E-Book, Deutsch, 173 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Scheier Luhmanns Schatten
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2016
ISBN: 978-3-7873-2999-1
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne
E-Book, Deutsch, 173 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-2999-1
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Claus-Artur Scheier (Jg. 1942) promovierte in seinen Studienfächern Medizin und Philosophie zum Dr. med. und Dr. phil., habilitierte sich 1979 und ist seit 1982 Professor für Philosophie an der TU Braunschweig mit den Schwerpunkten Klassische Philosophie, Deutscher Idealismus und antimetaphysisches Denken im 19. und 20. Jhd. Nach Kierkegaards Ärgernis (Freiburg 1983) und Nietzsches Labyrinth (Freiburg 1985) folgten mit Ecce auctor eine kommentierte Ausgabe der Vorreden Nietzsches von 1886 (Philosophische Bibliothek 422, Hamburg 1990), Wittgensteins Kristall (Freiburg 1991) und Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert (Hamburg 2000). Scheier ist Herausgeber von Friedrich Nietzsche: »Philosophische Werke in sechs Bänden« (Hamburg 2013). In der Blauen Reihe erschien 2016: Luhmanns Schatten Zur Funktion der Philosophie in der medialen Moderne.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Philosophie Sozialphilosophie, Politische Philosophie
- Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Westlichen Philosophie Westliche Philosophie: 20./21. Jahrhundert
- Geisteswissenschaften Philosophie Moderne Philosophische Disziplinen Dekonstruktivismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus
Weitere Infos & Material
SYSTEMTHEORIE UND PHILOSOPHIE
Das hat zwei Konsequenzen. Zum einen läßt Luhmann sich durch die Philosophie irritieren;118 zum andern versichert seine Theorie sich durch Heteronomisierung der Allonomie ihres wissenschaftlichen Status und versucht durch Hermetik (ES 37) zu kompensieren, was an Hermeneutik ausgeschlossen wird. Die Systemtheorie wirke wie eine Festung und sähe so aus, »als müsse man entweder hinein oder bliebe draußen und bleibe dann klugerweise draußen, denn wenn man erst einmal drinnen sei, finde man den Ausgang nicht wieder« (ebd. 342): »Die Theorieanlage gleicht also eher einem Labyrinth als einer Schnellstraße zum frohen Ende.« (SS 14) Das Labyrinth ist seit Nietzsche eine Metapher der Moderne,119 und die Klugheit des Draußenbleibenwollens schmeckt nach Nostalgie, dem Gegenteil von Philosophie. Deren Sache ist die Gegenwart und nur um ihretwillen die Geschichte. Darin ist sie mit der Systemtheorie einig:
»Es ist also eigentlich kein Exklusionseffekt gemeint, sondern ein Konstruktionsbewußtsein, ein Entscheidungsbewußtsein und auch ein Theorievergleich […] zur alteuropäischen Denkweise, zur Denk - weise einer ontologisch-metaphysischen Tradition und ihres spezifischen Humanismus.« (ES 342 f.)
Und sogar ein paar Schritte weiter – Luhmann selber hat das Beispiel gegeben und sich noch auf Derrida eingelassen (L1995c), den um drei Jahre Jüngeren, der kaum als Vertreter alteuropäischen Humanismus durchgehen dürfte. Unbestreitbar, »daß es die Methodenlehre nicht nur mit dem Mäusefraß der empirischen Daten zu tun hat, sondern durchaus auch Entscheidungen mit ihren Konsequenzen im Bereich der theoretischen Dispositionen durchsichtig machen kann« (ES 341 f.). Das mag »ein offenes Angebot an Philosophen bleiben, die bestimmten Texttraditionen verpflichtet sind, in deren Verwaltung ihre Kompetenz haben und daher ein gutes Urteil in bezug auf längst Bekanntes und schon Durchdachtes beizusteuern vermögen« (WG 531 f.). Es mag aber auch sein, erwägt Luhmann im Blick auf die analytische Philosophie und die von Quine in Two Dogmas of Empiricism problematisierte Unterscheidung analytisch/synthetisch,
»daß die Philosophie ihr Mitspracherecht nur dadurch begründen kann, daß sie erkenntnistheoretische Fragen als Vorfragen behandelt, die geklärt sein müssen, bevor man mit wissenschaftlichen Untersuchungen beginnt; oder auch als Fragen, die nicht ihrerseits durch empirische Untersuchungen geklärt werden können. Sie muß deshalb Unterscheidungen vorschlagen, in denen sie sich selbst placieren kann.« (WG, Vorwort, 7 f.)
Das hat die Philosophie allerdings und mit methodischer Notwendigkeit immer getan. Anderseits exzelliert die Supertheorie in »Fragen, die nicht ihrerseits durch empirische Untersuchungen geklärt werden können«, und ist darum zuversichtlich, die philosophische Domäne »mitbetreuen« zu können (L1987a, 55, SS 30). Danach scheint der Philosophie nur übrigzubleiben, entweder desperat auf ihren ehemals metaphysischen Status zu pochen, prôtê epistêmê, prima scientia, erste Wissenschaft zu sein (wie, in großem Stil, zuletzt Husserl), oder wenigstens irgendeine transzendentale Nische zu besetzen. Freilich, Daten müssen interpretiert werden, um als Fakten wissenschaftlich anschlußfähig zu sein, und im Unterschied zu den klassischen data verweisen die modernen Daten gerade nicht zurück auf einen Geber, sondern vor auf den Beobachter und seinen jeweiligen Standpunkt. Mag die Interpretation wie immer wissenschaftlich sein: Daß es einerseits empirische Daten gibt und anderseits deren Interpretationen, erscheint abermals als ein Datum, das nach Beobachtung zweiter Ordnung verlangt. Eine Beobachtung dritter Ordnung möchte dann leicht sehen, daß die Empirie dabei zwar wiederum nicht zugunsten irgendeines entzeitlichenden Apriorismus verabschiedet werden kann, wohl aber umorientiert werden muß auf Geschichtlichkeit: Seit wann ist das so, welche Umstände haben dazu geführt und welche Alternativen ergeben sich daraus?
Gewiß wäre es »leichtfertig«, die Hilfe der Philosophie »auf Grund ihres Namens« abzuweisen (WG 531 f.). Allerdings argumentieren Vertreter des Fachs »oft so, als ob die maßgebliche Unterscheidung jetzt wäre: Platon oder Aristoteles, Kant oder Hegel. Sie unterscheiden Texte« und scheinen damit »an einer Subjektreferenz festzuhalten« (WG 63). Derart wären nicht nur »Namen wie Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Heidegger, Wittgenstein« (ebd. Fn. 66) Subjektreferenzen, sondern ebenso Parsons, von Foerster, Maturana oder Spencer Brown. Man wird Luhmann nicht ansinnen wollen, er refereriere mit ihnen auf »psychische Systeme«. Scherzhafterweise unterstellt er das aber den »Philosophen«:120 »Würde man für ein psychisches System optieren, stünde man vor der Wahl: welches von den etwa fünf Milliarden? Und die Entscheidung könnte dann praktisch nur lauten: ich selber« – mit der fragwürdigen Alternative, entweder »Texte zu interpretieren oder selber zu denken« (ebd.). Gerade wie Luhmann im Fall von Spencer Brown ist es der Philosophie hingegen, wo immer sie sich zu Textinterpretation genötigt sieht, darum zu tun, argumentative Vorgaben einzuholen, und es geht ihr, statt um die ›Unterscheidung von Texten‹ (was immer das heißen mag), um die Unterscheidung von deren geschichtlich-argumentativen Orten, so schon in Platons Theaitetos und Sophistes und ausgefaltet in den aristotelischen Referaten des älteren Denkens (exemplarisch Metaphysik I.3–10).
Mit dem Selberdenken hat es bekanntlich die Bewandtnis, daß man nicht bei Null anfangen kann – und dann Wo? und Wie? Darum steht es mit den klassischen Texten nicht anders als mit Luhmanns Prätexten (und wieder mit Luhmanns Texten als Prätexten): Man kann sie verwalten, lernen, ihren Regeln zu folgen, ihr Sprachspiel zu spielen – »Eine Sprache verstehen, heißt, eine Technik beherrschen«;121 aber man kann durch sie hindurch auch ihren geschichtlichen Ort offenzulegen suchen. Und da man das nur vom eignen Claim her vermag, der als »blinder Fleck« dies Offene ist, verwandelt sich die Topographie der Strukturen, und man kann nicht nicht selber denken.
Dann aber erscheint das Verhältnis der Systemtheorie zur normalen Wissenschaft geradeso ambivalent wie das zur Philosophie. Wohl entbindet keine von beiden »von den programmatischen Bedingungen, den theoretischen und methodischen Einschränkungen, an denen die Wissenschaft Kommunikation als wissenschaftlich erkennt« (WG 531 f.), nur ist Kommunikation auf wissenschaftlichem Niveau nicht schon gleich Wissenschaft. Stellt sich die Frage, »wie das Wissenschaftssystem sich durch eigene Operationen beobachten, beschreiben, bestimmen, erklären kann, dann ist kein Zweifel, daß dies nur wissenschaftlich geschehen kann« (ebd.); aber die Folgerung »– oder andernfalls eben nicht im System geschieht« verdankt sich als irreführendes Tertium non datur dem Bedürfnis, die Theorie selbstreferenzieller Systeme nicht nur wissenschaftlich, sondern als Wissenschaft gesellschaftsfähig zu machen. Sie bliebe sonst, fürchtet Luhmann, »wissenschaftlich belanglose externe Beobachtung« (WG 532). Gesetzt aber auch, es würde gelingen, die Theorie als normale Wissenschaft unter normalen Wissenschaften zu installieren, bliebe immer noch abzuwarten, ob diese das Angebot annähmen oder unbekümmert ihren flexibel-normalistischen Weg weitergingen und in eigner Methodenregie und Terminologie zu vergleichbaren Resultaten gelangten. Im globalen Kommunikationssystem, in dem Wissenschaft eines unter vielen Subsystemen ist, liefe es aufs selbe hinaus, und die Systemtheorie erwiese sich ihrerseits als eine »Enklave« (WG 531).
In der Tat wird Luhmanns Frage weder im System noch nicht im System beantwortet, sondern in der Grenze des Systems, und er selber macht darauf aufmerksam. Das Verhältnis zur Philosophie ist nämlich nur
»die eine Seite der gegenwärtigen Problematik. Die andere besteht darin, daß selbstreferentielle Argumentationsformen in den Wissenschaften bisher nicht üblich gewesen, ja durchweg abgelehnt worden sind. […] / Nicht zuletzt liegt dies daran, daß unklar ist, ob und welche methodischen und theoretischen Freiheiten erlaubt oder sogar geboten sind, wenn es zu Forschung über Forschung oder zum Beobachten und Beschreiben von Beobachtungen und Beschreibungen der Wissenschaften kommt. Oder anders gesagt: Die Reflexion der Wissenschaft als Operationsweise und als System muß sich von dem, was sie beobachtet und beschreibt, unterscheiden – oder anders wäre sie selbst keine Beobachtung bzw. Beschreibung. Sie hat Wissenschaft zum Gegenstand. […] Ihr Vorgehen muß alle logischen, theoretischen und methodischen Merkmale von Wissenschaftlichkeit aufweisen und muß trotzdem Wissenschaft über Grenzen hinweg beobachten können – und zwar nicht nur einzelne Forschungen, sondern Wissenschaft überhaupt. Sie ist mithin Dasselbe und nicht Dasselbe, Dasselbe und etwas anderes als normale Wissenschaft. / Eine Paradoxie also!« (WG 531 ff., m. H.)
Das Verhältnis von Wissenschaft, Systemtheorie und Philosophie sieht danach so aus: Die Wissenschaft muß auffällig werdende Paradoxien nach dem Axiom vom verbotenen Widerspruch invisibilisieren; die Systemtheorie macht sie sichtbar als die Grenze von Wissenschaft und depotenziert sie, um sich selbst diesseits der Grenze zu positionieren; die Philosophie hat ihren Ort in dieser Grenze und verläßt ihn weder in...