E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Scheerer Das Meer in meinem Zimmer
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7317-6183-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7317-6183-9
Verlag: Schöffling
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jana Scheerer, geboren 1978 in Bochum, lebt in Berlin. Nach ihrem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Medienwissenschaft arbeitete sie als akademische Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Potsdam. Sie war Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin und wurde 2004 für ihr erstes Buch Mein Vater, sein Schwein und ich mit dem Literaturpreis Prenzlauer Berg ausgezeichnet. Mein innerer Elvis wurde für den Kinder- und Jugendbuchpreis der Stadt Oldenburg nominiert und mit dem LUCHS ausgezeichnet.www.janascheerer.de
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3.
Pension Jolande steht groß in Pax’ geschwungenem Grün an unserem Haus. Und ich wünschte, ich wäre eine Urlauberin, ich wünschte ich könnte klingeln, einchecken und in einem der Fremdenzimmer die Tür hinter mir zuziehen.
Aber ich habe einen Hausschlüssel.
Es ist nicht zu leugnen: Ich wohne hier.
Also aufschließen. Obwohl wir nie einen einzigen Urlauber zu Gast hatten, riecht es im Erdgeschoss noch immer nach Pension. Der Geruch ist schön. An der Rezeption verstauben die Schlüssel und die alte Schreibmaschine. Ich sollte das alles mal wieder polieren.
Aber nicht jetzt.
Jetzt muss ich die Treppe nach oben steigen, durch die Bücherstapel links und rechts. Mit jedem Schritt wird der Pensionsduft schwächer. Auf der letzten Stufe riecht es nach Medikamenten, Pfeifenrauch, Farbe und altem Papier.
Ich bin da.
Die Wohnzimmertür quietscht und knarzt.
Im Türrahmen steht Constanze, einen Wollschal um den Hals, die Haare zu einem wirren Knoten gebunden. Sie sieht noch schmaler aus als sonst, ihre Augen noch dunkler als heute Morgen. Sie zittert. Sie schaut auf meine Füße.
Durch die Scheibe des Fensters hinter ihr winken mir die Bagger zu, die vor dem Haus den Deich erhöhen.
Sodass wir vor dem Meer geschützt sind.
Sodass wir das Meer nicht mehr sehen können.
Heute gefällt mir ihr Dröhnen. Es ist ein Gruß aus einer Welt, in der man Pläne macht, Aufträge erteilt, Anträge stellt und auf die Mittagspause wartet.
»Und?«, sagt Constanze leise.
Die Brille halte ich ihr genauso hin, wie die Krankenschwester sie mir präsentiert hat: Auf der flachen, ausgestreckten Hand.
»Es stimmt also?«
Nein, Pax schickt dir seine Brille als Lebenszeichen.
»Jolanda?«
»Ja, Mama, du siehst es doch!«
Constanze weicht zurück vor der Brille, ich trete auf Constanze zu, ich treibe sie mit der Brille ins Wohnzimmer hinein. Constanze geht rückwärts, Schritt für Schritt, dann klappt sie auf dem Sofa zusammen. Als hätte ihr jemand in die Kniekehlen geschlagen.
Klappsofa.
»Neiiiiiiin!« Sie rollt sich ein wie ein kleines Kind.
Ich knete in meiner Hosentasche einen zerknüllten Zettel. Vielleicht sollte ich ihn rausholen. Vielleicht steht darauf, was ich jetzt tun müsste, in alphabetischer Reihenfolge:
– Arme um die Mutter legen
– hin und her wiegen
– leise mit ihr reden
– Sachen sagen wie: Ist halb so schlimm, morgen sieht alles schon wieder ganz anders aus.
Nur stimmt das nicht. Es ist genauso, wie es aussieht, und morgen wird Pax genauso tot sein wie heute.
Tot.
Verstorben, verschieden, von uns gegangen.
Das, was ich Constanze zum Trost sagen könnte, steht nicht auf dem Zettel. Dass es gut ist, dass er gestorben ist. Dass er uns ein Leben lang terrorisiert hat mit seinen Verrücktheiten, seiner Lethargie und seinen Wutanfällen. Dass wir zum Schluss nicht mehr wussten, wie wir seine Pflege bewältigen sollten. Dass wir jetzt frei sind.
Wer auch immer solche beschissenen Zettel schreibt, weiß nichts, gar nichts.
Constanze heult.
Die Bagger heben ihre Köpfe über den Deich und blinzeln in unser Wohnzimmer.
Lilli ist da.
Sie schaut unsere weinende Mutter an. Ich wünschte, ich könnte Lilli unauffällig den zerknüllten Zettel reichen, dann würde sie die zwei Schritte zu Constanze hin machen, sie in den Arm nehmen und die Dinge sagen, die man jetzt sagen müsste. Lilli ist oft viel mutiger als ich, obwohl sie zehn Jahre jünger ist. Oder weil sie zehn Jahre jünger ist. Lilli wippt auf den Fußspitzen und sieht aus den Augenwinkeln zu mir herüber. Sie will den Zettel nicht.
Die Bagger stecken die Köpfe hinterm Deich zusammen und tuscheln.
Ohne dass man das in der Schule lernt oder von seiner Oma gesagt oder von seinen Eltern beigebracht bekommt, wissen Lilli und ich, dass es pro Familie nur einen zu vergebenden Ausrastplatz gibt. Wäre ich schneller gewesen mit dem Sprung auf das Sofa, es könnte vielleicht umgekehrt sein: Ich würde auf dem Sofa heulen, und die anderen beiden würden hier stehen und mir hilflos zuschauen. Wobei Constanze vermutlich nicht hilflos wäre. Sie hat jahrelange Erfahrung darin, mich zu trösten, auch wenn ich ihr nicht immer verraten habe, warum ich getröstet werden musste. Oft habe ich mich unter irgendeinem Vorwand von ihr in den Arm nehmen lassen. Und das hat immer funktioniert. Der Trost war wie ein Pflaster, das schließlich auch nicht wissen muss, was für eine Wunde es verschließt.
Natürlich habe ich Constanze auch manchmal getröstet, als Pax seine Arbeit verloren hat zum Beispiel oder als er sie betrogen hat. Aber um Constanze heute zu trösten, bräuchte es jemanden aus einer höheren Trostinstanz – oder zumindest aus einer Trostinstanz auf ihrer Ebene. Irgendeine Freundin, Schwester, Nachbarin oder was auch immer.
Das Telefon klingelt. Das müssen sie sein, die Freundinnen-Schwestern-Nachbarinnnen-Pastoren-Sozialarbeiterinnen-Kolleginnen-Schwägerinnen!
Lilli rennt auch los, aber ich bin schneller.
»Jolanda Jellerich.«
»Ist Pax Jellerich zu sprechen? Ich möchte ihm ein Angebot unterbreiten, dauert fünf Minuten maximal.«
Maximal.
Maximal postfinal.
»Das ist nicht mehr nötig.«
»Wenn schon ein Vertrag besteht, ist das kein Problem. Wir unterstützen ihn gerne bei einem Vertragswechsel.«
Vertragswechsel.
Abschiedszimmer.
Präfinal.
Postfinal.
»Mein Vater ist heute Morgen gestorben. Ex um drei Uhr dreiundzwanzig.«
Der Mann schweigt.
»Haben Sie verstanden?«
Der Mann schweigt.
»Er ist verstorben, verschieden, von uns gegangen, entschlummert, entschlafen und dahingefahren! Er wurde aus unserer Mitte gerissen! Er hat den Geist aufgegeben, die Augen geschlossen, seinen letzten Schnaufer getan und ins Gras gebissen! Er ist eingeschlafen, abgetreten, hopsgegangen und schaut sich demnächst die Radieschen von unten an! Verstanden?«
Tuten.
Constanze und Lilli sehen mich an. Ich feuere das Telefon in die Ecke.
»Verstanden?«
Lilli nickt.
Constanze heult.
Die Bagger schauen über den Deich und lassen dabei, um ihre Neugierde zu kaschieren, eine Schaufel Erde fallen.
Constanze zittert. »Verstorben, verschieden, von uns gegangen … wie kommst du denn auf so was, Jolanda?«
Ja, wie komme ich darauf? Wie sind diese Worte in meinen Kopf gelangt, wo sie bis heute auf ihren Auftritt gelauert haben? »Das … das ist aus einem Sketch. Den habe ich früher mal mit Pax angeschaut. Wir fanden das lustig.«
Das Telefon liegt in der Ecke und tutet leise vor sich hin. Ich schaffe es, mich zu Constanze aufs Sofa zu setzen, wenn auch in einiger Entfernung. Lilli hockt sich zu ihren Füßen und umarmt Constanzes Beine.
Constanze hört auf zu weinen. »Jolanda? Wir sind doch nicht schuld, oder?«
»Wieso schuld?«
»Aber wir sind doch nicht schuld, oder?«
»Woran sollen wir denn schuld sein?«
»Wir sind doch nicht schuld, oder?«
»Nein, wir sind nicht schuld. Auf keinen Fall.«
»Okay.«
Die Bagger dröhnen.
»Jolanda?«
»Ja?«
»Meinst du, wir sind schuld?«
»Mama!«
»Ja?«
Sie schaut mich an, als würde ich ihr gleich etwas sagen, was alles gut macht, was alles aufklärt und repariert. Ich suche mein Gehirn verzweifelt nach so einem Satz ab, aber da ist nichts.
Sie fängt wieder an zu weinen, sie ahnt wohl, dass ich ihr den Satz nicht liefern werde. Lilli schmiegt sich enger an ihre Beine. Wir brauchen Hilfe. Man muss jemanden anrufen. Aber wen? Wen kennen wir so gut? Wem kann ich uns in diesem Zustand zumuten? Verwandten. In so einem Fall ruft man Verwandte an. Auch wenn man sonst nicht mehr viel mit ihnen zu tun hat.
»Soll ich Onkel Jesper anrufen?«
Constanze sagt nichts.
Das Telefon in der Ecke tutet gleichmäßig.
»Ich rufe jetzt Onkel Jesper an, okay?«
Keine Antwort. Gut. Also vom Sofa aufstehen, in die Ecke gehen und das Telefon aufheben. Ist die Nummer im Verzeichnis? In meinen Ohren dröhnt mein Herzschlag im Rhythmus des Telefons. Wenn jetzt bloß das Rauschen nicht wiederkommt.
»Jellerich!«
Es ist Tante Ulla, die ihren Nachnamen immer so laut und deutlich verkündet, als müsste sie ihn gegen den Anrufer verteidigen.
»Hallo, hier ist Jolanda.« Und jetzt schnell, damit es auf jeden Fall herauskommt: »Meinvateristheutemorgengestorben.«
»Oh. Oh. Das tut mir leid. Das tut mir sehr leid. Jesper schläft noch. Aber ich richte ihm aus, dass du angerufen hast, in Ordnung?«
»Ja, danke, aber …« Aber was? Aber könnte der Tod seines Bruders nicht vielleicht einen Grund darstellen, Onkel Jesper zu wecken?
»Halt die Ohren steif, Jolanda, ich bin in Gedanken bei euch!«
Aber wir brauchen dich nicht in Gedanken, wir brauchen dich in Person!
»Fühlt euch umarmt!«
Wir wollen uns nicht umarmt fühlen, wir wollen umarmt werden! Stopp! Stoooopp!
Wieder Tuten.
»Kommen sie?«, fragt Lilli leise.
»Onkel Jesper schläft.«
Constanze nickt. Sie sieht erleichtert aus.
»Jolanda?«
»Ja?«
»Wir sind doch nicht schuld,...