Scheuer Die Sprache der Vögel
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-406-67746-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 238 Seiten
ISBN: 978-3-406-67746-5
Verlag: Verlag C. H. Beck GmbH & Co. KG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Paul Arimond kommt 2003 als Sanitäter der Bundeswehr nach Afghanistan, in ein Land, das auch schon sein Vorfahr Ambrosius einst, auf der Suche nach der Universalsprache der Vögel, wegen seiner reichen Tierwelt bereist hatte. Auch Paul, geplagt von Schuldgefühlen nach einem Autounfall, den er mit verursacht hat, liebt es, Vögel zu beobachten und Aufzeichnungen über sie zu machen. Sie scheinen nach einer anderen Ordnung und mit anderen Freiheiten zu leben. Inmitten einer zunehmend gefährlichen Bedrohungslage beginnt Paul immer unberechenbarer und anarchischer zu handeln.
Norbert Scheuers mit zahlreichen Zeichnungen versehener Roman über einen fragilen Vogelliebhaber führt mitten ins Herz der Verstrickungen, aus denen das rätselhafte Leben seiner bewegenden und einzigartigen Figuren besteht.
Autoren/Hrsg.
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Mein Urahn Ambrosius Arimond glaubte, alle Vögel unserer Erde besäßen eine gemeinsame Sprache. Sein Leben lang beschäftigte er sich mit der Entschlüsselung ihrer Gesänge, einer Welt magisch klingender Töne, Zeichen und Bedeutungen. Jede Vogelart und ihr individueller Gesang waren für Ambrosius Buchstaben eines kryptischen Alphabets. Die Vogelgesänge soll er in einer selbst erdachten Schrift aufgezeichnet haben. Das Flugbild der Vögel, das für jede Art charakteristisch ist, war in dieser Sprache die Grammatik, der Himmel ein lapislazuliblaues Pergament, das den ganzen Erdball umspannte und bis zur Stratosphäre reichte, wo Mauersegler sich im Flug liebten. Seine Forschungsreisen führten den jungen Ambrosius fast überallhin, seinen Berichten zufolge überquerte er anno 1776 die Alpen, gelangte nach Venedig, segelte von dort übers östliche Mittelmeer, er folgte der Seidenstraße bis nach Akkon, dem alten Ptolemais, reiste weiter nach Palästina, mit Karawanen durch Wüsten, am Euphrat entlang, immer weiter Richtung Osten, über entlegene Hochgebirge, durch Persien bis ins heutige Afghanistan. Vater hatte uns oft von Ambrosius erzählt, dessen Aufzeichnungen zum größten Teil in den napoleonischen Kriegen verloren gegangen wären, nur ein paar vergilbte Pergamentpapiere sollten noch irgendwo in einer alten Holzkiste in einer Scheune liegen, handgeschriebene Seiten, auf denen er von seiner Reise durch Persien berichtet hatte. Ambrosius sei schließlich wieder in unser Dorf zurückgekehrt, habe von unbekannten Vogelarten erzählt und von Menschen mit Zephyr-Seelen, die mit Ornithoptern und selbstgebauten Drachen von den Gipfeln des Hindukusch aus hoch über dem Land im Luftmeer geschwebt seien. Ich weiß nicht, was an diesen Geschichten wahr ist, ob Vater selbst daran geglaubt hat. Jedenfalls liebte er es, uns davon zu erzählen. Hinter dem Hindukusch sei das Land der Vögel, sagte er, es gebe dort vielleicht mehr Vogelarten als in ganz Europa, ja in der ganzen westlichen Welt, das liege am einzigartigen Blau des Himmels. Montag, 14. April 2003, Afghanistan, Airport
Sanitätsobergefreiter Paul Arimond,
IV. Infanteriebataillon
Über dem staubigen Rollfeld flattern Elstern. Diese asiatische Art hier hat einen schmalen, grünlich glänzenden Flügelsaum und langes bronzefarbenes Schwanzgefieder, sie ist eine Nuance größer als unsere heimische Art (Pica pica germanica). Es soll hier fünf verschiedene Unterarten geben. Zuletzt hatte ich in Lüneburg auf dem Kasernengelände Elstern gesehen; sie hockten krächzend in der Krone einer Zitterpappel, während wir uns im Schulungsraum auf unseren Afghanistaneinsatz vorbereiteten. Die Elstern am Rollfeld zanken sich um ein Küken, das sie wahrscheinlich aus einem Nest geraubt haben. Sie fliegen auf, ihre Flügel wirbeln im grellen Licht. Während sie an dem Tierchen zerren, blitzen ihre schwarz-weißen Schwingen in verblüffender Schönheit auf, dann stolzieren sie schnatternd mit wippendem Gang umher wie Ratsherren. Ich ziehe meine Splitterschutzweste an, schultere den Rucksack, marschiere mit Kameraden an hohen Barrikaden mit Stacheldraht vorbei. Die Sonne brennt, mein Helm rutscht auf meiner verschwitzten Stirn. Die Umgebung flimmert in phantastischen Brauntönen. Pulvriger Staub von der Farbe fein zerriebener Eierschalen, Felsbraun und das Braun rötlicher Steine, niedrige Büsche, tamariskenartige Bäume, deren Nadelblätter pastellfarben leuchten, winzige Sandkörnchen, die sich auf meine Lippen und Augenbrauen legen; geblendet kneife ich die Augen zu und öffne sie kurz darauf wieder. Die Elstern sind verschwunden, für sie gibt es keine Zäune oder Absperrungen. Als wir im Bus vom Flugplatz zu unserem Lager fahren und ich neugierig durch die getönten Scheiben das Gewimmel der Stadt betrachte, frage ich mich, wo die Elstern hier ihre Nester bauen. Sie hier zu wissen, ist eine tröstende Erinnerung an Zuhause. Dienstag, 15. April 2003
Am Abend im Lager, noch im provisorischen Zelt, schreibe ich einen Brief an Jan. Wir sind seit unserer Jugend Freunde, haben uns aber niemals Briefe geschrieben – wir konnten uns immer treffen und miteinander reden, wieso sollten wir uns schreiben? Seit unserem Unfall spricht Jan nicht mehr, jedenfalls nichts, was man als Sprechen bezeichnen könnte, er plappert nur verworrenes Zeug, es sind seltsame, beängstigende Laute, die niemand verstehen kann, selbst seine Mutter Odette weiß nichts damit anzufangen. Sie ist oft hilflos, wenn sie ihn so hört, und die Ärzte sagen nur, Jan habe einen irreversiblen Gehirnschaden erlitten. Bei dem Unfall sind seine Schädelknochen gebrochen und ins Gehirn gedrückt worden, das linke Auge ist lädiert. Er kann sich an nichts mehr erinnern. Ich weiß nicht, ob Jan versteht, was ich ihm aus Afghanistan schreibe, will nicht glauben, dass jetzt alles in seinem Gehirn vergraben ist, all die gemeinsamen Ideen und Erlebnisse. Ich möchte Jan so in Erinnerung behalten, wie er vor unserem Unfall gewesen ist. Nach dem Abitur hatten wir vor zu studieren, ich wollte reisen, die Sprache der Vögel lernen, und Jan sollte mich auf meinen Reisen begleiten. Wir phantasierten, lachten darüber, weil wir wussten, wie verrückt das alles war, nicht mehr als ein Traum. Ich versuche Jan zu erklären, warum ich zur Bundeswehr gegangen und Sanitäter geworden bin, wieso ich mich freiwillig für den Einsatz in Afghanistan gemeldet habe. Ich beschreibe ihm die Umgebung hier, berichte von meinen Kameraden, mit denen ich im Feldlager zusammenlebe, vom See in der Nähe des Lagers und von all den Vögeln, die ich bislang beobachtet habe. Nach dem Unfall lebte ich monatelang wie in einem Vakuum, wartete ab, was geschehen würde. Mein ganzes Leben war sinnlos geworden, ich lag grübelnd auf meinem Bett oder lief ziellos herum, nichts interessierte mich mehr. Ich wollte mit niemandem über das reden, was passiert war, auch mit Theresa nicht. Ich spürte, ich würde auch sie verlieren, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich wollte nicht mehr studieren, wie ich es ursprünglich vorgehabt hatte, bemühte mich auch nicht um Arbeit oder einen Ausbildungsplatz. Ich stritt oft mit Mutter, versuchte sie zu überzeugen, dass es sich nicht lohne, etwas Neues anzufangen, da ich ohnehin bald zum Militär einberufen würde. Mittwoch, 16. April 2003
Unser Feldlager ist eine umfriedete Siedlung mit Zeltunterkünften, Schlaf- und Verwaltungscontainern, einer Bar, einer Pizzeria, einem Einkaufszentrum und einer Poststelle, sogar ein Kapellchen gibt es. Soldaten aus vier Nationen sind im Lager stationiert. Als ich ankomme, scheint das Camp bereits völlig überfüllt, denn monatlich kommen neue Kontingente. Am ersten Tag erledige ich mit anderen Neuankömmlingen die notwendigen Formalitäten, ein Offizier weist uns auf Sicherheitsbestimmungen hin und erzählt von Sprengstoffanschlägen, Raketen würden mehrmals in der Woche vom zerklüfteten Hochland aus aufs Lager abgefeuert, richteten allerdings selten Schaden an, sie schlügen nur im Gebiet außerhalb des Lagers ein. Beim Rundgang grüßen uns Kameraden, die auf Klappstühlen vor ihren Wohncontainern hocken, unter den als Sonnenschutz aufgespannten Tarnnetzen hören sie Musik. Zwischen den Containern haben einheimische Arbeiter Schotterwege angelegt. Die meisten Flächen im Lager sind geschottert, um zu verhindern, dass die lästigen Wüstenmäuse sich im Lager ausbreiten. Nachmittags werden Passfotos für die Sicherheitsausweise gemacht, ohne Ausweis darf sich niemand im Lager aufhalten. Das Passbild zeigt mich bereits mit kurzgeschorenen Haaren, fast alle im Lager lassen sich ihre Haare schneiden und Bärte wachsen. Ich erkenne mich auf dem Foto zunächst nicht, erschrecke, glaube, mich vollkommen verändert zu haben. Doch dann sehe ich den kleinen Höcker auf meinem Nasenrücken. Als Kind bin ich gegen eine Glastür gelaufen und habe mir dabei das Nasenbein gebrochen. Während unseres Rundgangs finde ich eine Vogelfeder. Ich streiche sie glatt und lege sie in mein Notizbuch – meine erste hier gefundene Feder. Es gibt in diesem Land viele mir unbekannte Arten, dieser Vogel wird ungefähr so groß wie eine Meise gewesen sein. Die Feder ist durch die intensive Sonneneinstrahlung ausgebleicht. Samstag, 19. April 2003
Zu Hause ist jetzt Ostern. Theresa erwähnte, es würde in der Eifel seit Karfreitag wieder schneien. Sie rief mich gestern überraschend an. Während wir telefonierten, saß sie im Regionalzug nach Gerolstein. Ich habe Theresa so lange nicht gesprochen, daher war ich glücklich, ihre Stimme zu hören. Sie erzählte, sie sei in Kall gewesen, um Jan zu besuchen. Danach habe sie im Café des Supermarktes auf den Zug gewartet. Mutter, die wieder im Café als Bedienung arbeitet, habe ihr meine Telefonnummer gegeben. Theresa redete von Jan und ihrer Arbeit auf dem Gestüt in der Nähe des Maares. Sie hatte immer Pferdewirtin werden wollen, sie...