E-Book, Deutsch, 239 Seiten
Schindhelm Lavapolis
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-95757-051-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 239 Seiten
ISBN: 978-3-95757-051-2
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lavapolis ist eine mögliche Insel im Mittelmeer, ein Gegenort. Ihre Bewohner, die Michael Schindhelm in diesem faszinierenden, vielstimmigen, literarischen Gedankenspiel zum Sprechen bringt, sind Gestrandete, Hoffnungsjäger, Enttäuschte und Visionäre. Alle treibt ein latentes oder offensichtliches Unbehagen an der Gegenwart um. Hier berichten sie von ihrem neuen Leben auf der Insel, sich widersprechend, einander zustimmend. In einer anderen Welt wären sie vielleicht Feinde, auf Lavapolis aber sind sie Teil eines Projekts, in dessen Zentrum die Möglichkeit steht, unterschiedlichste Lebensentwürfe zu verwirklichen, die sich dank dieses politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Experiments unaufhörlich erneuern. Michael Schindhelm entwirft mit Lavapolis eine mögliche Zukunft, einen Ausweg aus der scheinbaren Einbahnstraße nach dem Ende aller Utopien und der Diktatur des Wirklichen, und stellt die Frage: Was ist möglich?
'Lavapolis' ist Ausgangspunkt eines großen Projekts, das seine Fortsetzung im realen Leben mit Stationen u.a. im Europäischen Parlament in Straßburg und auf der Biennale in Venedig findet und auf der Website lavapolis.com zu verfolgen ist.
Geboren 1960 in Eisenach, ist Autor, Kulturforscher und Theaterindendant. Sein facettenreiches, internationales und zunehmend cross-mediales Engagement inspirierte zuletzt das Tagebuch 'Dubai Speed'. Die literarische Intervention 'Lavapolis' setzt Schindhelms breit gefächerte Aktivitäten als Kulturvisionär und Grenzenüberschreiter künstlerisch um.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1Die Landung
Simone 1
Die Städte, in denen wir geboren worden sind, gibt es nicht mehr. Die Städte, in denen wir leben, ganz gleich, wo wir leben, sind die Zeugen unserer Naivität. Unseres Glaubens an eine bessere Welt. Sie sind die Laboratorien unserer Selbstversuche. Die Schauplätze unserer Selbstüberwindung. Wir sind die Vorhut. Wir teilen mit jeder Vorhut, von einer neuen Wahrheit geleitet oder von einem neuen Irrtum verleitet zu werden. Wir werden nicht erfahren, ob sich der Weg gelohnt haben wird. Alberto 1
Meine Familie gehört zur ersten Generation von Zuwanderern. Der griechische Großvater war Maat auf der Attiki gewesen, dem Schiff der ersten Expedition, und wurde später Staatsbürger mit dem Pass Nummer Siebenundneunzig. Die andere Linie meiner Familie stammt aus Tanger und ist sephardischer Herkunft. Die meisten von ihnen sind Anfang der Sechzigerjahre vor den wütenden Arabern nach Paris geflüchtet. Mein Vater nahm auf der Insel eine Stellung als Französischlehrer im damals neu gegründeten Lyzeum an und heiratete ein Jahr später die Tochter meines griechischen Großvaters. Es gibt gute Gründe, warum wir uns – wie viele Immigranten der ersten Stunde – dem Hause Messinis gegenüber zu tiefem Dank verpflichtet fühlen. Im Vergleich zu dem sozialen Elend und der politischen Unruhe ringsum in der mediterranen Welt wirkt die Insel wie eine Schutzzone. Eine inzwischen ziemlich stabile Schutzzone. Das ist nicht immer so gewesen. Unsere Lebensumstände lassen sich aus einer ungewöhnlichen Landesgeschichte ableiten, in der zwei Menschen die entscheidende Rolle gespielt haben: Fürst Theodore und dessen Sohn Faidon Messinis. Stellen Sie sich vor, es ist gerade ein Weltkrieg zu Ende gegangen, das Land steht am Abgrund eines neuen militärischen Konflikts und Ihre Familie, deren Oberhaupt Sie sind, besitzt eine Insel, die fünfhundert Jahre lang von einem Vulkan verwüstet worden ist. Jetzt ist er erloschen. Streng genommen sind Sie staatenlos und verfügen über ein Haus und ein Kontor in einem unbedeutenden Nest in der Ägäis und über sechs durchschnittlich fünfundzwanzig Jahre alte Frachtkähne, die unter der Flagge eines Landes fahren, das von den Amerikanern gerade befreit worden und politisch wie wirtschaftlich völlig erschöpft ist. Sie nähern sich zum ersten Mal der Insel, immerhin von der Größe Maltas, im tiefen mediterranen Graben zwischen den Küsten Kretas, Siziliens und der libyschen Küste gelegen. Von Ihrem noch einigermaßen hochseetauglichen Dreimaster Attiki aus sehen Sie den erloschenen Berg, die Lavaketten und endlose Macchie. Zwischen zwei Herbststürmen lassen Sie ein Boot zu Wasser und landen an. Das Maultier, das Sie mitführen, bringt Sie zu einem Felsen, von dessen Spitze aus Sie die Insel überblicken. Im ersten Moment sind Sie erschrocken. Wie weit es zum anderen Ende ist! Außer einer öden Steinwüste und den hier und da fahl vor sich hin qualmenden Aschefeldern nur stachliges Grün. Keine Siedlung. Schwefelgestank durchsticht die Luft. Es gibt keine Menschen. Nicht einmal Spuren von jenen, die hier einmal gelebt haben, entweder um Sklaven zu verkaufen oder um als Sklave verkauft zu werden. Ratlos starren Sie auf den schiefergrauen Plafond, der sich konturlos bis zum Horizont zieht. Da haben Sie die Vision einer sich in geringer Flughöhe nähernden Douglas Globemaster. Ehe Sie diese Vision verdrängen können, legt sich ein massiges Brummen über die Insel. Sie sehen den fünfeckigen Stern an der Flanke … Dem späteren Fürsten Theodore Messinis, im Volksmund bald Patron genannt, kam in diesem Moment eine Idee, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr losließ: Die Insel sollte ein Stück Amerika werden. Das ferne mächtige Land würde seinen Segen über dieses Eiland bringen, aus der Luft, über das Wasser, und er, Theodore Messinis, würde diesen Segen in dauerhaften Wohlstand verwandeln. Gut möglich, dass er anfangs andere Pläne hatte als jene, die er schließlich realisierte. Seine Amerikabegeisterung hatte an sich nichts mit Las Vegas zu tun. Messinis war ein Reeder, kein Spieler. Außerdem war er Republikaner, der als junger Mann die kurze Zeit der Ikarischen Republik erlebt hatte. Casinos und Tourismus sollten Vehikel sein, um die amerikanische Zivilisation auf seine Insel zu locken, mehr nicht. Vor den Croupiers und den Touristen nahmen aber erst mal die Bosse und einige Beauftragte des Pentagon die noch menschenleere Küste in Augenschein. Theodore Messinis handelte mit politischen und diplomatischen Mandaten oder mit riskanten Investitionen. Wohl auch aus Sorge vor dem möglichen Aufkommen eines mediterranen Kommunismus anerkannten die USA seinen Status als Fürsten, nachdem er ihnen weitreichende Rechte zur Stationierung von Militärbasen eingeräumt hatte. Der griechische Bürgerkrieg verwüstete das Festland. Die Briten auf der einen, Tito und Stalin auf der anderen Seite, standen sich beinahe direkt gegenüber. Die Insel bekam für die Amerikaner eine strategische Bedeutung. Die Truman-Doktrin und die folgenden militärischen Operationen auf dem griechischen Festland haben vermutlich die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, rasch Hilfe zu leisten, wirksamer befördert als die Beteuerungen des Inselherrn, er werde aus dieser Ödnis einen tüchtigen Kleinstaat machen. Aber genau das ist ihm – gemeinsam mit den Einwanderern der ersten Stunde – gelungen, und darauf sind viele von uns stolz. Der Patron rührte auf dem Festland die Trommel, um Kolonisten für sein Projekt zu gewinnen. Bis Mitte der Fünfzigerjahre meldeten sich vor allem Kriegsflüchtlinge. Nach zwei Jahren zählte die Bevölkerung schon mehr als tausend Bewohner. Den Anrainerstaaten aller Himmelsrichtungen war dieser unerwartete neue Zwerg selbstverständlich ein Dorn im Auge. Den ausländischen Investoren ging es nicht schnell genug mit dem Geldverdienen. Die neue Verwaltung war vom Tempo der Ereignisse überfordert. Gesetze wurden meist erst erlassen, nachdem etwas schiefgegangen war. Zum Beispiel starben Arbeiter auf der Baustelle. Ausländische Journalisten verschwanden. Europäische Länder erließen Einreisestopp für nachgezogene Familien. Oder es wurden viereinhalb Kilo Heroin von Interpol in einer Höhle am Vulkan Bouno geborgen. Oft genug wird Patron Theodore zwischen allen Stühlen gesessen haben, und vielleicht war diese Position sogar bequemer als die am Verhandlungstisch mit den amerikanischen Bossen. Die ersten Touristen waren US-Soldaten und Offiziere, die auf dem Meer, in Italien oder Deutschland stationiert und auf ein Rat Pack Revival und ein paar Delirien aus waren. Später kam Europas neue Bourgeoisie, gefolgt von der alten Aristokratie, die prompt das Dinnerjacket einführte. Wenn die Fischer mit ihren Netzen und Lampen auf See gingen, zogen die Spieler in die Salons. Jeder kam auf seine Kosten. Und ließ genügend Federn, mit denen sich die Insel weiter schmücken konnte. Man hat dem Patron Verbindungen zur Cosa Nostra nachgesagt. Die Dokumente im Staatsarchiv bestätigen nichts dergleichen. Die Insel der frühen Jahrzehnte mag auf den ersten Blick wie eine Kopie von Monaco oder Liechtenstein ausgesehen haben, jedoch mit einer stärkeren angloamerikanischen Investorenpräsenz. Ich teile die Auffassung vieler Inselbewohner, dass an Theodore Messinis’ Casino-Kapitalismus nichts zu belächeln ist. Dieser Ur-Fürst hat in wenig mehr als dreißig Jahren über hunderttausend Menschen zu einer neuen Heimat verholfen und dieser Heimat zu Prosperität, während der Nachbar Libyen dem islamischen Fundamentalismus, Griechenland einer Militärdiktatur und Italien der politischen Korruption zum Opfer fielen. Er hat den schwankenden Boden seiner Frachtschiffe gegen das anfangs nicht minder schwankende Fundament seines Fürstentums eingetauscht. Lange hielten sich Gerüchte, dass der Bouno nur vorübergehend erloschen sei. Messinis ließ sich nicht beirren. Schon auf dem Höhepunkt seines Erfolgs, in den frühen Siebzigerjahren, soll Patron Theodore persönlich Vertrauten gegenüber die Vermutung geäußert haben, dass seine Vision eines mediterranen Amerika einem neuen, noch radikaleren Plan weichen müsse. Ihm selbst fehlten dazu inzwischen Kraft und Idee. Niemand hätte beides seinem Sohn Faidon zugetraut, der damals am Collège de France bei Michel Foucault Vorlesungen besuchte. Haruko 1
Aus der Ferne sah es aus wie ein Ein-Prozent-Reservat. Der Nobelstrand für Leute, mit denen man nichts zu tun haben wollte. Nicht, wenn man zu den 99 Prozent gehört. Wie ich zum Beispiel. Vor eineinhalb Jahren habe ich mal wieder in Deutschland Fuß zu fassen versucht. Berlin natürlich. Mir wäre nicht im Traum eingefallen, das könnte die Zwischenstation sein, von der aus es auf die Mittelmeerinsel eines Fürsten geht. Mein deutscher Vater lebt mit seiner neuen Frau aus der ehemaligen DDR in einem Stalinblock am...