E-Book, Deutsch, 278 Seiten
Scheibner / Windmöller Von Behinderung befreit
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-17-045066-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inklusive Alternativen zur Sonderwelt bei Bildung, Arbeit und Wohnen
E-Book, Deutsch, 278 Seiten
ISBN: 978-3-17-045066-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inklusion ist ein Grundstein der demokratischen Gesellschaft, denn sie bedeutet vorbehaltlose Einbeziehung aller Menschen, ihre selbstverständliche Dazugehörigkeit und gleichberechtigte Teilhabe. Trotz internationaler, europäischer und deutscher Rechtsnormen werden Millionen BundesbürgerInnen an den gesellschaftlichen Rand gedrängt, darunter der große Bevölkerungsteil der Menschen mit erschwerenden Beeinträchtigungen. Sie werden als "behinderte" Personen benachteiligt und abgeschoben: in Sonderkindergärten, Sonderschulen, Sondertagesstätten und eine Sonderwelt aus Wohn- und Arbeitsstätten.
Den bedenklichen Mangel an sozialer Inklusion beschreiben Fachleute in diesem Buch aus eigenem Erleben. Zu ihnen gehören wissenschaftlich qualifizierte ExpertInnen mit jahrzehntelangen Praxiserfahrungen im Bildungs- und Sozialsektor, u.a. als Leitungsmitglieder in den "Werkstätten". Zwei Autoren wurden wegen ihrer Beeinträchtigungen in jungen Jahren behördenseits als "bildungsunfähig" und "erwerbsunfähig" abgestempelt. Trotz dieses staatlichen Kainsmals haben sie zeitlebens gegen die strukturellen Behinderungen mühsam, aber mit Erfolgen gekämpft. Hier beschreiben sie und die Fachleute aus Wissenschaft und Praxis ihre Erkenntnisse sowie die historischen, sozialen und politischen Zusammenhänge. Alle AutorInnen entwerfen konkrete Alternativen zu den zahlreichen deutschen Sondereinrichtungen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1 Die deutsche Geschichte ist eine Geschichte der Behinderungen
Wilfried Windmöller & Ulrich F. Scheibner Pädagog:innen, Politolog:innen und Soziolog:innen haben Behinderung nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu beseitigen. Folgt man der geschichtswissenschaftlichen Kontinuitätstheorie, lässt sich trotz der Zeitspanne von einigen Jahrhunderten ein Zusammenhang zwischen den unterschiedlichen Aussonderungseinrichtungen wie Gefängnissen, Armen- und Arbeitshäusern und den heutigen Sondereinrichtungen für als sozial unpassend bewertete Bevölkerungsgruppen finden. Obwohl sich die Gesellschaftsstrukturen und Regierungsformen, die sozialen Klassen und Schichten und deren Interessen in den verschiedenen Zeitabschnitten unterscheiden, gibt es dennoch Parallelen zwischen den historischen und aktuellen Absonderungsstätten. Dabei wird nicht übersehen, dass der Verlauf der Geschichte nach Foucault eine fundamentale Konstante beinhaltet: die »kontinuierliche Diskontinuität des historischen Wandels«. 1 Die Einzigartigkeit der geschichtlichen Ereignisse hängt mit der Einzigartigkeit der menschlichen Akteur:innen und der Einzigartigkeit der von ihnen geschaffenen oder vorgefundenen Bedingungen zusammen, unter denen gehandelt wird. Wenn sich geschichtliche Ereignisse mehr oder minder ähneln, sind das zufällige Ereignisse, die im Nachhinein von den Menschen als ähnlich konstruiert werden: Die sozial abgeschobenen Personen gelten nicht als ebenbürtig, gleichberechtigt und gleichwürdig. Das betrifft auch das Schicksal der Frauen: Zum Beispiel konnten sie in der Ehe erst nach 1957 - zumindest formalrechtlich - über ihr Leben selbst entscheiden. Die Kontroversen im Bundestag über den gesellschaftlichen Standpunkt »Die Frau gehört an den Herd!« hielten lange an.2 Alle isolierten Personengruppen unterliegen z.?T. massiven Benachteiligungen bis hin zur Bevormundung. Am Abschiebeort gelten gegenüber den regulären gesellschaftlichen Lebensbereichen besondere, zurücksetzende Normen, benachteiligende und unterdrückende Regeln. Die Abschiebeeinrichtungen verlieren im Verlauf ihrer Existenz den ihnen zugeschriebenen angeblich »heilsamen« Charakter, werden zu Diskriminierungs- und Disziplinierungsstätten.3 Alle separierenden Sondereinrichtungen geraten früher oder später in Konflikt mit der Finanzierungsbereitschaft ihrer staatlichen oder privaten Eigentümer:innen. Die Gründe dafür sind vielfältig: massiver Zuwachs an Internierten, dadurch wachsende Notwendigkeit weiterer Investitionen, steigende (Personal-)?Kosten, abnehmende Aussichten auf die definierten Erfolge, zunehmende Kritik am vermeintlich übertriebenen Versorgungsstatus (»Sozialneid«), wachsender Widerspruch innerhalb der Bevölkerung. Im 20. Jahrhundert wurden solche Sondereinrichtungen während der Nazi-Herrschaft in Deutschland zu Sammelstellen für den Transport in den Tod. Seit jenem Jahrhundert hatten separierende Einrichtungen und deren Auflösung in Frankreich, Italien und England zumindest vorübergehend schlimme Folgen für die darin untergebrachten Personen. In Großbritannien führte 2012 die staatlich beschlossene Auflösung der Sondereinrichtungen von »Remploy«, vergleichbar mit den deutschen »Werkstätten«, zu enormen Konflikten und Widerständen der Betroffenen, besonders ihrer Angehörigen. In Italien wurden die psychiatrischen Anstalten 1978 per Gesetz aufgelöst und deren Neueinrichtung verboten.4 1.1 Die Absonderung unpassender Menschen: Praxis seit Jahrhunderten
Bevölkerungsteile aus der sozialen Gemeinschaft auszusondern und auszuschließen, war und ist in staatlich organisierten Gesellschaften nichts Besonderes. Für eine solche Abschiebepolitik werden oft Sondereinrichtungen für die separierten Bevölkerungsteile geschaffen. Doch sind Absonderungsstätten keine Bedingung, um Menschen aus der sozialen Gemeinschaft zu entfernen. Zwar bedeutete und bedeutet Segregation von Bevölkerungsteilen nach wie vor deren räumliche und soziale Distanzierung, doch ist das nicht gleichbedeutend mit ihrer Kasernierung in eigens für sie geschaffene Gebäude oder Territorien. Typisch für nahezu alle an den gesellschaftlichen Rand Gedrängten ist deren gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit. Sie als Marginalisierte zu bezeichnen, trifft den Kern ihrer sozialen Situation.5 Die Folgen ihres Ausschlusses sind verallgemeinerbar. Dazu gehören u.?a.: 1. ein untergeordneter sozialer Status und ein geringes Ansehen; 2. ein nur schwacher oder fehlender Einfluss auf die soziale Umgebung; 3. reduzierte Rechte und mangelnde Gleichberechtigung bis hin zur faktischen Entmündigung; 4. benachteiligter Zugang zu wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen wie Bildung, Ausbildung und Kultur, gesellschaftlich organisierter Arbeit und öffentlichen Ämtern oder Leitungsfunktionen; 5. ein niedrigeres Einkommen aus gesellschaftlich verlangter Arbeit; 6. ungenügende, an Bedingungen geknüpfte oder ausbleibende materielle Unterstützung aus staatlichen Mitteln und 7. die Zuweisung spezieller, oft sehr begrenzter sozialer Lebensräume und die Beschränkung der Bewegungsfreiheit. Die gesellschaftlich bestimmenden sozialen Gruppen und jene, die sich an ihnen orientieren, entwickeln in jeder historischen Epoche die Welt- und Menschenbilder, die ihrer Vorherrschaft nützen und ihr Verhalten legitimieren. Die durch Bildungsdefizite, herabgesetzten sozialen Status, Leichtgläubigkeit und Abhängigkeit beeinflussbaren Bevölkerungsteile akzeptieren i.?d.?R. die schlüssig und wahr anmutenden Ideologien, die Abschiebung und Isolierung rechtfertigen. Auf diese Weise werden gesellschaftlich prägende und bestimmende soziale Leitbilder geschaffen, verfestigt und verbreitet (siehe Boeckh/Benz et al. 2015, 30?ff.). In allen differenzierten, nach Klassen und Schichten organisierten Gesellschaften finden sich in den vorherrschenden Leitbildern typische Merkmale, die den sozialen Ausschluss von Bevölkerungsteilen rechtfertigen wollen. Den Personengruppen, die an die gesellschaftliche Peripherie oder darüber hinaus abgedrängt sind, werden u.?a. folgende Kennzeichen zugeschrieben: Sie wären nicht anpassungsfähig oder anpassungsbereit; nicht lernfähig oder lernbereit; nicht bildungsfähig oder bildungsbereit; nicht eingliederungsfähig oder eingliederungsbereit; nicht gleichwertig oder gleichwürdig. Hinter solchen Attributen stecken Ideologien und idealisierte, die Sozialstrukturen rechtfertigende Menschenbilder, die den sozialen Status quo als »normal« oder gar gottgewollt darstellen. Damit sichern sich die bestimmenden Eliten im jeweiligen Zeitalter kollektive und persönliche Vorteile, Macht und Vorherrschaft.6 Es ist ein eklatanter Mangel, dass die Organisationen, die sich als »Anwälte« der Menschen mit Beeinträchtigungen präsentieren, das Menschenbild-Thema und seine politischen wie ökonomischen Fundamente immer noch vernachlässigen. Auch in den christlich geprägten Organisationen fehlt eine konsequent demokratische Praxis, die sich bedingungslos auf das Bekenntnis stützt, dass alle Menschen aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit die gleichen unveräußerlichen Rechte haben: gleichberechtigt, auf dem allgemeinen gesellschaftlichen Niveau mitten in der sozialen Gemeinschaft zu leben, zu wohnen und zu arbeiten; ihre Persönlichkeit frei und voll zu entfalten und ihre individuellen Fähigkeiten vollständig zu entwickeln und dafür die Bedingungen vorzufinden; an den gemeinsam gesellschaftlich erarbeiteten Werten gleichberechtigt teilzuhaben und einen Lebensstandard zu genießen, der dem erreichten Fortschritt entspricht; selbst und unmittelbar an der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen und politischen Verhältnisse teilhaben und auf sie einwirken zu können (? Kap. 1.4). 1.1.1 Drinnen oder draußen – dazugehörig oder ausgeschlossen
Das in der Soziologie häufig benutzte Modell, um die Sozialstruktur der Bevölkerung zu beschreiben, ist das sog. Klassen-Schichten-Modell. Es hat an Aktualität und Berechtigung nichts verloren. Doch spätestens seit den 1990er Jahren ist als Ergänzung ein besonders aussagefähiges Sozialmodell hinzugekommen, das Fachleute verschiedener Wissenschaften auf das Engagement der Kommission der Europäischen Gemeinschaft zurückführen – das Modell über die Ausgrenzung und Einbeziehung: Exklusion : Inklusion (dazu Geißler 2010). Dieses Modell ist geeignet, die gesamte sozioökonomische Situation und damit die...