Schräpler / Steiner | Systematische Fallarbeit in der Logopädie | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 134 Seiten

Schräpler / Steiner Systematische Fallarbeit in der Logopädie

Grundlagen und Beispiele

E-Book, Deutsch, 134 Seiten

ISBN: 978-3-17-036903-0
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Professionell tätige Logopädinnen und Logopäden führen Fach- und Fallwissen zusammen und gestalten aus der Theorie die Praxis. Dieses Buch bietet eine Systematik und Unterstützung auf dem Weg dorthin. Obwohl jeder Fall individuell ist, folgt die Herangehensweise jeweils einem geregelten Ablauf, der Fall-Kaskade. Das Buch stellt die Kaskade als generelles Modell für die jeweilige Arbeit vor und konkretisiert dieses für ausgewählte Aufgabengebiete wie Stimmstörungen, Stottern und andere Indikationen. Die Bedeutung von Modellen für die Fallarbeit und die Bedeutung der Fallarbeit für die Forschung werden zudem angesprochen.
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2          Vom Fachwissen zur Fallkompetenz in der Logopädie. Zur Bedeutung der Kasuistik in der therapeutischen Praxis
Andrea Haid, Ute Schräpler & Jürgen Steiner
1           Zur Bedeutung der Kasuistik in der therapeutischen Praxis
Begriffsklärung Kasuistik ist die Versachlichung des Prozesses, Menschen mit einem Anliegen bzw. einem Problem zu begleiten. In der Logopädie sind dies Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckprobleme. Der Fall ist demnach nicht eine Person, sondern die Gesamtheit des Problemzusammenhangs bzw. ein Vorfall zur professionellen Bearbeitung. Die Herangehensweise an einen Fall ist methodisch der Hermeneutik zuzuordnen. Es geht darum, den Weg vom Phänomen in seinem Kontext über das Verstehen in der Rückschau und im Jetzt zum Sinn zu beschreiten (vgl. Wernet 2006). Das Wort Einzelfall ist nicht zufällig doppeldeutig: Einerseits handelt es sich um einen Vorgang, in dem sich Ratsuchende einer helfenden Profession anvertrauen, wie z. B. in der Medizin, in der Psychotherapie, in der Juristik, in der Pflege oder in der Logopädie, und andererseits bedeutet Einzelfall die Ausnahme von der Regel. Bei Bildung von Komposita entstehen Begriffe wie Fallanalyse, Fallrekonstruktion, Fallbeschreibung, Fallbesprechung, Fallvorstellung, Fallarbeit, Fallführung, Falldokumentation, Fallstudie oder Fallvignette, die alle in medizinischen und in therapeutischen Berufen und somit auch in der Logopädie bedeutsam sind. Die in diesem Buch dargestellte Kasuistik bzw. Fallarbeit bezieht sich auf die Systematik der Bearbeitung von Fällen in der Praxis. Die Aspekte der fallorientierten Ausbildung und die Methodik der Therapieforschung anhand von Einzelfällen sollen nicht zum Gegenstand werden, da das vorliegende Werk als Lehr- und Praxisbuch zu verstehen ist. Im ersten Beitrag werden theoretische Bezüge für die praktische Herangehensweise an einen Fall in der Logopädie dargestellt. Sie münden in einem Kaskadenmodell, auf das in den darauffolgenden Fällen von den Autoren Bezug genommen wird. Einzigartigkeit und Leitplanken Logopädisch tätig zu sein heißt, Menschen auf der personellen Ebene zu begleiten. Auf der sachlichen Ebene kann von der Bearbeitung von Fällen gesprochen werden. Dabei ist einerseits jeder Fall einzigartig, andererseits gibt es ein zu erwartendes, konsensfähiges Vorgehen, das über Studien sowie Experten- und KollegInnenmeinungen abgesichert ist und definierten Schritten folgt. Das Fachgebiet der Logopädie mit Interventionen bei Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen mit entsprechend vielen Handlungsfeldern, auch in Randbereichen und über die gesamte Lebensspanne, ist sehr breit. Deshalb kann die Logopädin zwar beim »klassischen Fall« auf ein prototypisches Vorgehen Bezug nehmen, in vielen Fällen agiert sie aber mit eher schwachen Leitplanken, d. h. die Orientierung im Fall ist durch Komplexität, Individualität und Einzigartigkeit erschwert. Die Recherche der Studienlage als Suche nach Evidenz ist in vielen konkreten Fällen des Berufsalltags wenig gewinnbringend. Anhand folgender drei Beispiele wird dies deutlich: •  Eine Patientin mit einer Alt-Singstimme singt im Abendprogramm in einem Chor. Gleichzeitig nimmt sie sprechend die Rolle der Moderatorin des Abends wahr. Am Abend wird sie über den Wechsel von Sing- zur Sprechstimme heiser. •  In der Akut-Rehabilitation wird ein 73-jähriger Patient nach einem neuerlichen Infarkt angekündigt; neuropsychologische Probleme wie Aufmerksamkeit und Orientierung dominieren das klinische Bild. •  Ein 18-jähriger junger Mann meldet sich mit einer Mutationsfistelstimme in der logopädischen Praxis. Eine Therapie vor drei Monaten bei einem Psychologen war erfolglos. Definition Fallarbeit in der Logopädie Professionelles logopädisches Handeln ist ein Prozess auf der Grundlage von Fachwissen. Es ist modellbasiert und damit in komplexen, heterogenen Ausgangslagen begründet. Durch eine Vielzahl von Handlungsoptionen können Unsicherheiten reduziert und fallgerechte, personenzentrierte Angebote, die für eine Lösungsorientierung passend sind, unterbreitet werden. Menschenbild Das persönliche Menschenbild leitet das Handeln in der Therapie. Es prägt Haltungen, Erwartungen, Aktionen und Erinnerungen. Die heilpädagogische Sicht nimmt darauf Bezug, was Menschen wollen. Das Selbst lässt sich über die Grundbedürfnisse beschreiben (vgl. Kitwood 2013, Grawe 1998 sowie 2004, Largo 2017, Steiner 2018). Jeder Mensch ist bestrebt, •  etwas wert zu sein (Anerkennung), •  dazuzugehören (Kontakt), •  etwas Sinnvolles zu tun (Selbstentfaltung, Aktivität) und •  angesprochen zu werden (Gespräch). Der Fall ist der Fall des Betroffenen Die Betroffenen sind Eigner ihres Falles. Das bedeutet, dass jeder einzelne Schritt zur Bearbeitung, von der Anamnese bis zur Evaluation, nicht nur die Zustimmung und Transparenz des Vorgehens, sondern den aktiven Einbezug des jeweiligen Patienten im Sinne einer partizipativen Zusammenarbeit bedarf. Für das Verstehen braucht es den Einblick in dessen Biografie. Die Lebensgeschichte (Familie, Beruf, Bildung, Heimat) und die Krankheitsgeschichte mit den entsprechenden Erinnerungen und Vorstellungen sollten in der Therapie gehört werden. Es kann entweder eine Chronologie der Ereignisse im Zentrum der Schilderung stehen oder wiederkehrende Themen in punktuellen Situationen. Der Ausgangspunkt der logopädischen Fallpraxis ist das Verstehen der Lebenshistorie, der Lebenslage und der Lebensperspektive. Die aktuelle Lebenslage kann entwickelt werden, einmal durch eine persönliche Gestaltung, der Selbststeuerung, aber auch durch äußere Lebensumstände und Rahmenbedingungen, die als Fremdsteuerung subsumiert wird. Die logopädische Begleitung der betroffenen Person kann hier verortet werden ( Abb. 2.1). Abb. 2.1: Lebenskontext und Therapie (inspiriert nach Wendt 2018) Dieses Verstehen ist der Ausgangspunkt für die Einleitung eines Verfahrens mit konkreten Schritten unter Wahrung von Zuständigkeiten, rechtlichen Bedingungen und ethischen Grundsätzen. Für logopädische Entscheidungen braucht es neben dem fachlichen Spezialwissen ein Grundlagen-, Interaktions- und Organisationswissen (vgl. Messmer 2017). Teilweise können rechtliche, gesellschaftlich-politische, institutionelle und teambezogene Vorgaben ein fach- und fallgerechtes Vorgehen fördernd, aber auch hemmend beeinflussen. Fachliche Qualitätsvorstellungen, die durch gesellschaftspolitische, institutionelle und teambezogene Vorgaben beschränkt sind, stellen dabei eine besondere Herausforderung dar. Wenn die fachlichen Qualitätsvorstellungen durch gesellschaftspolitische, institutionelle und teambezogene Vorgaben beschränkt werden, ist eine Klärung oder Auseinandersetzung notwendig. Das Leitmotiv der Fallbearbeitung sollte immer die Perspektive der Betroffenen sein. Dabei dürfen Organisationsinteressen in Frage gestellt werden. Fallverstehen und Ethik Menschen haben das Potential, für sich selbst zu entscheiden (Autonomie). Respekt, Würde, Hoffnung und Erwartung der Entwicklung, der Einbezug und die Selbststeuerung leiten sich hieraus ab. Die Logopädin versteht sich als Anwältin der Betroffenen und sichert bzw. wahrt die Autonomie (Baumgartner 2008). Sie wehrt Gefährdungen der Autonomie insbesondere dann ab, wenn die Betroffenen diese Abwehr nicht oder nur schlecht selbst realisieren können. Damit sind zum Beispiel gemeint: •  unabgesicherte oder stigmatisierende Zuschreibungen in Berichten bzw. ablenkende, irrelevante und ausschmückende Details; •  Ausschluss von Informationen während oder nach der Therapie (z. B. verdeckte oder nicht bekannt gegebene Notizen mit negativen Wertungen); •  Verletzung der Pflicht zur Vertraulichkeit. Logopädische Berichte sind demnach fokussiert, parteinehmend und schützend (ASHA 2016). Sie bleiben nah an den Schilderungen der Betroffenen hinsichtlich der Informationen über Auslöser bzw. kritische Ereignisse oder psychosomatische Belastungen und meiden interpretative Hinzufügungen ohne datengesicherte Grundlage. Sie würdigen zurückliegende Bearbeitungen des Problems durch die Betroffenen. Der Leser des Berichts erhält neben den fachlichen Informationen ein Bild über die Lebenszusammenhänge mit Beispielen, wie sich das Problem darstellt. Die Betroffenen werden zur Einsichtnahme eingeladen. Diese Vorgaben gelten für Berichte wie...


Dr. Ute Schräpler ist Dozentin an der Professur Berufspraktische Studien und Professionalisierung an der Fachhochschule der Nordwestschweiz in Muttenz. Professor Dr. Jürgen Steiner lehrt an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich mit den Schwerpunkten Diagnostik, Kindersprache und neurogene Sprachstörungen.


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