Schmidt / Grün / Hein | Geschichte des Materialismus | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 212 Seiten

Schmidt / Grün / Hein Geschichte des Materialismus


1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96285-136-1
Verlag: Salier Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 212 Seiten

ISBN: 978-3-96285-136-1
Verlag: Salier Verlag
Format: EPUB
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Alfred Schmidt (1931–2012) hat sich als Schüler Max Horkheimers und Theodor W. Adornos ein akademisches Leben lang mit der Frage befasst, was wir unter »Materialismus« sinnvollerweise verstehen dürfen. Seine Studien derjenigen europäischen Denker, die als Materialisten bezichtigt wurden oder sich selbst dafür erkannten, bildeten fu¨r Schmidt die Quellen zu einem vorläufigen Begriff des Materialismus. Die Herausgeber stellen diese unvollendet gebliebene Geschichte des Materialismus auch denjenigen zur Verfügung, die bereit sind, eine bessere Welt nicht aus der Überschätzung der Vernunft und den philosophischen Dogmen eines intelligenten Weltlaufs abzuleiten.

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Vom metaphysischen Materialismus zum kritisch-humanistischen Materialismus


In ähnlichem Sinne, aber stärker an Schopenhauer orientiert, vertrat Schmidt auch die materialistische Position in einem 1986 in der katholisch-philosophischen Hochschule St. Georgen bei Frankfurt aufgezeichneten Streitgespräch mit Jörg Splett über die Frage Wie frei ist der Mensch? 1 Während die konservative philosophische Denkgewohnheit Willensfreiheit nach dem Prinzip der moralischen Freiheit eines Christian Wolff definiert – »Wer aus deutlicher Erkenntnis des Guten dasselbe thut, hingegen aus deutlicher Erkenntnis des Bösen dasselbe unterlässet, der vollbringt das Gute und unterlässet das Böse aus völliger Freyheit«2 –, stellt Schmidt diese Auffassung als »übernatürliche« Freiheit der »natürlichen« gegenüber. Letztere sei jedoch nichts Anderes als die selbstverständliche, wenngleich von Naturverhältnissen beschränkte Handlungsfreiheit, die wir Menschen besitzen, und die unsere Wahl aus verschiedenen Optionen aufgrund natürlicher Motive zur Entscheidung bringt.

Die Ausführungen Schmidts zeigen deutlich, dass die Annahme einer übernatürlichen Freiheit – verstanden als Willensfreiheit – korrekterweise einer spekulativen Weltanschauung zuzurechnen ist, in der die natürliche Daseinsweise des Menschen überschritten werde, um ihn in einer »intelligiblen« Welt aufgehoben zu wähnen. Dagegen übernimmt die materialistische Position die Rolle der Kritik an der Notwendigkeit der Annahme des Übernatürlichen. Für Schmidt sind es auch die vielen Spielarten einer Lehre, die seit der Stoa, das Moralische aus der Natürlichkeit des Menschen erklären zu können beanspruchten. Darunter vor allem die pantheistischen Lehren. In Abkehr von ihnen verortete er diejenigen Lehren, die – wie Schmidt es mit den Worten Schopenhauers zusammenfasst – in der natürlichen Ordnung der Dinge nicht die einzige und absolute Ordnung der Welt erkennen wollen. Für sie gilt, was Schopenhauer als »das notwendige Credo aller Gerechten und Guten« bezeichnete: »Ich glaube an eine Metaphysik«3; das heißt, an eine übersinnliche Daseinsweise der Welt, aus welcher sich normative Kraft ableiten lasse. Schmidt war sich dessen bewusst, dass es sich hierbei ebenfalls um eine spekulative Annahme, ja um ein metaphysisches Bekenntnis handelte, das gleichwohl – und dies bildet den Unterschied zu herrschenden Ideologien – eine nichtmetaphysische Ursache haben kann. Wie Schmidt mit Schopenhauer bekennt, beruht diese Annahme nämlich auf einem »metaphysischen Bedürfnis« des Menschen und nicht auf der Existenz einer geistigen oder seelischen Substanz.4

Dass es zu einer solchen Vergeistigung des Normativen überhaupt gekommen sei, erklärte Schmidt in jenem Streitgespräch aus der Jahrtausende alten menschlichen Erfahrung mit der Ananké, der unerbittlichen Naturnotwendigkeit, von der wir vor allem aus der Mythenforschung wissen, dass sie aus dem Drang zur Verniedlichung des Gefürchteten stammt. Religiöse Vergeistigung und metaphysische Übersinnlichkeit – so die materialistische Antwort auf den Glauben an die Metaphysik – hat ihrerseits den Ursprung in der natürlichen Triebstruktur des Menschen und nicht in einer primären übernatürlichen Seinsweise oder einer Seelensubstanz: »Die Furcht hat zuerst in der Welt Götter geschaffen.«5 Während die Erklärungen religiöser Gottesvorstellungen zumeist platonisch sind und Gott aus der Vernunft oder einem Schöpfungsmythos ableiten, bevorzugt die materialistische Erklärung eine psychische Not – Sigmund Freud spricht sogar von einer Zwangsneurose –, deren Linderung das göttliche Heilsversprechen sein kann.

In der Position Schopenhauers, dass die moralische Ordnung eine andere als die physische Weltordnung bedeute und hierdurch der Hoffnung auf eine bessere Welt Genüge geleistet werde, sah Alfred Schmidt stets die vertretbare Position, in der die Marx’sche weltverändernde Praxis mit der materialistischen Negation des prästabilierten moralischen Weltlaufs auf moderne Weise in Einklang zu bringen sei. In dem Maße, wie das metaphysische Bedürfnis nach einer ganz anderen Welt im Leib des Menschen als Angst oder Hoffnung verortet ist, handelt es sich auch bei dieser Bestimmung von Transzendenz um eine materialistische Position. Sie verzichtet nämlich auf die Annahme einer zweiten Seinsordnung über der Leibnatur des Menschen, sondern setzt voraus, dass sich Hoffnung vollkommen in die physische Welt einfügt. Allerdings war Schmidt der Auffassung, dass die alleinige Anerkennung einer materiellen Natur, ohne die Hoffnung auf eine andere – moralische – Seinsweise als »Positivismus« abzulehnen sei. Hierauf wird weiter unten noch einzugehen sein.

Schon die Tatsache, dass viele pantheistische Konstrukte einen versteckten Materialismus enthalten, ist für Schmidt Grund genug, die materialistische Denkhaltung sehr viel differenzierter als die verbreiteten Studien zum Materialismus zu betrachten. So beinhaltet beispielsweise der Pantheismus Giordano Brunos nicht nur spekulative Aussagen über die Chemie des Universums, sondern vor allem die Opposition gegen die Methode der Scholastiker, die die Gültigkeit einer vermeintlichen Wahrheit aus Behauptungen von Autoritäten – namentlich des Aristoteles und der Konzilsbeschlüsse – ableiteten. Indem Bruno weiterhin die Natur vergöttlicht, naturalisiert er den Gott und macht ihn zu einem Bestandteil der diesseitigen Welt. Ja, der schöpferischen Materie und ihrer Bildegesetze bleibt selbst der pantheistische Gott unterworfen. Schmidt spricht von ihm als dem »enthusiastischen Verkünder einer weltfrommen, daseinstrunkenen Philosophie«6. Der sensualistische Gehalt dieses Materialismus äußert sich dadurch, dass Bruno dem metaphysischen Bedürfnis nach Transzendenz folgt, ohne dabei dem Anspruch der Sinnlichkeit zu widersprechen. Eine übernatürliche Gottheit wird Bruno zum Unding.

Wenige Darstellungen des Materialismus bauen auf der Einsicht auf, die beispielsweise auch die Grundlage der Habilitationsschrift von Annette Wittkau-Horgby bildete, nämlich dass »die naturwissenschaftliche Erkenntnis … im Rahmen der Konzeption des historischen Materialismus zwar eine wichtige, gleichwohl letztlich untergeordnete Rolle«7 spielt. Diese Position vertrat stets auch Alfred Schmidt, wenngleich er in der Übertreibung naturwissenschaftlicher Positionen früh schon ihre Stoßkraft gegen den Idealismus aufspürte. So ergreift Schmidt stets Partei für den physiologischen Materialismus der »philosophischen Medizin«, wenn dieser sich etwa gegen den theologischen Hintergrund cartesianischer Erwägungen richtet, also gegen die Behauptung, »›daß die vernünftige Seele durch eine unmittelbare Schöpfung Gottes hervorgebracht wird‹«8. John Lockes anthropologisches Denken wertete Schmidt dagegen als einen »Durchbruch im Frankreich des achtzehnten Jahrhunderts«, wenn er, wie Schmidt mit Voltaire unterstreicht, »›vom Menschen her den menschlichen Verstand ableitet, so wie ein hervorragender Anatom die Triebkräfte des menschlichen Körpers.‹«9

Dennoch ist auch die Warnung vor der Gefahr naturwissenschaftlicher Ignoranz im philosophischen Materialismus nicht unberechtigt.10 Von anderer Seite wurde mit Recht ausdrücklicher kritisiert, dass die »Anti-Naturdialektiker der Traditionslinie Lukâcs – Merleau-Ponty – Alfred Schmidt, … die sich für besonders gute Marxisten oder Marxkenner halten, im Hinblick auf die Naturwissenschaften aber mit ungenügenden Kenntnissen ausgerüstet sind«11. Schließlich war auch Schmidts Verständnis naturwissenschaftlicher Methoden – insbesondere die Bedeutung des Experiments und der Mathematik – nur schwach ausgebildet.

Fehlendes Detailverständnis naturwissenschaftlicher Theorie und Praxis begünstigte immer schon die Auffassung, Naturwissenschaft sei bloß eine Metaphysik der Natur und könne niemals Ansprüche eines kritischen Materialismus in sich vereinen. Tatsächlich war auch Alfred Schmidt mit Arthur Schopenhauer einer Meinung, dass die »Leute ..., welche vermeinen, Tiegel und Retorte seien die wahre und einzige Quelle aller Weisheit, … in ihrer Art ebenso verkehrt, wie es weiland ihre Antipoden, die Scholastiker«12 sind. Schopenhauer sah sich einer auf naturwissenschaftlichen Methoden der Mechanik aufbauenden sozialen Wirklichkeit seiner Gegenwart ausgesetzt. Er bemängelt darin die zur Farce gewordene humanistische Bildung und bezieht einen Standpunkt der Kritik zum naturwissenschaftlichen Paradigma. Alfred Schmidt folgt dieser kritischen Haltung, indem er das Paradigma unter dem Bezichtigungsbegriff »Positivismus« abwertet.

Schopenhauers Diktum: »Die Welt ist meine Vorstellung«, wird zur begründeten Basis dieser Abwehr, weil gemäß seiner Lehre Naturwissenschaften ebenso wie Mathematik und alle anderen Wissenschaften der Welt als Vorstellung zuzurechnen seien.13 Doch mit der für Schopenhauer ebenso notwendigen – allerdings bloß postulierten – Annahme, dass die Welt nicht nur meine Vorstellung sei, sondern überdies noch metaphysischer Wille, eröffnete sich für Alfred Schmidt eine materialistische Position jenseits der naturwissenschaftlichen Prämissen. Während allerdings Schopenhauer ausdrücklich versicherte, dass dieses Andere der metaphysische Wille sein müsse, legte sich Alfred Schmidt nicht fest in der Beantwortung der Frage, was die Welt außerdem, dass sie Vorstellung ist, noch sei. Aber dieses nicht Genannte möge der...



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