E-Book, Deutsch, 432 Seiten
Schneider Zimtschneckentage
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96215-461-5
Verlag: Edel Elements - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-96215-461-5
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Kapitel 1
»Moin.«
Ich betrat die kleine Bäckerei am Marktplatz und atmete tief ein. Der Duft von frisch gebackenen Brötchen, köstlichem Brot und herrlich aussehenden Zimtschnecken erfüllte den ganzen Raum und mischte sich mit dem aromatischen Duft feinster Kaffeekreationen. Ich liebte Bäckereien und Konditoreien. Nahezu meine ganze Kindheit hatte ich in einer Backstube verbracht und zusammen mit meiner Schwester zwischen den Mehlsäcken Verstecken gespielt, meinem Vater an Silvester beim Backen der Berliner geholfen und heimlich von der Schlagsahne genascht.
Meinem Vater, dem die Konditorei früher gehörte, hatte ich gerne dabei zugesehen, wie er in der Weihnachtszeit bunte Hexenhäuschen baute und mit Süßkram verzierte oder aus einem großen Klumpen Marzipan die bezauberndsten Figuren formte. Kleine rosa Schweinchen mit Ringelschwänzen aus weißem Zuckerguss oder süße Igel mit Stacheln aus dunkelbrauner Schokolade. Für einen kurzen Moment schloss ich die Augen und träumte mich zurück an jenen heimeligen Ort glücklicher Kindertage. Den Duft von Zimt und Bratapfel konnte ich noch immer riechen.
»Mia, was kann ich für dich tun?«
Mariannes raue Stimme holte mich zurück ins Hier und Jetzt.
»Hab ich dich beim Träumen erwischt?«, hakte die schrullige Bäckereiverkäuferin nach und lächelte.
Ich fühlte mich ertappt, strich mir verlegen eine blonde Strähne aus dem Gesicht und erwiderte ihr Lächeln.
»Ja, das hast du«, sagte ich und deutete auf den Tresen, in dem Mandelhörnchen, Napoleonhüte, Eisenbahnschienen und Zimtschnecken nebeneinanderlagen. »Zwei Zimtschnecken, bitte.«
»Gerne. Also, wie immer …«, murmelte Marianne, griff zur Zange und packte zwei Zimtschnecken in eine bunte Papiertüte. »Darf es sonst noch etwas sein? Ein Kaffee vielleicht?«
»Nein, heute nicht. Danke, ich bin ein wenig in Eile.« Ich legte ein paar abgezählte Münzen auf den Tresen und wandte mich zum Gehen um.
Marianne Ahrens, die kleine rundliche Verkäuferin, kannte ich seit vielen Jahren. Früher hatte sie in der Konditorei meiner Eltern gearbeitet. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie schon ihre Ausbildung bei meinen Eltern gemacht. Ein halbes Leben hatte sie in unserem Laden hinter dem Tresen gestanden und Kuchen, Torten, Gebäck und süße gefüllte Teilchen verkauft. Doch nachdem meine Eltern sich in den Ruhestand verabschiedet und die Konditorei verkauft hatten, war Marianne gezwungen, sich einen neuen Job zu suchen. Zum Glück konnte sie schon bald in der Bäckerei am Marktplatz anfangen. Seitdem stand sie hier täglich für jeweils vier Stunden hinter dem Tresen und kannte die Vorlieben ihrer Kunden gut.
Auf meinem Weg zur Arbeit machte ich öfter Halt in der kleinen Bäckerei am Marktplatz, um mir für die Arbeit eine Kleinigkeit mitzunehmen. Obwohl ich das Sortiment in- und auswendig kannte, fiel mir die Wahl häufig schwer. Zumindest in dieser Hinsicht war Entscheidungsfreude keine meiner Stärken. Die Auslage zeigte eine süße Köstlichkeit neben der anderen: Eisenbahnschienen, Wienerbrot mit Vanillecreme, Pflaumenmus oder Marzipan, Schokoboller, Nussecken. Wie um alles in der Welt sollte man sich da entscheiden können? Meistens kaufte ich daher zwei Zimtschnecken, eine fürs zweite Frühstück im Büro und eine zum Nachmittagskaffee.
»Tut mir leid, wir schnacken beim nächsten Mal etwas länger. Versprochen. Geht‘s dir denn gut, Marianne?« Ich packte die Tüte hastig in meine cognacfarbene Shopping-Bag und sah auf die Uhr. Ich musste mich wirklich beeilen. Mist!
»Alles bestens, Kleines. Und bei dir?«
»Ja, es läuft.« Ich lachte, winkte kurz und drehte mich um. »Wir sehen uns bestimmt am Montag«, sagte ich noch schnell und versuchte, dabei nicht zu gestresst zu klingen, bevor ich im nächsten Augenblick auch schon zur Tür hinaus verschwand.
»Dieses Mädchen, immer in Eile«, hörte ich Marianne hinter mir sagen, während sie sich kopfschüttelnd der nächsten Kundin zuwandte.
Draußen war es ungewöhnlich laut. Über Nacht war neben dem Marktplatz eine der zahlreichen Tagesbaustellen, die gerade jetzt zur Ferienzeit überall in der Stadt auftauchten, eingerichtet worden. Warum man sich dazu entschied, gerade dann Straßen und Plätze umzubauen, wenn die Stadt voller Touristen war, würde ich wohl nie verstehen. Das brummende Dröhnen des Presslufthammers schallte durch die angrenzenden Straßen, während auf dem Wochenmarkt die Marktverkäufer verzweifelt versuchten, gegen den Lärm anzuschreien.
Ich hielt mir die Ohren zu und huschte über das Kopfsteinpflaster, bis mir ein kleiner älterer Mann mit grauem, schütterem Haar und Nickelbrille auf der Nase von hinten auf die Schulter klopfte.
»Hallo, Mia. Wie wäre es heute mit ein paar frischen Erdbeeren?«
»Herr Fischer, haben Sie mich jetzt aber erschreckt«, neckte ich ihn und legte mir mit gespieltem Entsetzen eine Hand auf die Brust. Trotz Zeitnot ließ ich mich von Herrn Fischer breitschlagen und begleitete ihn zu seinem großen Obst- und Gemüsestand am Rande des Wochenmarkts.
»Hier sieht es aber lecker aus.«
Eine riesige Auswahl frischer Erdbeeren lag neben einem großen Berg roter und grüner Äpfel, während zahlreiche Ananas zu einer Pyramide aufgetürmt worden waren.
»Alles frisch vom Großmarkt geholt heute Nacht. Nur die Erdbeeren nicht. Die kommen von Bauer Johannsens Feldern. Probieren Sie mal«, sagte Herr Fischer und hielt mir eine Schale mit wunderbar duftenden Erdbeeren hin.
Ich nahm mir eine große, leuchtend rote Frucht und kostete.
»Die sind ja köstlich. Ja, davon nehme ich gerne eine Schale mit ins Büro. Dann brauche ich später nicht selbst noch mal raus aufs Feld«, sagte ich und hielt Herrn Fischer einen schwarzen Stoffbeutel hin, damit er die Schale darin verstauen konnte.
»Hab ich Ihnen doch gesagt. Bei mir gibt‘s nur beste Ware«, meinte Herr Fischer selbstzufrieden und pries weiter sein Obst und Gemüse an. »Darf es sonst noch etwas sein? Kartoffeln vielleicht? Ich hab neue Kartoffeln hier. Oder Brokkoli? Wie wäre es mit Bananen?«
»Nein, danke. Heute wirklich nicht. Ich muss zur Arbeit und bin jetzt schon viel zu spät dran. Aber vielleicht schaffe ich es, nächste Woche auf dem Markt vorbeizuschauen. Dann mache ich bei Ihnen einen Großeinkauf. Versprochen.« Ich zwinkerte dem alten Mann zu.
»Mia, Sie werden doch wohl nicht etwa mit mir flirten?«, scherzte Herr Fischer und gab mir den schwarzen Jutebeutel zurück.
»Herr Fischer, jetzt haben Sie mich aber erwischt! Wir sehen uns.« Ich lachte, reichte einen Fünfeuroschein über den Stand und drehte mich um. »Stimmt so.«
»Bis nächste Woche dann«, rief Herr Fischer mir hinterher, und ich winkte noch einmal fröhlich über die Schulter.
Der Lärm des Presslufthammers war kaum auszuhalten. Ich beeilte mich, nicht nur, um pünktlich in der Redaktion zu sein, sondern auch um dem Krach endlich zu entkommen. Die armen Wochenmarktverkäufer taten mir leid. Würde der Lärm bis zum Abend anhalten, wären einige von ihnen bestimmt taub oder würden mit einem Tinnitus beim Ohrenarzt sitzen.
Schon jetzt am Vormittag war die Fußgängerzone gut mit Touristen gefüllt, die im Sommer immer in Scharen in die Stadt kamen, sodass ich abwechselnd nach links und rechts huschen musste, um überhaupt voranzukommen. Jetzt, im Sommer, war immer besonders viel los, während es im Winter in der Stadt nur an den Wochenenden richtig voll wurde.
Dank einer aufwendigen Marketingkampagne hatte sich die kleine Stadt am Meer in den vergangenen Jahren zu einem wahren Shoppingmekka entwickelt und lud Touristen aus dem In- und Ausland zum gemütlichen Bummeln und Verweilen ein. Die Fußgängerzone bot alles, was das Shoppingherz begehrte: große Einkaufspassagen mit den üblichen Modeketten und kleine, feine Boutiquen mit einem ausgewählten Sortiment. Berühmt und beliebt waren vor allem die zahlreichen alten Kaufmannshöfe, deren Speicher nach und nach liebevoll saniert worden waren und jetzt unter anderem Hotels, gemütliche Cafés oder Wohnungen beherbergten.
Am Hafen reihten sich, ähnlich wie in Kopenhagens Nyhavn, kleine bunte Häuser in Gelb, Blau, Grün und Rot aneinander und schufen so eine charmante Postkartenkulisse, die man ohne Weiteres als hyggelig, also gemütlich, bezeichnen konnte.
Heute waren vorwiegend Urlauber aus Skandinavien in der Fußgängerzone unterwegs. Ich lief unter den aufgespannten Sonnenschirmen der Cafés hindurch in Richtung Medienhaus, das vor einiger Zeit am Hafen errichtet worden war.
Fast ein Jahr lang war das alte Getreidesilo auf der Ostseite des Hafens in ein schickes Verlagshaus umgebaut worden. In die dicken Betonmauern waren etliche graue, bodentiefe Sprossenfenster eingebaut und die Fassade war mit gelb-roten Backsteinen verklinkert worden, sodass nun alles an einen alten Getreidespeicher erinnerte.
Gleich zwei Zeitungen und ein Magazin hatten im Medienhaus seitdem ein neues Zuhause gefunden. Das Morgenjournal, die Tageszeitung der Stadt, Unsere Woche, das kostenlose Anzeigenblatt der Stadt, und Hygge & Meer, ein überregionales Lifestyle-Magazin, das im Kielwasser der weltweiten Hygge-Bewegung aus dem Boden gestampft worden war und sich mittlerweile am norddeutschen Markt positionieren konnte.
Ich hatte bei Hygge & Meer vor zwei Jahren angeheuert und war seitdem nicht nur umtriebige Reporterin, die überall in der Region unterwegs war, neue Lifestyle-Trends aufspürte und über zauberhafte Häuser und traumhafte Gärten berichtete. Ich hatte es auch geschafft, mir einen festen Platz im Magazin zu sichern und vor etwa einem halben Jahr meine Kolumne Mias Welt ins Leben...