E-Book, Deutsch, Band 14, 628 Seiten
Schmidt Der Wundermann Ludwig Erhard
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-86962-706-9
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mythos, Selbstdarstellung und Öffentlichkeitsarbeit
E-Book, Deutsch, Band 14, 628 Seiten
Reihe: Öffentlichkeit und Geschichte
ISBN: 978-3-86962-706-9
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ludwig Erhard ist im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik in seiner Rolle als erster Bundeswirtschaftsminister fest verankert. Politikerinnen und Politiker fast aller Parteien berufen sich auch heute noch auf den beliebten, rundlichen Minister, dem die Bundesrepublik – so die nostalgische Erzählung – ihren wundersamen Aufstieg zu verdanken hat. Als Schöpfer des Wirtschaftswunders und als Vater der Sozialen Marktwirtschaft ist Ludwig Erhard ein Idol. Dass Erhard auch der zweite Kanzler der Bundesrepublik war, erinnern dagegen nur noch wenige, vielmehr gelten die drei Jahre Erhards im Kanzleramt als glanzlos und als eine eher unbedeutende Übergangsphase in der Geschichte der Bundesrepublik.
Entscheidend für den Auf- und Abstiegs Erhards und die damit verbundene Mythisierung seines politischen Wirkens waren – anders als vielfach angenommen – nicht nur (wirtschafts-)politische Erfolge und Misserfolge, sondern vor allem auch symbolische Faktoren wie die öffentliche (Selbst-)Darstellung Erhards. Denn ohne Hausmacht in der eigenen Partei war Erhard im Besonderen von den Zustimmungswerten in der Bevölkerung abhängig und musste um Vertrauen für seine Politik und auch für seine Person werben. Unterstützt von seinen persönlichen Imagemachern und weiten Teilen der westdeutschen Medienlandschaft begann Erhard daher bereits sehr früh, an seiner eigenen Mythisierung zu arbeiten und den wirtschaftlichen Aufschwung untrennbar mit seiner Person zu verknüpfen – mit Erfolg.
Kurz vor seinem Wechsel in das Kanzleramt galt der Zigarre-rauchende, wohlstandsgenährte Wundermann als der beliebteste und zugleich vertrauenswürdigste Politiker der Bundesrepublik.
Im Kanzleramt wurde dieses Wundermann-Image für Erhard allerdings schnell zu einer Bürde, während es ihm nicht gelang, ein neues ebenso wirkmächtiges Kanzlerimage aufzubauen. Das Bemühen Erhards, sich als über den Parteien schwebender ›Volkskanzler‹ zu inszenieren, scheiterte ebenso wie der Versuch, die Soziale Marktwirtschaft mit der Idee der ›Formierten Gesellschaft‹ weiterzuentwickeln. Das über Jahre aufgebaute Vertrauen in seine Person begann in der Folge rasant zu schwinden und zwang Erhard schließlich, nach nur drei Jahren im Amt zurückzutreten.
Gestützt auf politische Dokumente des Bundesarchivs, des Archivs der Ludwig-Erhard-Stiftung sowie auf Zeitzeugeninterviews zeichnet die Arbeit den politischen Werdegang Ludwig Erhards aus einem neuen Blickwinkel nach: Es wird herausgearbeitet, welche Bedeutung der öffentlichen (Selbst-)Darstellung Erhards im Hinblick auf den Vertrauenserwerb, -erhalt und -verlust in seine Person zukam.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Biographien & Autobiographien: Historisch, Politisch, Militärisch
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Geschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politikerbiographien
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
Weitere Infos & Material
Vorwort von Benjamin Krämer: Der Mythos Erhard und die historische Analyse politischer Kommunikation
1. EINLEITUNG
1.1 'Alles andere als von gestern'?
1.2 Quellenlage, Forschungsstand und andauernde Deutungskämpfe
1.3 Prolog
1.3.1 Der lange Weg in die Politik (1897–1948)
1.3.2 Erhards Soziale Marktwirtschaft
1.3.3 Das Wirtschaftswunder und das ›Soziale Klima‹
1.3.4 Vertrauenswerbung für die Soziale Marktwirtschaft
2. VERTRAUENSERWERB (1949–1963)
2.1 Das kommunikative Netzwerk
2.1.1 DIE WAAGE e. V.
2.1.2 Der Wundermann
2.1.3 Die Schicksalsgemeinschaft
2.1.4 ›Der‹ Mann neben Adenauer
2.2 Erhard-Propaganda
2.2.1 'Erhard auf der Waage'
2.2.2 Propagandist in eigener Sache
2.2.3 Kolumnen und 'Seelenmassagen'
2.2.4 Zwischen Starkult und ›Economic education‹
2.3 Meinungsmacher und Meinungsmache
2.3.1 Trompeter für Erhard
2.3.2 'We like Ludwig'
2.3.3 Der Neuhauser Kreis
2.3.4 Der Dicke soll ran
2.4 Das personalisierte Wunder
3. VERTRAUENSERHALT (1963–1965)
3.1 Der Volkskanzler
3.1.1 Erhard eine Märchenfigur?
3.1.2 Ein neuer Ton
3.1.3 Ein neuer Stil
3.1.4 Das Team um Erhard
3.2 Das neue, alte kommunikative Netzwerk
3.2.1 Die PR-Abteilung der Regierung
3.2.2 Machtkämpfe um die Öffentlichkeitsarbeit
3.2.3 Interview-Kriege I – Atlantiker versus Gaullisten
3.2.4 Der Sonderkreis
3.3 Ein zeitkritisches Meinungsklima
3.3.1 Maßvoll und vertrauensvoll?
3.3.2 Schaumbäder und Telefongebühren
3.3.3 Die Pflege der veröffentlichten Meinung
3.3.4 Den Kanzler 'ins Bild' bringen
3.4 Die Erhard-Wahl
3.4.1 Das Erhard-Programm
3.4.2 Die ›Formierte Gesellschaft‹
3.4.3 Erhard-Reklame
3.4.4 Wundermann versus 'Plankenzaun'
3.5 Der ›Wohlstandskanzler‹
4. VERTRAUENSVERLUST (1965–1966)
4.1 Der ›Erhard-Abbau‹
4.1.1 Interview-Kriege II – die ›Aktion: Springer-Lübke-Adenauer-Strauß‹
4.1.2 Die Suche nach dem 'James-Bond-Prinzip'
4.1.3 Das Erhard-Paket
4.1.4 Der schwindende ›goodwill‹
4.2 Die Zerbrechlichkeit des Vertrauens
4.2.1 Das Schlagwort ohne Schlag
4.2.2 Eine wirtschaftliche und eine mediale Krise
4.2.3 'Volkskanzler ohne Volk'
4.2.4 Interview-Kriege III – die 'Lust am Untergang'
4.3 Ein ohnmächtiger Rücktritt
5. Ende
5.1 Macht und Ohnmacht
5.2 Epilog
6. QUELLENVERZEICHNIS
7. LITERATURVERZEICHNIS
Personenregister
1. EINLEITUNG
1.1 »Alles andere als von gestern«?
Ein rundlicher, gemütlich aussehender Herr, passend zum Gute-Nacht-Geschichten-Motiv in Schlafanzug und Zipfelmütze gekleidet, sitzt in einem Lesesessel. In seiner Hand hält er ein monumentales Werk: Deutsche Heldensagen 1950–1960. Aus diesem Werk liest er einer Gruppe gebannt zuhörender Kinder vor: »Es war vor langer, langer Zeit – da gab es in der schönen, jedoch armen Bundesrepublik einen grossen, starken und sehr gescheiten Ludwig – alle nannten ihn den ›Wirtschaftswunderpapa‹«.1 Diese Szene entstammt einer Karikatur, die im November 1966 auf der Meinungsseite der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde. In der Karikatur zu sehen ist der ›Wirtschaftswunderpapa‹ höchstpersönlich: Ludwig Erhard, Bundeswirtschaftsminister der Jahre 1949 bis 1963 und zweiter Kanzler der Bundesrepublik in den Jahren 1963 bis 1966, der seine eigene Heldengeschichte verliest. Aufgabe einer Karikatur ist es sicherlich, zu überzeichnen, zu parodieren, vorzuführen – und doch verbirgt sich hinter all dem Humor auch tiefer gehende Kritik. In seiner Karikatur spielte der Zeichner Ironimus mit der mythischen Verklärung Erhards zum erfolgreichen Wirtschaftsminister und Wirtschaftswundermann – zum Helden der bundesdeutschen Geschichte. Im November 1966 war von diesem Helden allerdings nur noch eine eher irdisch anmutende Figur zurückgeblieben. Nach drei erfolglosen Jahren im Kanzleramt stand Erhard unmittelbar vor seinem Rücktritt – doch anstatt sich der Realität zu stellen, flüchtete sich der Kanzler lieber in die Erfolge der Vergangenheit. Betrachtet man unser heutiges Bild von Ludwig Erhard, so scheint die Karikatur kaum an Bedeutung eingebüßt zu haben: Heute, über 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, ist Ludwig Erhard in seiner Funktion als Bundeswirtschaftsminister und als ›Vater des Wirtschaftswunders‹ und der Sozialen Marktwirtschaft fest im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik verankert.2 Die Kanzlerschaft Erhards scheint hingegen als relativ unbedeutende ›Übergangs‹-Phase in Vergessenheit geraten zu sein. In einem Sammelband über die Kanzler der Bundesrepublik heißt es entsprechend, Erhards Kanzlerzeit »wirkt heute eher wie das entbehrliche Accessoire einer Lebensleistung, die ansonsten für die Geschichte der Bundesrepublik unentbehrlich ist.«3 Wie unentbehrlich der Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard für die Geschichte der Bundesrepublik immer noch ist, zeigte sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten, in denen die Bundesrepublik ein regelrechtes Wundermann-Revival erlebte, beflügelt von Jubiläen wie dem 100. Geburtstag Ludwig Erhards (1997) – im Jahr 2022 hätte er seinen 125. Geburtstag gefeiert –, dem 70-jährigen Jubiläum der Bundesrepublik Deutschland (2019) und damit eng verknüpft dem 70-jährigen Bestehen der Sozialen Marktwirtschaft (2018). Im Zuge dieser Jubiläen wurden Ludwig Erhard posthum zahlreiche Ehrungen zuteil, die von großen Ehrerbietungen bis hin zu kleinen Gesten reichten: Das Bundeswirtschaftsministerium benannte seine Aula in Ludwig Erhard Saal um, während die Deutsche Bahn einen ihrer ersten ice 4-Züge auf den Namen ›Ludwig Erhard‹ taufte.4 In Fürth, der Heimatstadt Erhards, eröffnete im Jahr 2018 das ›Ludwig Erhard Zentrum‹, erbaut für 17 Millionen Euro, welches für sich beansprucht, das bedeutsame Wirken und die Verdienste des Wirtschaftswundermannes Erhard ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und an die Nachwelt weiterzugeben.5 Auf Werbeplakaten des Museums, die ein übergroßes Abbild Erhards mit Baseballcap zeigen, ist zu lesen: »Alles andere als von gestern«.6 Auch in politischen Debatten ist der Wundermann Ludwig Erhard omnipräsent, zumal auffällig ist, dass die politische Verortung hier kaum eine Rolle spielt. Grüne, Linke, spd und fdp verlesen die Heldengeschichte des ›Vaters des Wirtschaftswunders‹ und der Sozialen Marktwirtschaft ebenso überzeugt wie die Partei Erhards, die cdu.7 Denn Ludwig Erhard – dessen Parteizugehörigkeit bereits zeitlebens diskutiert wurde – gilt heute parteiübergreifend als politisches Markenlogo des wirtschaftlichen Erfolgs.8 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte dies mit den Worten: »Überall, wo Politiker eine Rede mit zumindest einem Hauch wirtschaftspolitischen Bezugs halten, ist auch Ludwig Erhard vor Ort. Dabei ist ziemlich egal, wer spricht: Der Wirtschaftspolitiker, der sich nicht für den ›wahren Erben Ludwig Erhards‹ hält, muss erst noch erfunden werden – auch außerhalb von cdu und fdp.«9 abbildung 1 Werbeplakat des Ludwig Erhard Zentrums – »Alles andere als von gestern« Quelle: LEZ Werbeplakat © Stiftung Ludwig-Erhard-Haus abbildung 2 Das Ludwig Erhard Zentrum in Fürth Quelle: LEZ Neubau © Stiftung Ludwig-Erhard-Haus / Ken Schluchtmann All diese Beispiele verdeutlichen, dass die Geschichte der Gegenwart – wie Michel Foucault feststellte – immer auch beeinflusst ist von unserer Erinnerung der Vergangenheit.10 Die Vergangenheit ist in Bezug auf unsere Gegenwart nicht nur deren untrennbare Vorgeschichte, sondern auch eine Ansammlung historischer Fragmente, die uns helfen, unsere Gegenwart zu verstehen, die uns zugleich aber auch die Willkürlichkeit des Zustandekommens unserer gegenwärtigen Situation verdeutlichen.11 Foucault folgend ist unsere gegenwärtige Erinnerung Ludwig Erhards somit auch Ausdruck unserer gegenwärtigen Erinnerung bundesrepublikanischer Geschichte. Denn die mythische Verklärung Ludwig Erhards zum ›Vater des Wirtschaftswunders‹ und der Sozialen Marktwirtschaft bietet eine vereinfachte und zugleich positive Erzählung darüber, wie die Bundesrepublik zu dem wurde, was sie heute ist.12 Während das Wirtschaftswunder als Gründungsmythos auf den Fleiß und Willen der Deutschen verweist und den Auftakt einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte markiert, ist die Soziale Marktwirtschaft als flankierende und bis heute gültige Wirtschaftsordnung dieser Erfolgsgeschichte zur »dauerhaften Erfolgserzählung« avanciert – und dies nicht nur über innerdeutsche Parteigrenzen hinweg, sondern auch weit über die Landesgrenzen der Bundesrepublik hinaus.13 In der Person Ludwig Erhards wird diese Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland – werden das Wirtschaftswunder und die Soziale Marktwirtschaft – personalisiert.14 Die plakative These des Wirtschaftshistorikers Werner Abelshauser, nach der deutsche Geschichte seit 1945 vor allem Wirtschaftsgeschichte sei,15 ließe sich insofern ergänzen: Bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichte ist vor allem Ludwig Erhard – zumindest auf einer symbolischen Ebene. In ihrer Rede anlässlich der Feierlichkeiten zu 60 Jahren Soziale Marktwirtschaft betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel: »Wir feiern eine der wirkungsmächtigsten positiven Zäsuren, die unser Land erlebt hat. Vor 60 Jahren erhielt die Freiheit in unserem Land ihre wirtschaftliche Grundlage. Wir feiern den politischen Mut, mehr Freiheit zu wagen und zu gewinnen. Wir feiern einen großen Gestalter unseres Landes und seine Gabe, die Menschen selbst zu Gestaltern ihres Schicksals zu machen. Wir feiern die Soziale Marktwirtschaft und mit ihr den Mann, der sie prägte und durchsetzte: Ludwig Erhard.«16 Wie in diesem Zitat ersichtlich, fungieren politische Mythen als »Interpunktionen und Ligaturen der Geschichte, die Vertrauen und Zuversicht stiften sollen«.17 Im Mythos, so stellen Herfried Münkler und Jens Hacke heraus, »wird die schlichte Faktizität des Geschehens narrativ und semantisch aufbereitet, sie wird mit Sinn und Bedeutung aufgeladen, durch die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbunden werden.«18 Gleiches lässt sich auch für den Mythos des Wundermannes Ludwig Erhard festhalten, der einerseits der historischen Begründung bundesrepublikanischer Identität dient, andererseits aber auch eine nostalgische Erinnerung des wundersamen Aufstiegs der Bundesrepublik fördert – des »goldenen Zeitalters« der kapitalistischen Entwicklung.19 So fragte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung 2005: »Warum soll uns das, was uns früher und was uns zu Beginn dieser Bundesrepublik Deutschland, in den ersten Gründerjahren, gelungen ist, heute, in den – wie ich sage – zweiten Gründerjahren, nicht wieder gelingen?«20 Im politischen Kontext geben Mythen somit »Orientierung«, während sie zugleich »Elemente von Wahrheit und Lüge« enthalten.21 Politische Mythen zielen demnach weniger auf »historische Wahrheit«, als vielmehr auf...