E-Book, Deutsch, 196 Seiten
Scheible Herbstlaub im Frühling
2003
ISBN: 978-3-945410-03-5
Verlag: Bischoff, F
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Vater trauert um sein Kind
E-Book, Deutsch, 196 Seiten
ISBN: 978-3-945410-03-5
Verlag: Bischoff, F
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Ich schrecke schweißnass auf. Es ist noch dunkel. Mein Herz rast und stampft. Ich spüre mein Blut durch die Adern pulsen, schlage verwirrt die Bettdecke zurück. Der Schlafanzug klebt an mir. Ein Blick auf den Wecker: Fünf Uhr. Im Traum war ich bei einer Beerdigung. Ich weiß nicht, wo sie stattgefunden hat. Auch hat mir niemand gesagt, wer gestorben war. Der Schlaf ist verloren. Gedankenfetzen jagen durch den Kopf und beschäftigen mich. Warum das Hirngespinst einer Beerdigung? Ich liege auf dem Bett, spüre die Kühle des Morgens auf der Haut. Die Zeit bis zum Aufstehen wird lang, ich wälze mich ruhelos herum und hänge meinen Gedanken nach. Allmählich verblassen die Eindrücke des Traums, die Schemen weichen. Endlich Zeit, das Bett zu verlassen. Montag, der 12. August 1996!"
(Textauszug)
Noch ahnt Michael Scheible nicht, dass der 12. August 1996 zum bisher schlimmsten Tag in seinem Leben werden soll... Es ist der Tag, an dem Heiko, sein 9-jähriger Sohn bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben kommt und dessen zwei Jahre jüngere Schwester Sonja lebensgefährlich verletzt wird.
Packend erzählt der Autor, wie das unfassbare Geschehen über ihn hereinbricht. Er schildert seine Reaktionen auf die schockierende Nachricht und lässt die Leser an seiner Trauerarbeit teilhaben.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Der schlimmste Tag
Ich schrecke schweißnass auf. Es ist noch dunkel. Mein Herz rast und stampft. Ich spüre mein Blut durch die Adern pulsen, schlage verstört die Bettdecke zurück. Der Schlafanzug klebt an mir. Ein Blick auf den Wecker: Fünf Uhr. Im Traum war ich bei einer Beerdigung. Ich weiß nicht, wo sie stattgefunden hat. Auch hat mir niemand gesagt, wer gestorben war. Der Schlaf ist verloren. Gedankenfetzen jagen durch den Kopf und beschäftigen mich. Warum das Hirngespinst einer Beerdigung? Ich liege auf dem Bett, spüre die Kühle des Morgens auf der Haut. Die Zeit bis zum Aufstehen wird lang, ich wälze mich ruhelos herum und hänge meinen Gedanken nach. Allmählich verblassen die Eindrücke des Traums, die Schemen weichen. Endlich Zeit, das Bett zu verlassen. Montag, der 12. August 1996! Ferien für die Kinder und bald auch Urlaub für mich! Gerne gönne ich meiner Familie den Schlaf. Sie haben ja Ferien. Am Vortag waren wir wegen des Besuchs bei den Freunden alle spät schlafen gegangen. Der Regen trommelt gegen das Fenster. Ich stehe auf. Am Arbeitsplatz kommt der Albtraum zurück. Nichts läuft von der Hand. Überall Hektik. Die hohe Luftfeuchtigkeit lähmt mich und macht meinem Kreislauf zu schaffen. Ich komme mit der Arbeit nicht voran. Um 9.30 Uhr ruft mich meine Frau an. „Ich fahre jetzt doch noch zu meiner Schwester, eigentlich habe ich keine Lust. Ich hätte noch so viel zu tun vor dem Urlaub. Aber sie möchte uns noch einmal sehen, jetzt gehen wir eben. Und die Kinder freuen sich auf die Hasen, die sie heute sehen dürfen.“ In mir schreit es: „Fahre nicht!“ Ich würge die innere Stimme ab. Warum soll ich sie zurückhalten? Es spricht nichts gegen diese Fahrt – außer meinem unguten Gefühl. Ich kann es mir nicht verkneifen, sie zu ermahnen: „Pass bitte auf im Verkehr, es regnet. Kommt alle wieder gut heim, bis heute Abend.“ Selten habe ich meine Frau so erlebt. Sie macht auf mich einen niedergeschlagenen Eindruck. Liegt das am Wetter? Stehen wir heute alle neben uns? Warum geht es uns beiden gleich? Meine Gedanken quälen mich und führen mich immer wieder weg von der Arbeit. Ich kann mich nicht konzentrieren. Kurz nach zwölf Uhr läutet mein Telefon. „Guten Tag, sind Sie Herr Michael Scheible?“ „Ja, warum? Mit wem spreche ich?“ „Ich bin Stationsarzt im Kreiskrankenhaus. Ihre Frau ist bei mir. Sie hatte einen Unfall. Es ist ihr nichts Schlimmes passiert. Ich werde sie noch einige Zeit zur Beobachtung hier behalten. Morgen kann sie wieder nach Hause.“ Ich atme tief durch. Das kann doch nicht sein. Karussell der Gedanken. Zwinge mich, zuzuhören. Die Stimme am anderen Ende scheint auf einmal weiter weg zu sein. „Warum, ich verstehe nicht, ist sie verletzt?“ Um Gottes Willen, hoffentlich nicht! „Kann ich mit ihr reden? Warum ruft sie nicht selbst an?“ „Nein, das geht jetzt nicht. Sie ist im selben Raum und hört das Gespräch mit. Sie hat nur leichte Verletzungen und Prellungen. Bitte kommen Sie, wenn es möglich ist, bald hierher. Wissen Sie, wo das Krankenhaus ist?“ Die Klinik ist auf der halben Strecke, die meine Frau zu fahren hatte. Ich denke: Mensch, meine Kinder! Der sagt nichts. Mein Herz rast wie verrückt. „Bitte sagen Sie mir, was ist mit den Kindern, die im Auto meiner Frau mitgefahren sind?“ „Sie sind gut aufgehoben und wurden in die Universitätsklinik gebracht. Das Krankenhaus wird sich bei Ihnen melden.“ „In Ordnung, ich nehme mir frei und komme bald. Bis später, grüßen Sie bitte meine Frau.“ Ich lege den Hörer auf. Eine wahnsinnige Unruhe befällt mich. Was ist mit meinen Kindern, was kann ich nur tun? Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass sie in der anderen Klinik gut versorgt sind. Vielleicht war in dem Krankenhaus, welches meine Frau aufgenommen hat, kein Platz für alle und sie sind deshalb getrennt? Komisch. Ich grüble. Bin allein mit mir. Neuer Gedanke: Telefonauskunft. Frage nach der Nummer der Universitätsklinik. Ich war noch nie in jener Stadt, habe keine Ahnung, dass es dort zig Krankenhäuser gibt. Jetzt weiß ich es. Werde über die Zentrale mit vielen angeschlossenen Häusern verbunden. Frage nach meinen Kindern. Nenne ihre Namen. Beschreibe ihr Aussehen. Ihr Alter. Rufe hilflos ins Telefon, dass sie nach einem Unfall in irgendein Krankenhaus eingeliefert worden sein müssten. Mehr weiß ich ja nicht. Meine Gesprächspartner wissen es auch nicht. Ich frage mich durch viele Stationen des Klinikums. Endlich ein Treffer. „Ja, da ist ein Kind, wie Sie es beschreiben. Es wird gerade operiert, am besten, Sie kommen bald.“ Wieder Wegbeschreibung. Zitternde Hände. Angst. Warum nur ein Kind? Und das andere? Zum zweiten Mal lege ich auf. Meine Hände und Beine sind ganz kalt. Ich atme kurz. In meinem Kopf hämmert es. Alles dreht sich, mir ist schwindlig. Gut, dass ich sitze. Jetzt nur nicht aufstehen. Oh Gott, was ist da passiert? Hilf doch, dass meiner Familie nichts Schlimmes zugestoßen ist und alles wieder gut wird! Inzwischen ist Mittagspause und meine Kolleginnen werden aufmerksam, weil ich so lange telefoniere. Das bruchstückhafte Wissen befriedigt mich nicht, macht meine Angst noch größer. Ich versuche, bei der Polizei mehr über den Unfall zu erfahren. Das Polizeirevier, in dessen Zuständigkeitsbereich ich den Unfallort vermute, gibt mir die Auskunft: Die Unfallaufnahme wird von der Polizeidirektion übergenommen. Ich erfrage die Telefonnummer. Wenn sogar die Direktion dafür zuständig ist – da ist Furchtbares passiert! Ich versuche, den zuständigen Beamten zu erreichen. Wieder eine Odyssee am Telefon, niemand will mir Auskunft geben. Drei Mal werde ich weitergereicht. Endlich jemand, der mit mir redet. Sehr vorsichtig. „Es war ein sehr schwerer Verkehrsunfall.“ „Was ist mit meinen Kindern?“ Stille. „Es waren zwei Kinder im Wagen. Ich weiß, dass eines in der Uni-Klinik ist. Was ist mit dem anderen Kind? Warum sagt mir niemand, was los ist?“ Ich schreie es in den Hörer. Meine Stimme klingt so anders. Ich meine, nur noch aus einem dröhnenden Kopf zu bestehen. Spüre nichts mehr. „Das darf ich Ihnen nicht am Telefon sagen.“ „Sie dürfen mir alles sagen, ich halte mich für stark genug, alles ertragen zu können, was Sie mir sagen. Aber jetzt bitte die ganze Wahrheit.“ „Leider ist ein Kind bei dem Unfall gestorben. Eines ist schwer verletzt.“ „Welches Kind lebt noch?“ „Ich weiß es nicht.“ Meine Seele friert ein. Mir stockt der Atem. Die schlimmste Ahnung hat sich bestätigt. Wie ein Roboter lege ich den Hörer auf. Nach der dritten Hiobsbotschaft heute. Kurz darauf klingelt das Telefon. Es ist der Polizist, mit dem ich eben gesprochen hatte. „Wenn Sie sich auf den Weg zu Ihrer Frau machen, fahren Sie bitte nicht selbst. Haben Sie jemand, der Sie dort hinbringt? Das wäre gut.“ Ich lege auf. Meine Gedanken und Gefühle drehen sich im Kreis. Ich bin wie gelähmt, orientierungslos in der neuen Situation. Kann mich nicht zurechtfinden. Meine Zimmertüre ist nur angelehnt. Ich schreie: „Ich habe eben ein Kind verloren. Ich weiß nicht, ob es Heiko oder Sonja ist.“ Es bricht aus mir heraus, ich muss es allen sagen, die herbeistürzen und jetzt um meinem Schreibtisch herumstehen: „Heute Morgen bin ich aufgewacht, bevor der Wecker läutete. Ich war im Traum bei einer Beer digung. Als hätte ich es geahnt.“ Die Mitarbeiterinnen können es nicht glauben. Es ist so unglaublich hart, so gnadenlos traurig. Ich kann nicht weinen, bin wie in Trance. Funktioniere mit bebendem Inneren. Leere. Flucht. Nichts wie weg. Zweifle an mir selbst. Stimmt das eigentlich, was dir da eben gesagt wurde oder spielt dein Verstand verrückt? Mein Chef ist inzwischen von der Mittagspause zurückgekommen. Er ist sehr betroffen, die Kolleginnen weinen. Dankbar nehme ich das Angebot meines Arbeitgebers an, mich zu meiner Frau zu fahren. Der Weg ins Krankenhaus. Tausend Gedanken wirbeln mir während der nicht enden wollenden Fahrt durch den Kopf. Nicht auszudrücken. Angst: Wie wird dieser Tag weitergehen? Wie geht das Leben weiter? Was werde ich antreffen? Mit welchem Kind werden wir das Leben teilen, welches ist tot? Ich kann es mir einfach nicht vorstellen. In ihrem kurzen Leben waren sie unzertrennlich. Jetzt soll alles vorbei sein? Ich will glauben, es sei alles ein Traum und der grausame Spuk gleich wieder vorbei. Meine Nerven schützen mich, stellen die Realität in Frage. Im Auto rede ich endlos über die neue Situation. Mein Chef fährt. Er weint mit mir. Ich belaste ihn unendlich. Aber darauf kommt es eigentlich nicht mehr...