu suchen. Ich blieb stehen, was aber nur wenige Sekunden lang vernünftig aussehen konnte. Dann wandte ich mich nach links, durchquerte eine Garageneinfahrt hin zu einem kleinen Gittertor, an dem das Schild »Türe schließen« hing. Durch den Hinterhof des Nachbarhauses kam ich in unseren Hinterhof, der aus einer niedrigen Baracke für Mülltonnen und einem kleinen Garten bestand, in dem die Frau des Hausmeisters Hortensien pflanzte. Durch eine schwere Eisentür, die nur angelehnt war, betrat ich das Treppenhaus. Die Schritte der jungen Frau kamen von den hölzernen Treppenstufen über mir, während ich still stand. Sie hatte kein Licht angemacht, das Treppenhaus lag im Dunkeln, und das Dunkel roch ein wenig nach heißem Fleisch, denn es gab eine Metzgerei im Haus. Ich hörte, wie der Schritt der Frau einhielt und eine Tür aufgeschlossen wurde, ich vermutete, im dritten Stock. Wir wohnten im zweiten. Der Lichtschalter gab mir erst auf den zweiten Druck Licht. In unserem Briefkasten steckte noch die Zeitung, was bedeutete, dass M. das Haus heute wieder nicht verlassen hatte. Langsam stieg ich mit der Zeitung unter dem Arm die Stufen hinauf. In unserer Wohnung brannte Licht, das durch das Milchglas der alten Tür warm und gleichmäßig in das Treppenhaus schien. Am Fuß der Tür stand ein Paar Schuhe. Für gewöhnlich stellte niemand Schuhe ins Treppenhaus, abgesehen von den Gummistiefeln der Kinder. Es waren die Halbschuhe eines Mannes, die ordentlich neben unserer Fußmatte abgestellt waren. Sie hatten eine sportliche, schmale Form, waren aber keine Turnschuhe. Ihr blassgrünes Leder war an einigen Stellen rissig, das Innenleder war gelb, von oben konnte ich die dunkel verfärbten Abdrücke von Fußballen sehen. Die Schnürsenkel schienen mir zu lang. Es waren nicht meine Schuhe. Das Treppenhauslicht erlosch mit einem entfernten leisen Geräusch, ich stand im Dunkeln vor dem fremden Paar Schuhe an unserer Wohnungstür. Als wäre mit dem Licht auch ein Hintergrundgeräusch vergangen, wurde die Stille im Treppenhaus viel deutlicher. In einem der oberen Stockwerke mahlte eine Waschmaschine. Mein Magen brachte mit einem sauren Stechen das Unbehagen zum Ausdruck, das mich vor den fremden grünen Schuhen erfasste. Es gab keine Erklärung für diese Schuhe, M. hatte keinen Bruder noch Freunde, die unangemeldet zu Besuch kommen würden. Es hatte solche Freunde gegeben, sicher, aber sie waren über die Jahre gänzlich verschwunden. Das gelbe Schuhfutter war auch im Dämmerlicht gut zu erkennen. Von drinnen hörte ich Stimmen. Es sprach eine Frau, gedämpft, als spräche sie hinter zwei geschlossenen Türen, ich konnte nicht erkennen, ob es M. war. Die Stimme klang gelassen und sanft, als würde sie zu einem Menschen reden, der schon lange in einem warmen Raum sitzt. Die Männerstimme schien noch weiter weg, aber ich hörte deutlich die seltsam weichen, grolldunklen Silben, mit denen sie jedes dritte oder vierte Wort begann. Dann ging eine Tür auf, das Gespräch wurde lauter, ohne dass ich einzelne Worte verstehen konnte, weitere Türen gingen auf, beide Stimmen trugen sich nahe an mir vorbei. Ich hörte auf einmal direkt vor mir, wie von innen die Kette eingehängt wurde, jene Türkette, die von M. und mir jeden Abend in einer stillen Zeremonie benutzt wurde und ohne deren schützendes Klimpern wir nicht gänzlich zur Ruhe kommen konnten. Die Stimmen wurden wieder schwächer, sie umarmten sich im Entfernen, wie mir schien, rührten sich unter Lachen ineinander, bis schließlich die Klospülung alles rauschend übertönte. Wir hatten eine sehr laute Klospülung, das Wasser stürzte dabei aus fast zwei Metern Höhe von einem Sammelbehälter an der Decke in die Schüssel. Ich trat einen Schritt von der Tür zurück. Unverändert schien das Licht durch die Milchglasscheibe in das Treppenhaus, aber es hatte von seiner Wärme verloren. Von drinnen klang jetzt Geschirr, das aus dem Schrank genommen und auf den Tisch gestellt wurde, immer umgeben vom ruhigen Gespräch der beiden Stimmen. Ganz leicht ging auch ein Geruch nach warmen Zwiebeln durch den Türspalt. Ich stand etwas atemlos, den Schlüssel in der Hand. Mit einem entfernten Klicken sprang das Licht im Treppenhaus wieder an. Von unten hörte ich die Haustür schlagen und schnelle Schritte heraufkommen. Erschrocken wandte ich mich um, steckte den Schlüssel in die Manteltasche und ging hinunter, ganz so, als würde ich das Haus gerade verlassen. Auf dem Absatz der zweiten Treppe begegnete ich einem großen Mann. Er trug eine Brille mit modisch-dickem Kunststoffgestell und eine Hose ohne Gürtel, in der ein etwas mitgenommenes helles Hemd steckte. Wir nickten. Ich sagte zusätzlich Hallo, aber meine Stimmbänder waren trocken, sodass nur etwas wie Lo daraus wurde. Der große Mann lächelte im Vorübergehen, er war sehr schlank. Ich denke, er hat nichts bemerkt. Ich ging weiter nach unten, als wäre ich in einer Filmszene, die noch nicht zu Ende gespielt ist, ging bis zu den Briefkästen, die neben der Tür zum Keller an der Wand hängen. Vor unserem Briefkasten blieb ich stehen, als hätte unser kleines Namensschild dieselbe Funktion wie das Nummernschild auf einem Firmenparkplatz, als könnte ich hier parken und den Motor abstellen. Das Haus ist alt, es hat einen großen Eingangsbereich, über dem sich die Decke hoch wölbt. Die Wände sind bis zur Kinnhöhe mit blauen Kacheln verkleidet. Wieder ging das Licht aus, das Klicken der Zeitschaltuhr war jetzt ganz nah. Die Schritte des Mannes hatten sich jenseits des dritten Stocks verloren. Atmend nahm ich die Dunkelheit wieder an, die umfassender war als noch vor Minuten, als ich hier den Aufstieg der jungen Frau abgewartet hatte, die von hinten wie M. aussah. Ich schloss für einen Moment die Augen. Auf den Innenseiten meiner Lider blinkten die grünen Schuhe vor unserer Tür. Die Schuhe gehörten einem Mann, der in unserer Wohnung war und sich mit M. unterhielt, auch in diesem Moment. Sie deckten den Tisch und ließen die Klospülung rauschen. Irgendetwas war vorgefallen. Erst vor Stunden war ich in derselben Wohnung aufgestanden, hatte M. geweckt und, während ich mich vor dem Schrank anzog, mit ihr geredet, wie wir es jeden Morgen tun, in einem...




