E-Book, Deutsch, Band 4, 240 Seiten
Reihe: Schotti to go
Schottenberg Niederösterreich für Entdecker
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-903441-01-9
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Schotti to go
E-Book, Deutsch, Band 4, 240 Seiten
Reihe: Schotti to go
ISBN: 978-3-903441-01-9
Verlag: Amalthea Signum
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Wo Kultur und Natur einander begegnen
»Das Ferienhäusl, das mein Vater erwarb und in dem ich den Großteil meiner Kindheit verbrachte, ist längst verkauft. Nun, da ich erwachsen bin, zieht es mich wieder hinaus in den Wienerwald, nach Niederösterreich.« Mit diesen Worten beginnt die Liebeserklärung Michael Schottenbergs an seine neue Heimat. Der fantasievolle Reisephilosoph tut, was er am besten kann: Geschichten erzählen, die aus dem Herzen kommen und zu Herzen gehen. Seine Tour durch Grafenegg, Maria Gugging, Hardegg, Rossatz und viele andere Orte ist nicht nur ein literarisches Geburtstagsgeschenk an ein 100-jähriges Land, sondern auch ein einzigartiges Dankeschön an all jene Menschen, die ihm ihre Lebensentwürfe anvertrauten: Pecher und Waldrapper, Erdäpfelzüchter und Fischhäuter, Mohnwirte, Vertriebene, Sternengucker, Verpackungskünstler und Löffelmacher. Ein humorvolles Buch voller Abenteuer, Entdeckungen und Begegnungen, die lange im Gedächtnis bleiben.
Mit zahlreichen Extra-Tipps und Reisefotos in Farbe
Michael Schottenberg, geboren in Wien, prägte als Schauspieler, Regisseur, Drehbuch- und Bühnenautor das österreichische Kulturleben. Schauspieler im TV, Kino sowie an zahlreichen internationalen Theatern, Bühneninszenierungen in Wien und Berlin. Zehn Jahre lang Direktor des Volkstheater Wien, zahlreiche Preise. Seit 2015 als Reisender und Autor unterwegs. 2019 Publikumsliebling bei der ORF-Show »Dancing Stars«. Seit 2020 ist er wöchentlich als Reise-Experte im »Studio 2« (ORF 2) zu sehen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Wo Kultur und Natur einander begegnen
Niederösterreich ist hundert. Gratulation!
1920. Ein Land erfand sich selbst. Jahrhunderte währte die Ehe mit der Bundeshauptstadt, so lange – bis sie zu Ende war. Am 1. Jänner war es so weit, die Trennung wurde amtlich. Zwei Jahre sollte es dauern, bis auch die letzten Vertragspunkte ausverhandelt waren und die Geschiedenen eigene Wege gingen. Aus dem riesigen Gebiet nördlich und südlich der Donau wurde ein eigenständiges Bundesland, und der Bürgermeister von Wien war mit einem Schlag nur mehr Landeshauptmann seiner selbst. Nach dem verheerenden Krieg schrumpfte der größte Kopffüßler Europas, die Wienerstadt, zu einer Ansammlung dunkler, ausgebrannter Häuser. Der Krake, dessen Tentakeln einst den halben Kontinent umfingen, gab nicht auf, trotzdem er sich neu erfinden musste. Auch das große Agrarland, das einst wie eine Stola um die kaiserlichen Schultern lag, wusste vorerst nicht, wie es mit den neuen Herausforderungen umgehen sollte. Verwaltungseinheiten waren zu schaffen, abgesehen vom alltäglichen Überlebenskampf gegen Hunger, Armut und Not – das aber betraf beide ehemaligen Eheleute. Die Scheidungsurkunde der Neo-Bundesländer zog sich hin bis zum Jahr … 1986. So lange blieb die Tintenburg Wien die Hauptstadt Niederösterreichs. Ein neuer Regierungssitz musste her und aus der verschlafenen Provinzschönheit St. Pölten wurde eine schmucke Landeshauptstadt. Das Entlein ward wachgeküsst, und der Aufstieg zum kulturell, gesellschaftlich und politisch prächtigen Geflügel gelang. Eine Handvoll weitsichtiger Politiker vollbrachte das Kunststück, allen voran der apostolische Landesvater a. D., das Radlbrunner Christkind Erwin Pröll. Er riss das Ruder herum und formte aus der Stadt ein Schmuckstück, aus dem Land pures Gold. Chapeau! Heute präsentiert sich St. Pölten als eine lebenswerte, bestens organisierte Kleinmetropole mit beeindruckender Handschrift: Das Regierungsviertel kann sich sehen lassen, der Stadtkern ist herausgeputzt und die Ökonomie boomt. Während die einstigen Partner Wien und Niederösterreich zu alter Liebe zurückgefunden haben, sorgten die beiden Langzeitverliebten Häupl und Pröll längst für Nachwuchs. Alte Liebe rostet nicht. In St. Pölten wurde klug geklotzt und nicht, wie sonst wo, kleinmütig gekleckert. Davon kann sich Wien ruhig eine Scheibe abschneiden. In der niederösterreichischen Landeshauptstadt sieht man innovatives Theater, in Krems studiert man, nach Mistelbach fährt man, um Schüttkunst zu erleben, nach Baden bei Wien, um Operettenlieder zu hören. Das Land ist längst von der verschreckten Provinzpflanze zur stolzen Mittelpunktsranke mutiert. Dass das so bleiben möge, ist dem jubilierenden Land zu gönnen. 1958. Ein Mann mit Hut lehnt lässig am gelben Opel Rekord, der unmittelbar vor dem grauen Zinshaus parkt, dessen Fassade mit Einschusslöchern aus dem letzten Krieg gezeichnet ist. „Schnell, der Vater wartet!“ Hastig tun die Frauen letzte Handgriffe, die Omama packt doppelt belegte „Brode“ (ihre ungarische Herkunft kann sie nicht verleugnen) ein, nebst dem unvermeidlichen Apfel für das Kind. Aber das Kind will keinen Apfel. Es hasst Äpfel. Der Vater schnippt den Nil-Kaiser in den Gulli, dann zwängt er sich hinters Volant. Vielleicht sollte er doch einmal dem ewigen Penzen seines Pupperls folgen und mit einer kleinen Zwischendurch-Diät beginnen. Er hupt. Hastig stürmen die beiden Frauen, bepackt mit Binkel und Packl, aus dem Haustor, gefolgt vom Kind, dessen dünne Haare mit einem Spangerl zur Seite gezurrt sind. Der Kleine hasst nicht nur Äpfel, er hasst auch Spangerln – und Strumpfhosen obendrein, aber da hat er keine Chance, weil auf die besteht die Mutter, zumindest in der Übergangszeit, und damit sind jene Monate gemeint, die zwischen Winter und Frühjahr, Sommer und Herbst und Herbst und Winter liegen. Auch im Auto behält der Vater den Hut auf. Damit nicht genug, jetzt zieht er auch noch die Wildlederhandschuhe an, um nicht vom Lenkrad abzurutschen, man weiß ja nie. Der Gasfuß drückt aufs Pedal, der Motor röhrt auf. Der Opel beschreibt einen „Winnetou“, so sagt man, wenn der Fahrer eine Hundertachtzig-Grad-Halse hinlegt, und ab geht’s in Richtung Schönbrunner Tor. Am Beginn des Grünen Berges hört man vom Wacker-Wien-Platz ein Gejohle, was bedeutet, dass die Heimmannschaft ein Goal geschossen hat. Gegen Fußball ist die Mutter allergisch, weshalb die Fensterscheibe hinaufgekurbelt wird. „Mach das Fenster auf, Pupperl, ich ersticke“, sagt der Vater. Fenster auf. „Es zieht“, raunzt die Omama, die im Fond sitzt. Fenster zu. Der Kleine wird nicht gefragt. In Mödling, im Süden Wiens, endet die Fahrt fürs Erste. Inzwischen wurde der Bub mit Apfelspalten versorgt, der aber hasst die Fütterung, weil die Finger der Omama nach Maggi riechen. Er hasst diesen Geruch. Der Vater hupt. Am gegenüberliegenden Gehsteig steht eine dicke Dame, die gewisse Frau Plsek, und winkt. Als sie ins Auto steigt, hört man, dass ihre Oberschenkel aneinanderreiben und ein seltsam sirrendes Geräusch erzeugen. „Nylonreiber“ nennt man das, und das weiß der Erstklassler von seinem Schulfreund, dem rothaarigen Werner Karli, der zwar alles andere als ein Freund ist, weil er den Buben während des gemeinsamen Schulweges regelmäßig verprügelt, aber das Wissen um versteckte Geräusche verdankt er halt doch dem „Feuerpatsch’n“, wie manche in der Klasse zum Karli sagen. Mit großstädtischem Schwung hält der Vater die Wagentüre auf, und sein „Pupperl“ mit der Dauerwellenfrisur wechselt in den Fond, während sich die Plsek auf den Beifahrersitz fallen lässt. Die Dicke ist Maklerin, das heißt, sie vermittelt Häuser, die gekauft werden – oder eben nicht. Ihr Risiko. Der Vater lässt den Motor aufheulen und ab nun wird die ganze Fahrt über geredet und geredet, die Vor- und Nachteile eines Eigenheims besprochen und das finanzielle Risiko abgewogen. Der Opel ist schneidig unterwegs zu jenem Ort, der zu meiner zweiten Heimat werden sollte: ein Dorf, in dem die Felder noch mit Pferden bestellt wurden und die Schweine aus den Wohnküchen quiekten. Genau in einem solchen „Kuhdorf“ wollten die Eltern ein „Ferienhäusl“ für die Sommerfrische kaufen, wie sie sagten. Das aber weiß der Bub zum Zeitpunkt des Einsteigens der Frau Maklerin Plsek noch nicht. Was er weiß, ist dies: Die Dicke riecht nach Fisch. Kaum nämlich hat sich die Reisegesellschaft in Bewegung gesetzt, entfaltet sie auch schon ein Butterbrotpapier und legt ein Mordstrumm Stück Scholle frei, das in reichlich Fett herausgebacken wurde. Im Auto wird es still. Der Vater schnippt mit dem Finger, das tut er, wenn seine Hände das Lenkrad umfassen und er nervös ist. Er schnippt also, während die Mutter das Fenster herunterkurbelt, die Omama eine neuerliche Apfelspalte abschneidet und sie mit ihren Maggi-Fingern dem Buben in den Mund stopft – die Gelegenheit ist günstig, denn der hat alle seine Sinne auf die Frau Plsek gerichtet. Die ganze Fahrt über schnabuliert die Maklerin am Fisch herum, wie die Omama später nicht müde wird zu erzählen. In der Hinterbrühl ist der Fisch Geschichte, und während der Wagen das berühmte Gasthaus Höldrichsmühle passiert, kommt Frau Plsek zur Nachspeise. Ein riesiger Pfirsich landet auf dem Fischpapier und wird mit einem Taschenfeitel fachgerecht zerlegt. Der Saft trenzt auf den Plsek’schen Schoß, während der Vater schnippt, die Mutter auch das gegenüberliegende Fenster herunterkurbelt und die Omama die letzte Apfelspalte im Mund des Spangerlbuben versenkt. Wir sind da. Der Vater steigt aus und fingert nach einer Belohnungs-Nil. Ronson. Flamme. Nicht hält er der Maklerin die Autotüre auf, denn kaum sind wir angekommen, hat er nur noch Augen für das „Objekt“. Alle bis auf die beleibte Plsek steigen aus. In einem schönen, großen Obstgarten liegt ein verfallenes „Pförtner-Häusl“. Vater, Mutter und die Omama umrunden es und wackeln mit den Köpfen. Ich wage nicht, die dicke Frau anzusehen, denn mir gefällt hier genau nichts. Ich weiß nur eines. Meine neue Leibspeise ist Backfisch und Pfirsich, beruflich wäre ich am liebsten Maklerin, und das alles muss ich unbedingt dem Werner Karli erzählen, vielleicht verprügelt er dann nicht mich, sondern die Plsek. 2020. Alles war wohlüberlegt, gut geplant und mit Bedacht gewählt, nur die Vorbereitungen, die ließen sich Zeit. Es brauchte eine Menge Geduld, aber bei großen Entscheidungen ist das so. Auch das Gepäck konnte sich sehen lassen: So ziemlich alles, was sich in den letzten Jahren angesammelt hatte, musste mit. Über die Dauer dieser Reise mochte ich mir keinen Kopf machen. Nun, da so vieles hinter mir liegt, wollte ich...