E-Book, Deutsch, 262 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 235 mm, Gewicht: 530 g
Schneider / Messmer Komponieren als Erkenntnis des Seins
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-96233-513-7
Verlag: Allitera Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Gesammelte Vorworte als Werkstattbericht
E-Book, Deutsch, 262 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 235 mm, Gewicht: 530 g
ISBN: 978-3-96233-513-7
Verlag: Allitera Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
ENJOTT SCHNEIDER, geboren 1950, Studium Freiburg i. Br. (Dr. phil. 1977), von 1979 bis 2012 Professur an der Hochschule für Musik und Theater München. Neben schriftstellerischer Tätigkeit umfangreiches Komponieren mit weltweit aufgeführten Werken, die auf über hundert CDs sowie auf YouTube dokumentiert sind: 10 abendfüllende Opern, 16 Orgelsinfonien, 8 Orchestersinfonien, viele Solokonzerte, sinfonische und kammermusikalische Werke, Musica Sacra mit 12 Oratorien sowie Chor- und Orgelmusik. Hunderte von Filmmusiken wie Schlafes Bruder, Stalingrad, Stauffenberg, vielfach ausgezeichnet mit Deutschem Filmpreis, Deutschem Fernsehpreis, Beste Europäische Filmmusik u.a. Typisch ist sein cross culture composing als kreatives Kommunizieren mit Kontexten vergangener Zeiten (historische Dimension) oder anderer Kulturkreise (geographische Dimension). Dabei dominiert die Suche nach Essenz und Archetypus, oft verbunden mit Texten in originaler Sprache wie etwa die in chinesisch komponierte und 2018-2024 oft aufgeführte dreistündige Oper Marco Polo, die Oratorien Abubu (Die Sintflut) in altbabylonischer oder Kabbala in hebräischer Sprache. Von 2003 bis 2021 Aufsichtsrat der GEMA (auch als Aufsichtsratsvorsitzender), von 2013-2020 Präsident des Deutschen Komponistenverbandes, Mitglied im Präsidium des Deutschen Musikrats, auch Juror und Vorsitzender vieler Musik-Wettbewerbe. Details: www.enjott.com
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
»In der Immaterialität zu leben, das ist und bleibt ein Jungbrunnen.«
Franzpeter Messmer im Gespräch mit Enjott Schneider über die Veränderung unserer Welt seit der Corona-Pandemie.
Fünf Jahre nach der Monografie erscheint zum 75. Geburtstag Komponieren als Erkenntnis des Seins. In dieser kurzen Zeitspanne hat sich viel verändert. Was dies für das Schaffen von Enjott Schneider bedeutet, steht im Mittelpunkt des folgenden Gesprächs mit Franzpeter Messmer.
Franzpeter Messmer (FPM): 2020 sollten über 60 Konzerte in ganz Europa bis hin nach China mit deinen Werken gespielt werden. Die Corona-Pandemie machte damals durch viele Pläne einen Strich. Hatte diese Pandemie eine Auswirkung auf dein Schaffen?
Enjott Schneider (ES): Diese Pandemie habe ich ›planetarisch-spirituell‹ empfunden: wie alle auch historisch großen Pandemien (Seuchen, Pest) war dies für mich Mahnung eines kosmischen Bewusstseins, dass wir den Planeten zerstören, dass wir mit unserer Hektik, der sinnlosen Industrialisierung und den materiell-egomanen Raubzügen einer nicht mehr kontrollierbaren Hydra der Überproduktion aufhören sollten. Innehalten! In diesem Sinne habe ich mit dem ständigen Reisen und Fliegen pausiert und mehr denn je versucht, mich von den fassadenhaften Äußerlichkeiten (auch des akklamierten Karriereerfolgs) abzuwenden und die Essenz des immateriellen Seins wieder wertzuschätzen. Ergebnis konkret: den Zauber der leisen Töne und der Kammermusik zu entdecken, mich an den kleinen Schönheiten des naheliegendsten Lebensraumes zu freuen. Reduktion, Entschleunigung und Minimalismus auf allen Ebenen.
FPM: 2020 kam das Konzertleben zum Stillstand. Viele Musiker erlitten dadurch eine Depression. Wie hast du darauf reagiert?
ES: Dass weit über 60 große Aufführungen ausfielen, hat mich zunächst – wie die gesamte Kollegenschaft – gelähmt und Groll verursacht. Ganz schnell habe ich die Sonnenseiten dieser historisch einmaligen, fast experimentellen Situation entdeckt: gesunde Luft plötzlich, klarer Himmel, im reduzierten Lärm hörte man die Vögel wieder viel deutlicher, Rückbesinnung auf verschüttet gegangene Werte wie Freundschaft und physisches Beisammensein im Kreis der Familie ohne Stress.
FPM: Mittlerweile hat sich das Konzertleben erholt. Hat es sich auch verändert?
ES: Die Kunstszene hat sich extrem polarisiert: Auf der einen Seite diejenigen, die den Subtext der Pandemie begriffen haben und neue Werte, neue Ausdrucks- und Konzertformen suchten, die Musik zu »vertiefen« wussten. Not machte in der Tat erfinderisch! Auf der anderen Seite diejenigen, die sofort mit Profitdenken, Veranstaltungsgier und den verbesserten – weil jetzt voll digitalisierten – Marketingstrategien den »Neustart Kultur« rein materiell aufgefasst haben. Die prekäre Situation von Künstlern wurde ausgenutzt, Honorare in den Keller zu treiben, alle Kunstschaffenden zum wohlfeilen Mainstream zu zwingen. Nach der Verunsicherung durch die Pandemie wird jetzt in tödlicher Weise immer auf »Nummer sicher!« gegangen, Tradition als Form der Schlamperei ist das grassierende Konzept. Das Konzertleben ist in der Masse langweiliger und öde geworden: um wieder ›volle Häuser‹ zu bekommen, wurde auf abgehalfterte Erfolgsrezepte, ›große Namen‹ und museal gewordene Déjà-vus gesetzt. Krasse Antagonismen wie nie zuvor: Einerseits kommerzielle Mega-Events (egal ob im Pop- oder Klassikbereich) mit explodierenden Umsätzen und astronomischen Kartenpreisen, andererseits wenig wahrgenommenes, intensives Arbeiten und Suchen in Nischen und Ghettos, wo um der Wahrhaftigkeit der Kunst und des Geistes wegen zu prekärer Bedingungen gearbeitet wird. Die Kapitalmarkt-Prinzipien dominieren jetzt auch das Konzertleben.
FPM: In den vergangenen fünf Jahren sind sehr viele Werke entstanden. Sie werden am Ende dieses Buches aufgeführt. Beginnt für dich nach Corona eine neue Schaffensperiode?
ES: Zweifellos, – wobei dies auch sehr mit dem Alter zu tun hat: die unreflektierte Betriebsamkeit wird zunehmend obsolet, – man fragt sich permanent »Ist das noch wichtig? Hat das noch einen tieferen Sinn?« In asiatischer Spiritualität heißt es im Tao Te King so schön »Die Eins erzeugt die Zwei, die Zwei erzeugt die Drei, und die Drei erzeugt die 10 000 Dinge«. Und in dieser Dingwelt der 10 000 Oberflächlichkeiten und Details verliert man sich schnell, – alles ist unterhaltsam, Zeitvertreib, glitzert und lenkt ab. Es ist mir tiefe Wahrheit geworden, wieder zur göttlichen Eins, dem Ursprung, der Einheit aller Dinge zurückzufinden und dort die anscheinenden Gegensätzlichkeiten zu verstehen: das permanente Bewerten (»Like« oder »Dislike«) führt zu nichts, das »richtig« oder »falsch« ist relativ. Noch wichtiger als die Rückkehr zur Einheit, zur »Eins«, ist die tiefe Wertschätzung der »Null«: – die Leere, die faszinierende Welt der Stille zu entdecken, wo selbst die lärmenden Gedanken und Wünsche sich zu jenem Nirwana zu reduzieren haben, das uns die Zen-Meister als das Ziel der Auslöschung von egomanem »Ich« formuliert haben.
In sehr vielen Kompositionen nach 2020 geht es um dieses »Null-Sein«, um Stille, um die Welt jenseits der Materie, um die Klarheit einer Demut, die lieber still empfangen als kraftvoll, lärmend eigensinnige Botschaften, Überzeugungen und Meinungen aussenden will. »Eigenwille« und Egomanie habe ich als die zerstörerischen Kräfte identifiziert, die zu Unfrieden, zum Unbefriedigtsein und dem Verlust jeglicher Humanität führen. Das wenig verstandene »Dein Wille geschehe!« ist mir Credo geworden, das ich in vielen Kompositionen ausdrücke, gerade wenn diese von der Natur (wie »Wasser«, »Bäume«, »Wolken«, »Wind«) oder etwa »Glockenklang« inspiriert sind.
Enjott Schneider, 2011 (Foto: Ursus Samaga)
FPM: Für dich ist cross culture composing zentral. Doch heute scheinen Nationalismus und kulturelle Abkapselung die Oberhand zu gewinnen. Ist die Zeit des kulturellen Dialogs vorbei?
ES: Je mehr sich die Menschheit im Labyrinth der »10000 Dinge«, also in der ablenkenden Vielfalt des Materialismus verirrt, umso weniger wird erkannt, dass alles mit allem zusammenhängt, dass wir alle im gemeinsamen Ursprung untrennbar vereint sind. »Tat Twam Asi« ist ja die Weisheit der altindischen Upanishaden: »Ich bin Du, Du bist Ich«. Dieses für ein Humanum zentrale Urwissen findet sich zigfach, vom »Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst« bis zu neueren spirituellen Strömungen oder philosophischen Systemen (Schopenhauer beispielsweise gründete völlig auf diesem »Tat Twam Asi«). Zur Grundtendenz des Kapitalismus – wie Karl Marx schon vor 150 Jahren unwiderlegbar nachwies – gehört es leider, dass Geld- und Profitgier alle zwischenmenschlichen Bindungen auflöst: jeder ist der Konkurrent des anderen, jeder baut sich mit pseudoindividualisiertem Design ein eigenes Kokon, um darin nahezu autistisch als Ego zu erstarren. Dieser Prozess der sich abkapselnden Egomanie wiederholt sich auch auf den nationalen Ebenen. Auch hier ist die Menschheit fast 50:50 Prozent polarisiert: die Ewiggestrigen und die einer kapitalistischen Gier verbundene Hälfte gewinnen aktuell offensichtlich die Oberhand – überall ist ein »Rechtsruck«. Die an sozialen und humanistischen Werten orientierte Hälfte der Menschen, also die kulturell Dialogfähigen, scheint aktuell zu unterliegen. Aber auch hier vertraue ich der Weisheit des vielfach komponierten ›Wassers‹, das immer zu »unteren Orten« sich bewegt, das anscheinend nachgiebig ist und passiv jede Form annehmen kann: ›Wasser‹ ist die stärkste Kraft nicht nur unseres Planeten, sondern des ganzen Universums, welches zu 70 Prozent aus dem Primärelement des Wasserstoffs besteht: Wasserstoff als atomare Verkörperung der »Eins« mit nur einem Proton (Atomkern) und nur einem umwirbelnden Elektron. Wasser kann alles zerstören und höhlt auch den felsigen Stein mit seinem steten Tropfen. Und analog zur anscheinenden Passivität des ›Wassers‹ werden auch Kunst und kulturelle Verbundenheit den Nationalismus und Kapitalismus wieder verdrängen können.
FPM: Mit dem Krieg Russlands gegen die Ukrainer gewann eine konfrontative Weltsicht an Bedeutung. Für dich war 2020 Sibirien ein Sehnsuchtsland. Ich vermute, dass es jetzt schwierig ist, dort noch als Musiker zu wirken?
Naturliebe: an der Donau in Weltenburg (Foto: privat)
ES: Ja, leider stehen in Krasnoyarsk (der absoluten Mitte Sibiriens) noch Musikinstrumente von mir, liegen noch Partituren, die auf ihre Uraufführung warten. Vor allem schmerzlich: auch dort leiden so viele friedfertige Menschenseelen unter dem Diktat von Geld und Macht … Sibirien ist so magisch mit seiner Naturhaftigkeit, kaum berührt von Industrie und den zerstörerischen Tendenzen eines vermeintlichen Fortschritts. Es tut aktuell sehr weh, dass ich diese Erkundungsfahrt zurück zum Ursprung nicht fortsetzen kann.
FPM: Was ist aus deinen...