E-Book, Deutsch, 352 Seiten, Gewicht: 1 g
Schoch Mit Aug’ und Ohr für’s Vaterland
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-03810-085-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Schweizer Aufklärungsdienst von Heer & Haus im Zweiten Weltkrieg
E-Book, Deutsch, 352 Seiten, Gewicht: 1 g
ISBN: 978-3-03810-085-0
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jürg Schoch - Nach einer kaufmännischen Lehre Studium der Geschichte. Promotion zum Dr. phil. mit einer Arbeit über «Die Oberstenaffäre 1916». In den 1970er- Jahren Bundeshauskorrespondent für verschiedene Medien. Von 1981 bis zur Pensionierung als Inlandredaktor, Chef der Auslandredaktion und Frankreich-Korrespondent beim Zürcher «Tages-Anzeiger». Zahlreiche Reportagereisen in Osteuropa, Russland und den baltischen Staaten. Publikationen u.a. «In den Hinterzimmern des Kalten Krieges» (als Herausgeber und Mitautor 2009), «Fall Jeanmaire, Fall Schweiz» (2006)
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Kapitel 1
Gummirücken statt Stauffachergeist
Der Schwächeanfall im Frühsommer 1940 und seine Wirkungen
Das Misstrauen war einfach nicht aus der Welt zu schaffen. Wohl zog es sich manchmal zurück, schwoll aber selbst bei geringfügigem Anlass gleich wieder an. Der Grundstock dieses Misstrauens wurde im Frühjahr 1940 gelegt. Es machte sich an zwei Ereignissen fest. Das eine hatte seine Ursache im Verhalten gewisser Volkskreise, das andere im Verhalten der Regierung. Das eine betraf die Panik, die – namentlich in Basel, Schaffhausen, der Nordostschweiz – viele Zivilisten und auch Militärs ergriff, das andere die Rede, die der Bundespräsident und Aussenminister, Marcel Pilet-Golaz, kurz nach der Panikattacke hielt.
Wohl folgten im Lauf der Kriegsjahre zahlreiche Ereignisse oder auch nur Gerüchte über angebliche Ereignisse, die Misstrauen anfachten. Doch die beiden Vorfälle des Frühjahrs 1940, und von diesen insbesondere Pilet-Golaz’ Rede, erwiesen sich als Hypothek, die nicht zu amortisieren war.
Am 14. Mai jenes Jahres notierte ein Schaffhauser Hauptmann im Kompanietagebuch:21
Nachmittags Rgt. Rapport in Diessenhofen. Der Herr Rgt. Kdt. ermahnt alle, ruhig zu bleiben, auch wenn z. Zt viele Leute furchtbar aufgeregt seien und viele Gerüchte herumschwirrten, die Unruhe schaffen. Er sagt u. a.: «Wenn Schaffh. Generalstabsoffiziere ihre Frauen dislozieren, so darf das für uns noch kein Grund sein, nervös zu werden.»
Anschliessend Bat. Rapport in Truttikon; obwohl auch hier Ruhe herrscht, liegt in allem eine verhaltene Spannung darüber, was die nächsten Tage bringen werden. Abends werden wir noch einmal zum Bat. befohlen. […] Im Moment, da Rapport fertig, stürmt eine Ordonnanz ins Büro und ruft: «Alarm!» wir springen in die Autos und sausen zu den Kp., die bereits telef. avisiert wurden.
Nähere Nachrichten weiss von uns niemand – doch Ernst der Lage wird vom hintersten Mann erfasst. Ohne Hast macht sich die Kp. marschbereit; Material wird auf requ. Wagen verladen; um 23.15 marschiert die Kp. ab in ihren Abschnitt. Schöne, mondhelle Nacht. Alle sind still; jeder hat für sich selber zu denken. Wir sind innerlich darauf eingestellt, dass das Unheil des Krieges immer mehr auch über uns hereinzubrechen droht.
Das waren jene Tage, in denen für die Soldaten wie für die Zivilbevölkerung feststand: Jetzt wird es «losgehen». Jedermann rechnete damit, die Wehrmacht erzwinge auf ihrem Westfeldzug gegen Frankreich den Durchmarsch durch die Schweiz. Während der Grenzschutz in seinen Abschnitten Stellung bezog, herrschte im «Hinterland» enorme Aufregung, die sich zu panikartigen Fluchtbewegungen steigerte. Es waren vorwiegend Familien aus besseren Kreisen, die das Nötigste zusammenrafften und sich auf den Weg in Landesgegenden machten, die ihnen sicherer schienen. Auch wenn sich die Alarmstimmung nach einigen Tagen wieder legte, so prägten sich die Geschehnisse jenes «Frühjahralarms» zahlreichen Zeitgenossen tief ein. Denn mit einem Schlag war sichtbar geworden, dass die Abwehrhaltung des Volks vielleicht doch nicht so entschieden und kompromisslos und mannhaft war, wie sie nach offizieller Doktrin dargestellt wurde. Wie nachhaltig jenes Erlebnis war, manifestierte sich darin, dass zahlreiche Vertrauensleute des Aufklärungsdienstes in ihren Rapporten auch Jahre später, ja bis gegen Kriegsende, immer wieder darauf zurückkamen. So etwa Hans Seifert aus Zürich-Wollishofen, der während der Tage, die der Volksmund als «brenzlig» bezeichnete, in einem Bahnhof seine Beobachtungen machte (Rapport von Ende Oktober 1942):22
Ich habe bei der zweiten Mobilmachung als H. D. Motf. Dienst gemacht und bin eine ganze Nacht beim Auslad einer Berner Ter. Tor. Batt. gefahren. Hier Truppenauslad, auf der anderen Seite des Bahnhofes Einladen von Gepäck und Möbelstücken durch Zivilisten, die evakuieren. Hier hat sich mancher Soldat seine Gedanken gemacht. Zum Glück ist dies vorüber.
In den Köpfen war es nicht vorbei. Student Zweifel aus Basel schrieb nach dem Besuch eines Aufklärungskurses für Basler Hochschüler (5.7.1942):23
Ich möchte noch kurz auf eine rein praktische Detailfrage zu sprechen kommen, die sich nach dem Mai 40 ergeben hat. Bekanntlich gingen damals Gerüchte um über das Versagen von einzelnen Kdten., die den Posten verlassen hätten. In Widerstandsdiskussionen bei der Truppe gelang es mir meist, den Defaitismus bis zu dem Punkt wirksam zu bekämpfen. Dann kam aber der stereotype Einwand: Wenn ich meine Soldatenpflicht nicht erfülle, werde ich bestraft. Wenn aber der und jener Kdt. seiner Pflicht nicht genügt, kehrt er nachher unbehelligt auf seinen Posten zurück. Auf diesen Einwand konnte ich nicht viel mehr sagen, als dass ein wirklicher Soldat seine Pflicht eben auch dann tut, wenn es andere nicht tun. Es ist leicht einzusehen, dass dieses Argument wenig stichhaltig ist.
Mary Eugster, Frau eines Pfarrers im Ausserrhodischen, meldete nach Bern (14.2.1942):24
Vor gut 1 ½ Jahren hat mir auf der Hundwilerhöhe ein Inner Rhoder Offizier erklärt, ich wäre eine schlechte Stauffacherin. Er gab seiner grossen Anerkennung über Deutschlands Siege Ausdruck und überschüttete Frankreich mit Spott und Hohn. Ich entgegnete ihm, ob wir denn wirklich soweit seien, dass wir die Grösse und den Wert eines Volkes in seiner militärischen Macht sehen, zudem wüssten wir auch nicht, wie unsere Schweizersoldaten sich verhalten würden; die letzten Tatsachen an der Grenze seien nicht ermutigend. Ich stützte mich nicht auf Gerüchte, sondern auf Angaben eines Soldaten der selbst an der Grenze gewesen. Das war Anfangs Sommer 1940. Ein Hagel von Schmähworten fiel auf mich nieder, was mich stille und nachdenkend stimmte. Bin ich wirklich eine schlechte Stauffacherin?
A. Lautenschlager, Juniorpartner eines St. Galler Fotogeschäfts, hielt zum Punkt «negative Erscheinungen» fest (17.5.1943):25
An dieser Stelle möchte ich ein Beispiel anfügen, welches sich im Frühjahr 1940 zugetragen hat. Im Unterrheintal ging das Gerücht um, Deutsche Truppen sind im Anmarsch gegen die Schweizergrenze. Offiziere ungefähr zwölf zogen sich von Staad [bei Altenrhein] zurück gegen Walzenhausen. Die Mannschaft blieb zurück. Abends, während die Soldaten Wache hielten, festeten die Herren Offiziere aufs Beste in einem Hotel. So was lässt einem das Vertrauen auf die Führung der einzelnen Teile der Schweizerarmee fallen. Das fördert den Optimismus des Schweizervolkes nicht. (Begebenheit wurde von einem Soldat und einer Serviertochter selben Hotels erzählt.)
Die Schaffhauserin H. Neidhart-Ehinger, in deren Gegend der Exodus viel zu reden gab, vermerkte (31.1.1942):26
Ich frage mich, wie würden wir die Feuerprobe wohl bestehen? Wie steht es um die innere Bereitschaft? Ich möchte die Anregung machen, als Thema für einen nächsten Kurs: «Wie können wir uns für die innere Bereitschaft erziehen.»
Diese innere Bereitschaft hat in den kritischen Mai-Tagen des Jahres 1940 nach meiner Ansicht völlig versagt, als gerade Frauen höherer Offiziere ihre Haut in Sicherheit brachten.27
Bei Frau Zuberbühler, einer Kreuzlinger Geschäftsfrau, die mit ihrem Mann die Bezirksagentur einer grossen Versicherung führte, hatte sich fast drei Jahre später die Empörung über die Erlebnisse jener Tage noch nicht gelegt (20.1.1943):28
Ich habe jenen kritischen 17. Mai 1940 «in allen Formen» erlebt, wo diese Helden des Alltags sonst so hocherhaben von ihrem Selbstbewusstsein erfüllt, so schmählich den «Finkenstrich» nahmen, wo mein Dienstmädchen das Haus verliess, eine Büroangestellte ohne ein Wort der Entschuldigung binnen einer Stunde ihren Platz räumte, obwohl diese als Habe nur ihr Handtäschchen riskiert hätte. Mein Mann, unser übriges Büropersonal im Militärdienst – versuchten unser damals 10 jähr. Bub, unser Lehrbub u. ich, Haus u. Geschäft allein zu betreuen u. der uns über den Kopf wachsenden Arbeit Herr zu werden, denn jeder, der Reissaus nahm, wollte seine Fahrhabe auch noch versichert haben. Ich habe mich geschämt vor den Ausländern, die an unserem Haus vorbei den Weg zur Fabrik nahmen, dass nur soviel Stauffachergeist vorhanden war. Am meisten aber ärgerte ich mich über unsern Gemeindekassier, der als einer der Ersten seine Frau, eine Deutsche u. Anhängerin des ausl. Systems, dessen noch nicht 18 jähr. Tochter verlobt mit einem deutschen Gestapo (eine Zweite hatte sich grad knapp vorher mit einem deutschen S. A. Mann verheiratet) mit einem Taxi nach der Innerschweiz in Sicherheit bringen liess. Dann wird noch behauptet, dass solche 100 % Schweizer seien!
Noch als der Zusammenbruch des Hitler-Reichs offenkundig war und die Aussicht auf ein baldiges Kriegsende verlässlich, war der Mai 1940 nicht vergessen. Er tauchte immer wieder in den Tätigkeitsberichten auf, beispielsweise in jenem des Dr. J. Looser von Altstätten SG (20.1.1945):29
An Gerüchten habe ich, trotzdem ich alle Tage von Altstätten nach St. Gallen fahre, nicht viel gehört. Nur hie und da hörte ich Klagen, dass gewisse Offiziere, die im Mai 1940 ihre Familien fortgebracht hätten und den «Schlotter» bekommen hätten, heute noch ein Kdo. im Grenzschutz des Rheintals hätten.
Das Personal des Aufklärungsdienstes brachte solch hartnäckiges Erinnerungsritual seiner Korrespondenten in Verlegenheit: stets diese Hinweise auf die Absetzbewegung, die genommenen «Finkenstriche», die Schwächeanfälle. Seine Aufgabe bestand gerade darin, Vertrauen und Zuversicht zu verbreiten. Wie sollte er mit einem Ereignis umgehen, das völlig quer zur Ideallinie lag und dessen unerwünschte Wirkung...