E-Book, Deutsch, Band 6840, 256 Seiten
Reihe: HERDER spektrum
Scheurl-Defersdorf Deutlich reden, wirksam handeln
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-451-82596-5
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wie Kinder das Leben entdecken
E-Book, Deutsch, Band 6840, 256 Seiten
Reihe: HERDER spektrum
ISBN: 978-3-451-82596-5
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kinder kommen mit einer angeborenen Lebensfreude und Neugierde auf die Welt. Sie haben Freude am Lernen und sind bereit, die Welt zu entdecken. Kinder wollen sich ernst genommen und geachtet fühlen. Dafür brauchen sie eindeutige Aussagen, Regeln und Grenzen. Eine klare, wertschätzende Sprache und achtsames Handeln ermutigt Kinder und stärkt sie in ihrer Entwicklung. Die Autorin Mechthild R. von Scheurl-Defersdorf zeigt, worauf es ankommt – in vielen anschaulichen Beispielen und praktischen Tipps für den Alltag.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Raum für sich selbst Kinder brauchen Freiräume mit klaren Begrenzungen Klare Regeln und Grenzen geben Kindern Sicherheit Kinder brauchen klare Regeln und klare Grenzen. Sie fühlen sich erst dann sicher, wenn sie die klaren Grenzen spüren, ohne die sie im weiten Raum verloren wären. Regeln sind für die Kinder Grenzmarkierungen. An ihnen können sie sich orientieren. Je besser sie schon allein zurechtkommen, desto weiter können Eltern diese Grenzpflöcke stecken. So wächst der Freiraum allmählich mit dem Kind. Wenn ein Kind die Grenzen nicht eindeutig erkennen kann, dann muss es jeden Tag von neuem prüfen, ob es Grenzen gibt und wo die Grenzen sind. Es will sich auf sie verlassen können. Eltern, die ihren Kindern keine eindeutigen Grenzen aufzeigen, überfordern damit ihre Kinder und machen sie hilflos. Sie geben ihnen keinen Halt. So werden auch die Kinder haltlos. Sie sind dann außer Rand und Band und benehmen sich auch so. Im Grunde ist ihr Fehlverhalten ein Hilferuf. Sie fordern auf diese Weise Grenzen und Regeln ein. Auch hier zeigt die Unart, wo das Kind Hilfe und Führung braucht. Eltern erkennen diese unterschwellige Botschaft ihrer Kinder oft nicht. Sie täten gut daran, sich Gedanken zu machen, ob sie ihren Kindern klare Regeln gegeben haben und ob sie sich dafür einsetzen, dass sie diese Regeln auch einhalten. Oft werden Eltern genau in diesen Augenblicken laut und schreien ihre Kinder an: „Könnt ihr nicht endlich ruhig sein …??!“ Dabei stellen sie eine Frage. Die ist in diesen Momenten jedoch fehl am Platz. Was sollen die Kinder da sagen? Oft erreichen Eltern ihre Kinder mit ihrem Wortschwall nicht einmal. Sie sind erregt und aufgebracht. Das ist in der Situation verständlich. Doch ist es notwendig, sich zu fragen, warum diese Situation entstehen konnte. Wenn die Kinder erst einmal außer Rand und Band sind, dann haben sie schon lange die Grenze überschritten. Die Eltern haben den Augenblick verpasst, in dem die Kinder die Grenze erreicht und überschritten haben. Die Kinder brauchen einen Hinweis, kurz bevor sie die Grenze erreichen. Da sind die Eltern auch noch nicht wütend. Zum Anschreien kommt es erst, wenn die Kinder dauernd die Grenze überschreiten und schließlich ganz wörtlich zu weit gehen, also die Grenze noch weiter hinter sich lassen. Dann haben sie den Freiraum verlassen, in dem sie sich frei bewegen dürfen. Das bringt Ärger und auch Gefahr. Grenzen haben einen Sinn, auch wenn die Kinder diesen Sinn noch nicht immer erfassen können. Sie müssen den genauen Sinn auch nicht immer erfassen können. Dafür sind sie Kinder. Ich habe Eltern erlebt, die in dem Augenblick, als ihre Kinder eine Regel missachtet haben, klar und deutlich „Grenze“ sagten. „Philip, – Grenze! Ziehe erst deine Schuhe aus und stelle sie ins Schuhregal. Dann darfst du hereinkommen.“ Die Stimme war dabei freundlich. Es war einfach eine klare Ansage. Für manche Kinder ist es schwieriger als für andere, sich an Grenzen zu halten. Kinder, die rein körperlich ihre Grenzen nicht deutlich erfahren, haben es auch in ihrem Sozialverhalten mit Grenzen deutlich schwerer. Dazu gehören Kinder mit Wahrnehmungsstörungen. Sie müssen erst lernen, ihren Körper eindeutig zu spüren. Auch die Geburt durch einen Kaiserschnitt kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. Der natürliche Geburtsvorgang ermöglicht jedem Kind eine äußerst intensive körperliche Erfahrung. Kaiserschnitt-Kinder haben hinsichtlich des Erfahrens ihrer körperlichen Grenzen oft einen Nachholbedarf. Ihnen tut alles gut, was ihre Sinne und ihr Körpergefühl stärkt. Das ist die eine Seite, die es einem Kind erleichtert, im Alltag Grenzen zu respektieren. Es gibt noch eine zweite Seite: Ein Kind kann sich an die von seinen Eltern und anderen Erwachsenen und auch Kindern vorgegebenen Grenzen wesentlich leichter halten, wenn es erfährt, dass auch sie seine Grenzen respektieren. Dies geschieht oftmals nicht ausreichend. Eltern, die sich als eine Einheit mit ihrem Kind fühlen und sich mit seinen Erfolgen, Misserfolgen und auch Bedürfnissen identifizieren, vermitteln ihrem Kind damit, dass es keine Grenze zwischen ihnen gibt. Jedoch gibt es vom Augenblick der Geburt an bei aller innigen Nähe eine natürliche Grenze zwischen den Eltern und ihrem Kind. Wenn Eltern diese Grenze annehmen können und ihr Kind als ein eigenständiges Wesen sehen, dann erleichtern sie es ihm ganz wesentlich, sich auch im Alltag an Regeln und Grenzen zu halten. Das ist mein Bereich, und das ist dein Bereich Eltern kommen mit dem ganzen Aufzeigen von Regeln und Grenzen leichter klar, wenn sie in ihrer Vorstellung für sich und für das Kind jeweils einen eigenen Bereich, einen eigenen Freiraum schaffen. Dieser Freiraum hat klare Grenzen nach oben und unten, nach vorne und hinten und nach den Seiten. Er ist so groß, dass der Mensch, der in seiner Mitte steht, seine Hände nach allen Seiten ausstrecken kann. Der ganze Raum, den er mit seinen Händen erreichen kann, ist sein persönlicher Freiraum. Ein Kind ist kleiner als ein Erwachsener. Daher ist der Freiraum, in dem es sich bewegt, kleiner als der Freiraum eines Erwachsenen. Diesen Freiraum nimmt jeder auf Schritt und Tritt mit sich mit, und der Freiraum wächst mit seinen Fähigkeiten. Dieser Freiraum ist nur dann da, wenn der Erwachsene oder das Kind ihn als solchen empfindet. Sie müssen ihn sich erst aneignen und von ganzem Herzen auch innerlich erlauben. Dann steht er ihnen zur Verfügung, und niemand wird in diesen Bereich ungefragt eindringen und die Grenze überschreiten. Der Freiraum hat nur dann diese Wirkung, wenn derjenige sich seines persönlichen Freiraums auch bewusst ist. Dieses Gefühl eines eigenen Freiraums strahlt er dann aus. Seine innere Freiheit und die Grenzen sind auch für andere fühlbar. Ich biete im Rahmen meiner Seminare gelegentlich eine Freiraum-Übung an. Dafür stellt sich jeder an einem Platz auf, der groß genug ist, dass er sich dort mit ausgebreiteten Armen im Kreis drehen kann. Dann dreht er sich langsam um die eigene Achse und fühlt den Raum, den er dabei mit ausgebreiteten Armen einnimmt. Gleichzeitig sagt er: „Das ist mein Bereich.“ Für manche Teilnehmerinnen, insbesondere junge Mütter, ist es neu, sich einen eigenen Freiraum zu schaffen. Sie glauben, dass sie mit dem Anspruch auf einen eigenen Freiraum egoistisch seien, und wagen es anfangs kaum, ihre Arme auszubreiten. Sie winkeln die Arme an und schaffen einen möglichst kleinen Raum. Die Vorstellung, dass ihr Kind sich auch einen solchen Freiraum schaffen kann, tut manchen beinahe weh. Sie fühlen sich von ihm abgeschnitten und glauben, dass sie es schutzlos allein lassen. In Wirklichkeit engen sie es aber ein, wenn sie weder sich noch ihm Freiraum gewähren. Den meisten Teilnehmerinnen, denen es so ging, war es nicht bewusst gewesen, dass sie selbst sich keinen Freiraum erlauben und dass sie sich ihrem Kind am liebsten ganz nah fühlen. Ihnen wurde mit einem Mal die Enge bewusst, die sie dadurch erzeugten. In diesem Augenblick eröffnete sich ihnen ein neuer Blickwinkel. Von jetzt an hatten sie die Wahl, ob sie so weiter machen wollten wie bisher, einschließlich der permanenten Grenzüberschreitungen der Kinder, oder ob sie sich bewusst für den jeweils eigenen Freiraum von Mutter und Kind entscheiden wollten. Es ist einsichtig, dass Kinder die Grenzen, die ihre Eltern ihnen setzen, erst dann respektieren können, wenn auch die Eltern diese natürliche Grenze beachten. Diese Übung braucht eine regelmäßige Wiederholung über einen Zeitraum von einigen Wochen, bis sie ihre dauerhafte heilsame Wirkung entfalten kann. Durch das tägliche Wiederholen dieser Übung führen sich die Eltern immer wieder neu den eigenen Freiraum und den Freiraum des Kindes vor Augen. Das Gefühl, dass es diese Freiräume gibt, muss dabei allerdings tief im Herzen ankommen. Ein bloßes Nachsprechen und eine bloß gymnastische Armbewegung haben keine Wirkung. Eine Mutter hatte binnen weniger Wochen mit dieser Übung eine großartige Erfahrung gemacht. Veronika hatte diese Übung daheim gemeinsam mit ihren drei Kindergarten- und Grundschulkindern gemacht, die sie begeistert mitmachten. Gelegentlich machen sie auch weiterhin diese Übung. Für Kinder ist es ein Leichtes und eine Freude, sich einen Freiraum zu erlauben. Jetzt stand sie strahlend und selbstbewusst da und zeigte, wie sie die Übung macht: „Ich stelle mich hin und breite meine Arme aus und sage jedem: ‚Das ist mein Königreich.‘ Und dann schaue ich jedes einzelne Kind an und sage: ‚Und das ist dein Königreich.‘ Ich hab ihnen erst gezeigt, wie die Freiraum-Übung geht, und dann ist das daraus entstanden. Wir sind alle Könige und Königinnen, und wir haben alle eine Krone auf. Unsere Haare sind unsere Kronen. Und wir besuchen uns. Keiner kommt auf die Idee, am anderen herumzumeckern. Wir haben einfach gute diplomatische Beziehungen miteinander. Seit ich auch den Freiraum der Kinder so erlebe und wir uns alle als Könige empfinden, kann ich die Kinder mit ihren eigenen Erfahrungen noch viel besser achten. Seitdem sind sie viel selbständiger geworden. Das ist wirklich offensichtlich. Und ich habe endlich mehr Zeit für mich.“ So geht Leben: Die Mutter verschaffte sich mehr Freiraum und befasste sich in Gedanken und auch gefühlsmäßig mit mehr Freiraum. So schuf sie ihre Wirklichkeit. Sie erntet, was sie gesät hat: Freiraum. Es ist gut für Kinder zu erleben, wie einfach das ist. Tipp für den...