Schmidt Tausend Mal gedenk ich dein
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5577-9
Verlag: Baumhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-8387-5577-9
Verlag: Baumhaus
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die 15-jährige Nelly ist glücklich, denn die ein Jahr ältere, charismatische Pina hat sie vor einem halben Jahr als ihre beste Freundin auserkoren. Seitdem sind die beiden unzertrennlich. Als sich in der Klasse mysteröse Unfälle häufen und der Verdacht ausgerechnet auf Nelly fällt, scheint bald nur noch Pina zu ihr zu halten. Nelly bekommt anonyme Drohungen und sie hat das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam bekommt Nelly wirklich Angst: Wer will ihr schaden?
Autoren/Hrsg.
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KAPITEL 2
NELLY
Fünf Minuten nach halb acht am nächsten Morgen radelte ich über die große Kreuzung, an der ich fast jeden Morgen nach links abbog, um Pina abzuholen, ehe wir zusammen an ein paar Feldern entlang zur Schule fuhren. Es war ein kleiner Umweg, aber schöner, als die Hauptstraße zu nehmen. Gerade überlegte ich, ob ich die Ampel an der Kreuzung noch bei Grün schaffen könnte, da hörte ich Fahrradreifen auf Asphalt quietschen und einen erschrockenen Ausruf. Ohne nachzudenken, schloss ich beide Hände um die Bremsen und kam schlitternd zum Stehen. Ich keuchte vor Schreck und sah überrascht – in Jules blasses Gesicht. »Nelly! Oh Mann, sorry, ich hätte dich fast umgefahren!«, rief meine neue Sitznachbarin und sprang vom Rad. »Ist alles okay?« Vor lauter Hektik rutschte Jule ihre Schultasche vom Gepäckträger. Hefte, Bücher und ein paar Stifte verteilten sich quer über den Radweg. »Oh nein!«, rief sie und bückte sich hastig, um ihre Sachen aufzusammeln. Rasch lehnte ich mein Bike an den Ampelmast und half ihr. Jule schaute zu mir hoch. »Tut mir leid, ehrlich! Aber ich dachte, ich hätte mich verfahren und würde zu spät zur Schule kommen. Ich finde mich hier einfach noch nicht zurecht«, erklärte sie und wirkte, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Ich sah, dass ihre Brillengläser vor Aufregung beschlugen.
»Ach, ist doch nicht so schlimm«, beruhigte ich sie, obwohl auch mir der Schrecken des Beinahe-Zusammenstoßes noch in den Knochen steckte. Aber die aufgelöste Jule tat mir leid, und daher konnte ich ihr nicht böse sein. Ich zog ein frisches Taschentuch aus meinem Rucksack. »Hier, dein Mathebuch ist dreckig geworden«, meinte ich und hielt es ihr hin.
»Danke«, erwiderte Jule leise. Nachdem sie alle Bücher sauber und ordentlich wieder in ihrer Tasche verstaut hatte, hoben wir unsere Räder auf.
»Zum Glück kannst du mir jetzt zeigen, wie ich zur Schule komme«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Das minimiert die Wahrscheinlichkeit, dass ich in der Walachei lande und erst zur zweiten Stunde in der Klasse einlaufe.«
Ich wollte ihr sagen, dass ich noch meine Freundin abholen würde, da schlug die Kirchturmuhr dreimal. Viertel vor acht, erkannte ich erschrocken. Wenn ich jetzt noch zu Pina fuhr, kamen wir garantiert zu spät. Ganz abgesehen davon, dass sie sicher längst alleine losgefahren war. Kurz merkte ich, wie ich auf Jule wütend wurde, die nicht aufgepasst hatte und wegen der ich nun Pina versetzen musste. »Ich habe dir doch den Schulplan und die Anfahrtskizze gestern per Mail geschickt«, sagte ich und hörte selbst, wie gereizt ich klang. Doch als ich Jules hilflose Miene sah, hatte ich mich schnell wieder im Griff. Sie hatte mich ja nicht mit Absicht aufgehalten, und Pina würde ich spätestens in der Pause treffen. Dann konnte ich ihr alles erklären.
Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, meine Freundin im Stich gelassen zu haben.
Als endlich der Pausengong ertönte, war ich als Erste zur Tür hinaus und flitzte auf den Pausenhof, um dort auf Pina zu warten. Quälende Minuten vergingen, und ich überlegte mir schon, ob sie heute überhaupt zur Schule gekommen war, da sah ich, wie sie durch die gläserne Tür schlenderte. Erleichtert lief ich auf sie zu. »Ich wollte dich heute Morgen abholen, aber dann hat mich Jule mit dem Rad fast umgefahren. Ich hab ihr noch geholfen, ihre Bücher einzusammeln, und danach war ich zu spät dran«, sprudelte es aus mir heraus. Pina schien mich jetzt erst wahrzunehmen, und ihre fein gezeichneten Augenbrauen schossen in die Höhe. »Jule?«, echote sie.
»Ja, die Neue in meiner Klasse, du weißt schon. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut. Ich hoffe, du hast nicht auf mich gewartet«, schob ich hastig hinterher.
Pina sah mich mit milder Verwunderung an, als wolle sie fragen, wieso ich hier so einen Aufstand veranstaltete. Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden.
»Ich bin heute sowieso früher los. Musste noch Latein abschreiben«, erklärte sie.
»Ach so, dann ist ja gut«, sagte ich etwas lahm, aber das mulmige Gefühl, dass sie irgendwie enttäuscht von mir war, blieb. Sagte sie das nur, weil sie nicht zugeben wollte, dass sie auf mich gewartet hatte?
Ich beschloss, sie zu versöhnen – egal, ob sie tatsächlich sauer war oder ich mir das nur einbildete. »Übrigens ist heute im Cine Palazzo Kinotag. Hast du Lust? Ich lade dich ein«, sagte ich.
Eine Sekunde lang dachte ich, sie würde den Kopf schütteln und mich stehen lassen. Aber dann machte sich auf ihrem Gesicht das typische Pina-Grinsen breit. »Aber wehe, es ist keine ordentliche Schnulze! Ich erwarte Tränen zum Happy End, klar?« Dann drehte sie sich um, winkte mir kurz mit Zeige- und Mittelfinger über die Schulter zu und verschwand im Schulgebäude. Ich atmete auf. Es war doch alles in Ordnung. Beschwingt lief ich nun ebenfalls zum Eingang, denn gleich war die Pause um und unser Chemielehrer verstand keinen Spaß, wenn man zu spät kam. Pünktlich schlüpfte ich auf meinen Platz. »Du grinst ja wie ein Honigkuchenpony«, sagte meine neue Banknachbarin Jule. »Hast du ein Date?«
Unwillkürlich schoss mir das Bild des hochgewachsenen Jungen vom See durch den Kopf und ich wurde rot. »Quatsch«, wehrte ich ab. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich aber, dass Jule mich weiterhin verstohlen musterte. »Ich freue mich einfach aufs Kino heute Nachmittag«, sagte ich schnell. Sie nickte nur und blickte dann schnell weg. In diesem Moment sah sie so verloren aus, dass ich plötzlich Mitleid bekam. Sicher war es ein blödes Gefühl, einen einsamen Nachmittag in einer fremden Stadt vor sich zu haben, weil man niemanden kannte. Keiner würde anrufen und fragen, ob sie mit in den Park gehen wollte – oder in einen Film.
»Im Cine Palazzo läuft diese neue romantische Komödie. Hast du Lust mitzukommen?«, hörte ich mich fragen. Jule sah mich erst erstaunt an, dann aber breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus, und ihre Augen hinter der Brille funkelten.
»Gerne! Das wäre … echt toll!«, sagte sie.
»Ach, schon in Ordnung. Sagen wir, um vier vor dem Kino? Das ist mitten im Einkaufszentrum und daher nicht zu verfehlen!«
Jule nickte nur stumm, weil inzwischen unser Chemielehrer hereingekommen war, und ich dachte nicht weiter über meine spontane Einladung nach.
»Da bist du ja. Bereit für die ganz große Romanze auf der Leinwand?«, fragte Pina, die im Foyer bereits auf mich gewartet hatte.
»Jule kommt auch. Na ja, sie tat mir leid, weil sie neu in der Klasse ist. Sie hat vorher in London gelebt und ich dachte, ich zeige ihr mal unser super Multiplex-Kino«, sagte ich und versuchte, locker zu klingen. Pina nickte. Ihre Miene verriet nicht, was sie über meinen spontanen Entschluss dachte, doch mich beschlichen auf einmal Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, einfach ein fremdes Mädchen zu der Verabredung mit meiner Freundin mitzuschleppen. Schweigend kaufte ich zwei Karten für Pina und mich. »Popcorn?«, fragte ich, aber Pina schüttelte stumm den Kopf.
In diesem Moment wehte Jule herein, mit roten Wangen und außer Atem. »Sorry, ich hab mich schon wieder verfahren«, keuchte sie und stürmte nach einem kurzen »Hallo übrigens« zur Kasse, um noch eine Karte für sich zu ergattern. Schweigend ging Pina in den Kinosaal, doch als Jule sich immer noch leicht schnaufend neben sie in den samtbezogenen Klappstuhl fallen ließ, lächelte Pina und wandte sich ihr zu.
»Du hast also in London gewohnt? Mann, ich beneide dich! Da will ich auch mal hin. Zum Shoppen! Und natürlich zum Buckingham Palace, zum Tower und so«, begeisterte sie sich, und Jule nickte zu jedem Wort. Ich hätte gerne mitgeredet, aber ich traute mich nicht, Pinas Wortschwall über englische Schuhdesigner zu unterbrechen. Jule hing stumm an Pinas Lippen, ja sie himmelte meine Freundin förmlich an, und ich dachte etwas ärgerlich, dass die beiden ja ziemlich schnell auf einer Wellenlänge waren. Ein leichtes Gefühl der Eifersucht stieg in mir auf wie bittere Galle, denn Pina redete ausschließlich mit Jule und verwickelte sie in ein Gespräch über den Flohmarkt in Notting Hill. Ich saß stumm daneben wie eine lebensgroße Pappfigur. Es war, als sei ich gar nicht da. Zum Glück fing nach wenigen Minuten die Werbung an; ich lehnte mich in die weichen Kinosesselpolster zurück und tauchte in die überschaubare Welt des Films ein, in der ein Happy End vorprogrammiert war.
»Ich wusste, sie kriegen sich zum Schluss«, seufzte Jule zufrieden, nachdem die Lichter im Saal wieder angegangen waren.
»Das ist in Filmen immer so. Sonst würde keiner ins Kino gehen, und die Stars würden sich in Hollywood nicht dumm und dämlich verdienen«, belehrte ich sie.
»Tja, im Gegensatz zum wahren Leben, was?«, sagte Pina. Es sollte witzig klingen, aber ich hörte den traurigen Unterton heraus. Dachte sie an ihre Eltern?
Schweigend schlenderten wir aus dem Saal und ins Foyer.
Insgeheim wünschte ich mir, Jule würde nach Hause gehen. Ich hätte gerne noch ein bisschen mit Pina gequatscht – alleine. Obwohl ich es mir nicht eingestehen wollte, fühlte ich mich tatsächlich etwas ausgeschlossen, aber das sagte ich natürlich nicht. Vielleicht spürte Pina es, denn sie hakte sich bei mir ein, als wir durch die verspiegelte Glastür ins Freie traten.
»Wie wäre es noch mit einem Blaubeer-Smoothie aus dem Coffeeshop?«, wollte Pina wissen. Jule nickte begeistert.
»Ich sag schnell zu Hause Bescheid«, meinte sie und zog ihr Handy aus der Tasche. Ich schluckte und dachte an meine...




