E-Book, Deutsch, 192 Seiten
Schnädelbach Religion in der modernen Welt
1. Auflage 2009
ISBN: 978-3-10-400140-1
Verlag: S.Fischer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten
ISBN: 978-3-10-400140-1
Verlag: S.Fischer
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Herbert Schnädelbach (1936-2024) studierte Germanistik, Geschichte, Musikwissenschaft, Philosophie und Soziologie in Frankfurt am Main, promovierte bei Adorno und lehrte nach der Habilitation an den Universitäten Frankfurt am Main, Hamburg und - bis zu seiner Emeritierung - an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen, zuletzt »Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann« (2012).
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›Aufklärung‹
›Aufklärung‹ als Epochenbegriff scheidet dabei sofort aus; diese Bezeichnung besagt nur dann etwas, wenn man zuvor etwas darüber gesagt hat, was Aufklärung der Sache nach ist. Anders ist es mit den Aufklärungsbegriffen, mit denen eine erzählbare Geschichte bezeichnet wird, und zwar sowohl eine große und eine kleinere Version. Die kürzere Fassung ist die von Hegel und von Comte: Aufklärung erscheint hier als eine historisch abgeschlossene Episode, auf die man nunmehr zurückblicken kann; in diesem Sinne bezieht sich auch Hermann Lübbe in seinem Buch und unter anderen Titeln auf die erfolgreiche Aufklärung als etwas Abgeschlossenes und Vergangenes. Die »große Rahmenerzählung« (Lyotard) der Aufklärung hingegen erstreckt sich von der »Amöbe bis Einstein« (Popper) oder vom Animismus bis zur Atombombe (Horkheimer/ Adorno), und dies mit offenem Ausgang; hier erscheint die Aufklärung als das eine große Erziehungs-, Bildungs-, Zivilisierungs- und Modernisierungsprojekt, wobei die zeitgenössischen Vertreter dieses Modells freilich nicht mehr glauben, dass es sich dabei um eine Veranstaltung der Gottheit (Lessing) oder der Natur (Kant) mit der Menschheit handelt. Nicht erst die , sondern schon Nietzsche und die lebensphilosophische Kulturkritik und dann erneut der Postmodernismus haben glaubwürdig gemacht, dass es sich bei dieser großen Version des Aufklärungskonzepts um ein naives und selber wenig aufgeklärtes Trugbild, ja um einen neuen Aberglauben handelt; wie »dialektisch«, d. h. selbstwidersprüchlich und selbstzerstörerisch Aufklärung geraten kann, hat uns das blutige 20. Jahrhundert vor Augen geführt.
›Bildung‹, ›Erziehung‹, ›Zivilisierung‹, ›Modernisierung‹, ja selbst ›Rationalisierung‹ – all diese Begriffe sind viel zu unspezifisch, um den Kern von Aufklärung freizulegen; mit Kant kommen wir hier einen Schritt weiter. Bekanntlich definiert er: ». Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.« [18]Lassen wir zunächst das »selbstverschuldet« beiseite, weil es eine ganze Reihe von schwierigen Fragen aufwirft, so können wir festhalten: Kant bezieht die Aufklärung von vornherein auf das Ziel der Mündigkeit, des Erwachsenwerdens, der vernünftigen Selbständigkeit, der Selbstbestimmung. Damit ist klar, dass jener Ausgang aus der Unselbständigkeit nicht etwas sein kann, was dem Unmündigen einfach widerfährt, denn das stünde im Widerspruch zu dem, was Aufklärung bewirken soll; es wäre so, als wollte man seinen Kindern befehlen: »Nun seid endlich mal selbständig!« Man kann Mündigkeit nicht erzeugen, sondern nur die Bedingungen dafür schaffen, dass sie möglich wird. So war in den »emanzipatorischen« Zeiten der deutschen Bildungsreform der 60er und 70er Jahre von der »Erziehung zur Mündigkeit« die Rede, wobei man wohl unterschätzte, wie schwierig so etwas ist; im Übrigen machte man sich wohl auch nicht klar, dass man im Römischen Recht emanzipiert, d. h. aus dem des entlassen , sich also gar nicht selber emanzipieren konnte. Man kann sicher jemanden über dies und jenes aufklären, aber damit meinen wir nur die Übermittlung von Informationen; die ist ohne Zweifel unentbehrlich, wenn Aufklärung gelingen soll, aber sie ist eben keine zureichende Bedingung und im Fall der Indoktrination und Propaganda sogar kontraproduktiv. Jemanden aufklären genügt nicht, sondern man muss aufklären, d. h. den Mut und die Kraft finden, »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«. Dazu kann man niemanden zwingen, aber man kann dazu ermuntern; darum sagt Kant: »« Habe Mut dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung. [19]
Mit Kant können wir festhalten, dass Aufklärung, wenn sie gelingt, ein oder ist, der nicht von außen herstellbar ist, zu dem man aber auffordern kann; damit ist die Aufklärung als ein bestimmt, den Menschen zu ihrem machen können. In diesem Sinne formuliert Kant: »Die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die .« [20]Dabei müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, die Kant anführt, um zu begründen, warum er die Unmündigkeit für »selbstverschuldet« hält. Nachdem die »Natur« die Menschen »längst von fremder Leitung frei gesprochen hat«, können sich die Unmündigen und erst recht ihre Vormünder nicht darauf herausreden, sie seien eben »von Natur« unmündig. Das zeugt nach Kant nur von »Faulheit und Feigheit«. Dann liegt es auch nicht am »Mangel des Verstandes«, wenn jener »Ausgang« ausbleibt, sondern am Mangel der »Entschließung und des Mutes«. Solche Schuldzuweisungen haben damals Hamann sehr erbittert; in einem Brief protestierte er dagegen und bestand darauf, dass die Schuldigen die selbsternannten Vormünder sind; im Übrigen schrieb er: »Mit was für Gewissen kann ein Raisonneur (und) Speculant hinter den(m) Ofen und in der Schlafmütze den Unmündigen ihre vorwerfen, wenn ihr blinder Vormund ein wohldisciplinirtes zahlreiches Heer [von dem Kant selbst gesprochen hatte – H. S.] zum Bürgen seiner Infallibilität und Orthodoxie hat.« [21]Der bloße Appell an individuellen Mut in politischen Verhältnissen, in denen, wie in Preußen, die Freiheit nach Lessing ausschließlich darin bestand, dass man straffrei Dummheiten über die Religion sagen durfte, musste Hamann geradezu zynisch erscheinen, und wir können ihm dabei bei aller Kantverehrung nicht einfach unrecht geben. Freilich verortete Kant die Möglichkeit »der Entschließung und des Mutes«, sich seines Verstandes »ohne Leitung eines anderen zu bedienen«, genau in dem Raum, den Friedrich II. bereits eröffnet hatte – nämlich in dem der Freiheit, »von seiner Vernunft in allen Stücken zu machen«, [22]während im Übrigen galt: »«, [23]aber genau dieser Freiraum wurde von seinem Nachfolger Friedrich Wilhelm II. wieder kassiert, was Kant Publikationsverbot einbrachte. Man kann Kant gegen Hamann nur durch den Hinweis verteidigen, dass er nicht behauptet hatte, die Frage der Redefreiheit selber sei damals eine Sache der »Entschließung und des Mutes« gewesen.
Um die Bedingungen anzugeben, unter denen es Menschen möglich wird, den Prozess der Aufklärung zu ihrer eigenen Sache zu machen, genügt es somit nicht, auf Faulheit, Entschlusslosigkeit und Feigheit zu sprechen zu kommen; soziale und institutionelle Bedingungen gehören dazu, auf die sich Kant selbst bezieht. Er erkennt, dass es »für jeden einzelnen Menschen schwer« ist, »sich aus der ihm beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten … Dass aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur die Freiheit lässt, beinahe unausbleiblich.« [24]Die gesetzlich gewährte Redefreiheit ist nur deshalb für die Aufklärung erforderlich, weil sie nur als ein kommunikativer Vorgang in der Öffentlichkeit vor sich gehen kann; Gedankenfreiheit, wie sie Schillers Marquis Posa fordert, [25]allein genügt nicht. Dass alle autoritären und totalitären Regime der Welt diesen Prozess zu fürchten haben, hat der vorsichtige Kant zumindest angedeutet: »Wenn denn die Natur … den Hang und Beruf zum (,) ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des Volks (wodurch dieses der nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze der , die es für sich selbst zuträglich findet, den Menschen, der nun ist, seiner Würde gemäß zu behandeln.« [26]Tatsächlich ist für alle Despoten diese Rückwirkung der Rede- auf die Handlungsfreiheit viel zu gefährlich, und deshalb pflegen sie als Erstes, die öffentliche Kommunikation durch ihr Medienmonopol zu behindern und zu zerstören. In den westlichen Demokratien passiert Ähnliches sogar im Rahmen der Verfassung; man denke nur an die Telekratie des Silvio Berlusconi.
Verstehen wir somit Aufklärung als einen selbstreferentiellen und kommunikativen Prozess mit dem Ziel vernünftiger Selbständigkeit in individueller und politischer Hinsicht, der nur dann in Gang kommt, wenn Menschen ihn zu ihrem eigenen Projekt machen, dann müssen wir uns zugleich von der einlinigen Fortschrittsgeschichte verabschieden, in die die Aufklärungsidee im 18. Jahrhundert eingelassen war. Dass der Ausdruck ›Aufklärung‹ im 19. Jahrhundert und danach fast nur noch historisch und abfällig gebraucht wurde, ist ein Beleg für die Dialektik der Aufklärung, d. h. für ihr Doppelgesicht. Wie bei allen Menschenkindern hat auch für Kulturen das Erwachsenwerden Kosten; es bedeutet den Abschied von Träumen und liebgewordenen Illusionen, Ernüchterung, Enttäuschung, aber auch Disziplin und Selbstbeherrschung als Preis für die eigene Selbstbestimmung. Die Klage über diese Preise der Freiheit und die Weigerung, sie zu zahlen – das ist die Romantik;...