Schlatter | Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

Schlatter Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor

Erzählung
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-99039-047-4
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Erzählung

E-Book, Deutsch, 160 Seiten

ISBN: 978-3-99039-047-4
Verlag: Limbus Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Gustav Julius Kaufmann will „das Weite suchen", als er am Tag seines 32. Geburtstages Stadt und Arbeitsplatz einfach hinter sich lässt, um sich hinter Glattbrugg, Rümlang, Oberglatt, Niederhasli, Dielsdorf, Ober- und Niederweningen in die Büsche zu schlagen, immer Richtung Westen.

Auf nach Maliaño! Nach Maliaño und zu Ida Nordpol Zeppelin, deren Stimme er bereits aus dem Weltempfänger kennt, wo sie verkündet hat: „Das ist eine meteorologische Sensation. Ich sehe es auch auf dem Radarbild ganz deutlich. Das sind die Vorläufer eines Hochdruckgebiets, und das Hochdruckgebiet kommt von Osten. Es sieht beständig aus und ist eigentlich gar nicht möglich. Ich nenne es Gustav."
Mit traumwandlerischer Sicherheit wird Gustav sein Maliaño erreichen und dort vielleicht erfahren, was ihm eigentlich bestimmt ist: eine wundersame wetterbedingte Liebes-geschichte.

Die Neuauflage der seit einiger Zeit vergriffenen Preziose Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor soll Gelegenheit bieten, diese wunderbar poetische Erzählung (wieder) zu entdecken.

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I (Vorauszuschicken ist: Das Land, in dem Maliaño liegt, ist sehr flach. Mit Ausnahme des Hügels, auf dem Maliaño liegt. Mit anderen Worten: Stellt man sich das Land, in dem Maliaño liegt, als Reliefkarte vor, dann könnte man diese Reliefkarte auch umdrehen und als Filmleinwand benutzen. Der Hügel, auf dem Maliaño liegt, würde dann im Film als eine Art Loch erscheinen. Vorauszuschicken ist weiter: Am Morgen des 21. Juni 2002 war die S-Bahn gut besetzt. Am Bahnhof Hardbrücke stieg eine hochschwangere Frau mit zwei Kindern zu. Sie setzten sich zu dritt Gustav Julius Kaufmann gegenüber. Das heißt, eigentlich waren sie zu fünft. Doch davon später. Die Frau sah südländisch aus, hatte halblange, dichte schwarze Haare und große schwarze Augen. Ihre Nase war ein wenig schief und mit Sommersprossen bedeckt. Die Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hatten beide dieselben großen schwarzen Augen. Gustav Julius Kaufmann fiel auf, dass die Kinder genau gleich groß waren, vermutlich Zwillinge. Zweieiige. Vorauszuschicken ist schließlich, dass der Käferbergtunnel zwischen den Zürcher Vorortbahnhöfen Hardbrücke und Oerlikon exakt zweitausendeinhundertneunzehn Meter lang ist und dass eine Durchfahrt unter normalen Bedingungen rund eine Minute und zwölf Sekunden dauert. Am Morgen des längsten Tages aber blieb die S-Bahn mitten im Tunnel stehen. Kurz darauf ging das Licht aus. Die hochschwangere Frau fluchte auf Spanisch. Gustav Julius Kaufmann senkte den Blick, um einer Gewohnheit gemäß die Schlagzeile der Zeitung auf seinen Knien zu lesen, merkte dann, dass Lesen in dieser Dunkelheit keinen Sinn hatte, und blickte wieder geradeaus, in die Dunkelheit in Richtung der Frau. Und stellt man sich das Ganze als Film vor, auf der umgedrehten Reliefkarte, dann würde spätestens jetzt der Titelschriftzug erscheinen.) Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor Die Stimme aus dem Lautsprecher sagte: „Oerlikon.“ Der Zug fuhr aus dem Tunnel hinaus und hielt an. Gustav Julius Kaufmann zuckte unmerklich mit der linken Augenbraue, blieb bewegungslos sitzen und fuhr weiter, zur Stadt hinaus, über Glattbrugg, Rümlang, Oberglatt, Niederhasli, Dielsdorf, Steinmaur, Schöfflisdorf-Oberweningen, Niederweningen Dorf und schließlich nach Niederweningen, stieg aus, ließ die Zeitung ungelesen in den Papierkorb fallen, lockerte die Krawatte, verließ den Bahnhof und hielt sich anschließend und von da an ausschließlich und schnurgerade Richtung Westen. (Dass Gustav Julius Kaufmann an diesem Freitagmorgen zwar wie gewohnt um 7.21 Uhr in Pfäffikon am Zürichsee, gegenüber von Rapperswil, in die S-Bahn gestiegen war, nicht aber wie gewohnt um 8.13 Uhr in Oerlikon ausstieg, lag eigentlich am Wetter und hatte auch zu tun mit Gustav Julius Kaufmanns Radio. In erster Linie aber ist diese Geschichte zurückzuführen auf Ida Nordpol Zeppelin.) Eine Tafel mit einer stilisierten Landschaft, durch die ein weißes Band führte als Symbol einer Straße, die sich in der Unendlichkeit verlor, hieß Gustav Willkommen im Aargau. Auf dem gelben Wanderwegweiser stand Uf der Nurren 2 Std. 10 Min., Oberschneisingen 25 Min., Lägeren 1 Std. 10 Min. Gustav folgte zunächst der Hauptstraße. Ein Rennradfahrer in gebückter Haltung und grellgelbem Trikot kam ihm entgegen. Autos brausten vorüber. Er überquerte die Straße und bog ab. Er folgte dem Waldrand. Auf einem rotweißen Plastikband, das den Weg entlang gespannt war, stand in drei Sprachen Achtung Holzschlag. Er kam zu einer Weggabelung. Hinter einem Stromleitungsmast sah er die Kirche von Oberschneisingen. Sie schlug acht Uhr. Er hörte eine Fliege, einen Buchfink, einen Lastwagen von Weitem. Zwei Abfalleimer standen an der Wegkreuzung, darüber ein Hundekotbeutelhalter mit der Aufschrift Bravo. Gustav betrat den Wald. Angenehme Kühle umfing ihn. „Maliaño“, sagte er vor sich hin, „stelle ich mir auf einem Hügel vor. Häuser durchaus ein paar Dutzend, Bäume dazwischen, am Horizont, besehen von der Ebene aus. Dann ein Turm, ein Kirchturm, beleibt, romanisch wahrscheinlich, rundlich, aber nicht protzig, irgendwie karg, mit Sicherheit alt und nicht zu übersehen, am Horizont, besehen von der Ebene aus. Eine Eiche daneben, eine Bank am Fuß der Eiche. Und am nördlichen Dorfrand das Haus mit der Antenne.“ Nach wenigen hundert Metern kam er wieder aus dem Wald hinaus. Der Blick reichte weit in die Landschaft. Die Dampfsäule aus dem Kernkraftwerk Leibstadt stieg kerzengerade in den Himmel. Er zog das Jackett aus und band es um die Hüften. Das Krawattenende steckte er zwischen zwei Knöpfe des Hemdes. Er hob den Kopf, als würde er eine Spur wieder aufnehmen, und ging weiter. (Gustav Julius Kaufmann trug nebst dem Jackett auch einen Regenmantel mit sich, obwohl es mitten im Sommer war. Mehr dazu später.) Frau Lenherr stutzte. „Neuenschwander Treuhand, Lenherr“, hatte sie gesagt, gefolgt von „Herr Kaufmann? Gern, einen Moment, ich verbinde“, die Kurzwahl von Herrn Kaufmann gedrückt und dann klingeln lassen. „Sind Sie noch dran“, hatte sie nach fünf Mal Klingeln gesagt, „es tut mir leid, Herr Kaufmann ist momentan nicht erreichbar, wollen Sie eine Nachricht hinterlassen, ja, versuchen Sie es am besten später noch einmal, danke, auf Wiederhören, Herr Meyer.“ Dann stutzte sie, schaute auf die Uhr, es war 8.07 Uhr. Dann schaute sie wieder aufs Telefon, als würde es gleich klingeln, und rief, ohne den Blick vom Telefon abzuwenden, „Liliane, hast du den Kaufmann schon gesehen heute?“ – „Nein“, rief es zurück, „wird wohl Verspätung haben mit der S-Bahn.“ – „Kaufmann hat nie Verspätung“, sagte Frau Lenherr vor sich hin, schüttelte den Kopf, schrieb auf den Telefonnotizblock Anruf Meyer, Meyer Grafik, Uster, 8.07 Uhr, bitte zurückrufen, vollführte eine elegante Hundertachtzig-Grad-Drehung mit ihrem Bürostuhl, legte den Zettel in die Ablage Kaufmann, drehte sich zurück und blätterte weiter im Modeversandkatalog. Und schüttelte noch einmal leise den Kopf. Ein Bauer auf einem Traktor fuhr an ihm vorüber, hob die Hand zum Gruß, Gustav grüßte zurück. „Maliaño stelle ich mir also“, sagte er gehend vor sich hin, „auf einem Hügel vor. Die letzten Reste Nacht noch in den Häusern, ein schmaler Streifen Tag schon über den Bäumen, Stille, nur ein gleichmäßiges Rattern, nein, Leiern eher, ein Holpern, immer näher, ein mit zwei Milchtansen beladenes Leiterwägelchen, gezogen von einem Mädchen, den Oberkörper nach vorn gebeugt, beide Arme nach hinten, die langen Haare zu einem flüchtigen Zopf geflochten, der neben ihrem schmalen Kopf hinunterhängt, mit ihren ruckartigen Bewegungen hin- und herbaumelt, ein Scheppern, wenn die Tansen zusammenstoßen, der Wagen verschwindet, eine Kuh kommt ins Bild, trottet ein paar Meter, bleibt stehen, frisst Gras am Wegrand, steht, schaut, frisst noch einmal Gras, schaut, trottet irgendwann weiter, aus dem Bild hinaus, der Wagen erscheint wieder, das Mädchen hüpft, der Wagen neben ihr her, es rattert schneller, der Streifen über den Bäumen schon breiter, der Zopf springt auf und ab, der Wagen verschwindet. Es ist Tag.“ „Ist Kaufmann schon da?“, fragte Neuenschwander, als er am Tisch von Frau Lenherr vorüberging. Frau Lenherr fuhr vom Modeversandkatalog hoch und sagte: „Nein, hat wohl Verspätung mit der S-Bahn.“ Neuenschwander zog die linke Augenbraue hoch und sagte: „Rufen Sie doch mal bei ihm zu Hause an“, schielte kurz auf die Bademode im Versandkatalog und verschwand in seinem Büro. Frau Lenherr wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, und rief, ohne den Kopf von der Bademode zu heben, „Liliane, ruf doch mal den Kaufmann zu Hause an!“, und blätterte um zu den Schuhen. (Gustav Julius Kaufmann also ging. Gustav war nicht gegangen, Gustav ging. Gustav war nicht weggelaufen, Gustav ging. Gustav ging nicht im Kreis, denn Gustav war kein Wanderer. Gustav ging nicht zu sich selbst, denn Gustav war kein Pilger. Gustav ging ganz einfach. Er ging von Niederweningen aus nach Westen. Und um es ein bisschen vorwegzunehmen: Gustav Julius Kaufmann ging zu Ida Nordpol Zeppelin.) Liliane erschien wortlos im Türrahmen und winkte Frau Lenherr zu sich. Sie wählten noch einmal Kaufmanns Nummer und stellten das Telefon auf Lautsprecher. Nach drei Mal klingeln knackte es in der Leitung und eine Frau sagte mit kindlichem Ernst in der Stimme: „Das Tiefdruckgebiet Friedrich verlagert sich zunehmend, im Süden ist mit größeren Aufhellungen zu rechnen, die Temperaturen steigen dort bereits auf angenehme zweiundzwanzig Grad.“ Dann folgte eine Pause, und dann sagte die Stimme, und sie schien zu lächeln dabei: „Im Osten aber, und das werden Sie jetzt nicht glauben, im Osten sehen wir von hier aus die Vorläufer eines Hochdruckgebietes.“ Dann folgte ein Piepston und dann Rauschen. Frau Lenherr legte auf und schaute Liliane an. „Ich werde den Chef informieren“, sagte sie tonlos. Gustav hatte gerade die Anhöhe Schlad überquert und näherte sich dem Bächlein Surb. Die Hochspannungsleitung knisterte, ein Raubvogel stieß sehnsüchtig klagende Laute aus. Gustav wandte sich ihm zu und rief: „Ich stelle mir den Dorfplatz vor, am Fuß des Turms und der Eiche. Eine Handvoll Kinder spielen Himmel und Hölle, den Himmel und die Hölle in den Kies gezeichnet, sie springen, lachen, übertönen sich schreiend, ein Junge steht ein wenig abseits, steht still, schaut zum Horizont, schaut unbewegt zum...


Ralf Schlatter, geboren 1971 in Schaffhausen (CH), lebt als freier Autor und Kabarettist in Zürich. Diverse Auszeichnungen für die Romane Federseel und Maliaño, den Erzählband Verzettelt, den Lyrikband König der Welt. Fürs Schweizer Radio Hörspiele und Kurzgeschichten. Seit 2000 tritt er im Duo schön&gut auf, mit poetischem und politischem Kabarett, ausgezeichnet mit dem Salzburger Stier 2004 und dem Großen Schweizer Kabarettpreis Cornichon 2014. Bei Limbus: Sagte Liesegang (2013) und Maliaño stelle ich mir auf einem Hügel vor (Neuauflage 2015).



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