E-Book, Deutsch, 258 Seiten
Schattschneider SIMULATIONEN - SCIENCE FICTION - WERKAUSGABE, BAND 2
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7554-2730-8
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ausgewählte Erzählungen und Kurzgeschichten
E-Book, Deutsch, 258 Seiten
ISBN: 978-3-7554-2730-8
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Peter Schattschneider gehört zu den großen »Unbekannten« in der Schiene der naturwissenschaftlich gefärbten Science Fiction, in seinen Spielformen von der Novelle über die ausgeprägt amerikanische Form der Novella bis zu den kürzeren Erzählungen, die jenseits des großen Teichs gern mit dem Etikett der Novellette ausgezeichnet werden. Der Band Simulationen enthält zwölf ausgewählte Erzählungen.
Autoren/Hrsg.
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Tiefschlaf
We’re starting to identify the mechanisms underlying neural code and make them programmable. [... This] will enable us to author ourselves and our existence in ways that were previously unimaginable. - Bryan Johnson, CEO of Kernel Company, 2017 Und wieder der Alptraum – laute Stimmen, Schreie, Motorengeräusch. Im Umdrehen sah er Menschen am Boden liegen, manche leblos, andere bewegten sich noch. Und er sah den Pickup näherkommen. Die Augen des Fahrers, wasserhelle Augen, fixierten ihn. Bill stieß Ann zur Seite, automatisch wie in der Ausbildung zog er die Waffe – anlegen, zielen, Schuss auf Schuss, bis das Magazin leer war, dann hechtete er zur Seite, weg von der Fahrspur des Angreifers. Der Pickup schlingerte, verfehlte ihn um Zentimeter, drehte nach links, krachte in die Mauer der Uferpromenade, keine zehn Meter entfernt. Der Motor heulte auf, der Wagen kippte, kippte wie in Zeitlupe, hing in der Mauer. Die Tür sprang auf. Der Fahrer blickte Bill an, lächelte. Es war ein freudiges, erlöstes Lächeln. Er griff nach einem Amulett, das an einer Halskette hing. Es sah aus wie ein Kreuz, rot vom Blut, das stoßweise aus einer Schusswunde am Hals quoll. Dann tastete er nach etwas in seinem dicken Mantel, der kein Mantel war. Und dann verschwand die Welt in Feuer und Schmerz. Die Traumreste waren gestochen scharf, wie es manchmal geschieht, wenn man aus dem Schlaf gerissen wird. Bill schielte nach der Uhr am Nachttisch, aber da war keine Uhr. Und da war kein Nachttisch. Er war nicht zu Hause. Ein fremdes Bett, gedämpfte Beleuchtung, an der Wand ein toter TV-Schirm, ein schlichter Tisch. Links ein Monitor, eine grüne Linie lief über den Schirm. Bip – bip tönte es im Rhythmus seines Pulses. Er stand vorsichtig auf, blieb auf der Bettkante sitzen. Der Fernseher erwachte. »Hallo, Bill!« Eine Krankenschwester lächelte ihm zu. »Hallo«, krächzte er zurück. »Wo bin ich?« Seine Stimme klang beschädigt. »Sie sind im Krankenhaus von Phantom City. Sie waren verletzt. Wir haben Sie in Tiefschlaf versetzt und das genetische Rekonstruktionsprogramm aktiviert. So wie es aussieht, sind Sie wiederhergestellt. Willkommen im Leben!« »Dann war das kein Alptraum.« »Erinnern Sie sich an etwas?« Er schloss die Augen. Die Alptraumbilder explodierten wieder gestochen scharf in seinem Kopf. »Ein Terror-Anschlag. Der Picku... die Uferpromenade. Die Explosion.« »Sie waren keine zehn Meter entfernt. Es war mühsam, Sie wieder zusammenzuflicken.« Er bewegte die Arme, betrachtete seine Hände, tastete über Hals, Brust und Schenkel. Er spürte sich, aber er war sich fremd. Als liefen Ameisen über die Stellen, die er berührte. Die Haut auf seinen Händen war merkwürdig glatt wie Plastik, das Muttermal am rechten Unterarm fehlte. »Die Explosion hat Sie voll erwischt«, erklärte die Schwester. »Wir mussten Ihre Extremitäten rekonstruieren, Ihre Haut war fast vollständig verbrannt.« Er bewegte verunsichert die Finger. »Sind das – Prothesen?« »Keineswegs. Das Rekonstruktionsprogramm hat Ihr Stammzelldepot genutzt, um die beschädigten Organe wiederherzustellen. Die Haut wird Ihnen fremd vorkommen, sie ist ja frisch wie bei einem Baby. Und die Nervenleitung ist gestört, aber das gibt sich.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte die Explosion überlebt. Dann fiel ihm Ann ein. Er sprang auf. »Meine Frau! Ist sie...?« »Ihre Frau lebt. Sie war schwer verletzt, sie schläft noch. Sie wird wieder gesund.« »Kann ich sie sehen?« »Morgen. Sie brauchen jetzt viel Ruhe.« Sie drehten ihn durch die medizinische Mangel. Röntgen, MR, EKG, EEG, Blutwerte, Nervenleitung, Motorik, Sensorik, audio-visuelle Wahrnehmung, Gleichgewicht, Kraft, Reaktionsvermögen... Er war vier Wochen im Tiefschlaf gelegen, während die lasergesteuerten Biobots das zerstörte Gewebe im 3D-Druckverfahren mit Hilfe fleißiger Stammzellen wieder aufbauten. Es war ein Terroranschlag nach Vorbild des Attentats in Nizza gewesen. Bills Eingreifen hatte viele Menschen gerettet. Vor seiner Entlassung durfte er Ann sehen. Sie lag in der Rekonstruktionsbox, wie Dornröschen schlief sie in einem gläsernen Sarg. Ihr Gesicht war friedlich-entspannt, sie schien unversehrt bis auf den fehlenden linken Unterschenkel. Laserscanner huschten über den Stumpf, an dem die Biobots von Phantom hurtig arbeiteten. Phantom City war der Sitz der Firma. Sie hatten bei der Stadtgründung keine Kosten gescheut, eine perfekte Infrastruktur zu schaffen, um die besten Mitarbeiter zu gewinnen. Die besten Ärzte, die besten Neurochirurgen hatten sich um ihn gekümmert und würden sich um Ann kümmern. Das Forschungszentrum war nur Minuten vom Krankenhaus entfernt. Kollegen gratulierten ihm, erkundigten sich nach Ann, sprachen ihm Mut zu, fragten vorsichtig, wann er denn wieder die Softwareentwicklung übernehmen würde. Es war ein gutes Gefühl, gebraucht zu werden. Ohne ihn lief nichts in der Firma, das war allen klar. Bryan, der allmächtige Boss, klopfte ihm auf die Schulter, was er noch nie getan hatte. Er hielt eine verkürzte Standardansprache – die Gründung von Phantom als Spin-off von Kernel, jenes Unternehmens, das einen Paradigmenwechsel in der Branche erzwungen hatte; der entscheidende Durchbruch mit den Terahertz-Lasern, der Fastbankrott nach dem Rückgang des islamistischen Terrors, Konsolidierung und Aufschwung, die harte Konkurrenz und das erklärte Ziel, Marktleader zu bleiben. Seit militante Sekten den Islamisten im weltweiten Terror den Rang abgelaufen hatten, boomte der Security- und Antiterrormarkt. Viele Newcomer nutzten die VR-Technologie, um ihre Sicherheitsleute und Eingreiftruppen zu schulen. Die Firma musste aggressiv akquirieren, um zu überleben. (Natürlich blieben manche Methoden unerwähnt. Es war ein offenes Geheimnis, dass Phantom illegale Geheimdienstsoftware zur Überwachung einsetzte. Und Bill kannte Phantoms größtes Geheimnis: Outgesourcte Todeskommandos liquidierten die Familien der Terroristen – eine der wirksamsten Abschreckungsmaßnahmen für potentielle Attentäter. Und er wusste, dass niemand wissen durfte, dass er das wusste. Zu gefährlich wäre ein solcher Mitwisser.) Am Ende der Ansprache erläuterte Bryan ein paar neue Ideen, die zu implementieren waren, sobald Bill sich dazu in der Lage fühlte – am besten gleich. Bill ersuchte jedoch, zuerst die neuen Kadetten für den Einsatz einschulen zu dürfen und dann ein paar Tage Urlaub zu nehmen, die er mit seiner Frau verbringen wollte. Bill war zufrieden. Von den Toten auferstanden gewissermaßen. Er war überglücklich. Wenn nur nicht das merkwürdige Ameisenlaufen auf den Armen und Beinen gewesen wäre, und das Gefühl, einen nassen Lappen zu quetschen, als Bryan ihm zur Begrüßung die Hand gegeben hatte. »Sie werden jetzt Ihre erste Trainingseinheit in der aktiven VR-Umgebung absolvieren.« Er betrachtete die Kadetten, die da wissbegierig und vor Enthusiasmus platzend vor ihm saßen. Zehn junge Kerle, die den Eingangstest geschafft hatten und ein Platoon bilden würden. Er nahm den Helm vom Pult – eine elastische anthrazitgraue Hülle aus sechseckigen Waben. »Dieses Ding« – er dehnte es wie eine Badehaube...«versetzt Sie in eine virtuelle Trainingsumgebung. Die Terahertz-Laser in den Waben stimulieren ihre afferenten Nerven durch das Schädeldach; Sie werden das Gefühl haben, in einer absolut realen Situation zu sein. Bisher haben Sie nur in einer Augmented Reality-Umgebung geübt, die Ihre reale Umgebung wiedergab. Im Aktivmodus befinden sich alle im gleichen virtuellen Raum. Sie werden alle Mitglieder des Platoons sehen und mit ihnen kommunizieren. Aus diesem Grund können Sie Ihren Avatar nicht selbst bestimmen. Jeder Avatar bildet seinen Besitzer ab.« Er holte weit aus und deutete auf die Fensterfront. »Erinnern Sie sich: Die Sonne schien durch dieses Fenster und warf an diesem Bildschirm einen exakt nach der Realität berechneten Schatten. Sie haben gelernt, sich mit Hilfe des VR-Helms in dieser Umgebung zurechtzufinden. Sie konnten alles beobachten, was Sie auch in Wirklichkeit beobachten würden, aber Sie konnten nichts verändern. Sie konnten durch diese Tür gehen, aber nicht durch die Wand. Diesmal ist es anders. Sie werden zum ersten Mal im Aktivmodus arbeiten. Sie können die Umgebung verändern. Sie können Wände sprengen« – seine Handfläche knallte gegen die Projektionswand...«Sie können Terroristen aufspüren und eliminieren. Sie werden heute die Burj Khalifa in Dubai schützen. Wir haben Hinweise auf einen geplanten Anschlag des KS.« Ein prüfender Blick zur Klasse zeigte ihm, dass keine langen Erklärungen nötig waren. »Der Turm hat eine Höhe von achthundertachtundzwanzig Meter. Allerdings werden Sie nicht auf die Nadelspitze klettern. Im Einsatz wird die hohe Aussichtsplattform wichtig sein. Und die ist in welcher Etage?« »In der hundertachtundvierzigsten«, tönte es mehrfach aus der Klasse. Bill war zufrieden. Sie hatten die höchsten Gebäude der Welt gründlich studiert. »Die Übungsannahme ist, dass mehrere Sprengladungen im Gebäude so gezündet werden, dass der Turm in sich zusammenbricht. Sie wissen nicht wo, aber sie können gewisse Bereiche ausschließen.« Die Klasse schwieg. Einige starrten scheinbar nachdenkend an die Decke, andere senkten den Kopf in ihr Tablet. »Ich gebe Ihnen einen Hinweis: Die Druckspannung hängt vom darüber liegenden Gewicht und von der lokalen Querschnittsfläche...