E-Book, Deutsch, 226 Seiten
Schramm Symbolische Formung und die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7445-0842-1
Verlag: Herbert von Halem Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, 226 Seiten
ISBN: 978-3-7445-0842-1
Verlag: Herbert von Halem Verlag
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Wir leben in einer Welt verschiedener Sprachen, Schöpfungsgeschichten und GeSetzestexte und haben als Einzelne an Kultur und Gesellschaft teil, indem wir unterschiedliche Dialekte oder Sprachen sprechen, lieber Theater als Oper mögen, an den Gott der Bibel und nicht an Zeus glauben, einen Ladendieb bei der Polizei anzeigen und ihm nicht die Hände abhacken, oder lieber Android als iOS benutzen. Sobald man sich zu wundern beginnt, wieso all das meistens funktioniert, hat man philosophische, soziologische und gesellschaftstheoretische Fragestellungen aufgeworfen. In dem vorliegenden Band wird Kultur als Ganzes in den Blick genommen und von kulturphilosophischer und wissenssoziologischer Seite her untersucht. Mit Hilfe der Philosophie der symbolischen Formen Ernst Cassirers und der Wissenssoziologie Peter Bergers und Thomas Luckmanns werden philosophische und sozialwissenschaftliche Fragestellungen ineinander verschränkt. Der wechselseitige Erklärungswert beider Theorien ist frappierend und es stellt sich heraus, dass Cassirer und Berger/Luckmann auf die gleichen Phänomene der Welt blicken, sie aber unterschiedlich benennen, da sie zwar verschiedenen Fachdisziplinen, aber der gleichen Denktradition angehören. Dabei wird deutlich, dass ›kulturell‹ und ›sozial‹ nur verschiedene Bezeichnungen für unterschiedliche Perspektiven auf Welt und Wirklichkeit sind, denn die Probleme der kulturellen Vermitteltheit von Wahrnehmung bei Cassirer und der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit bei Berger/Luckmann sind im Grunde genommen die gleichen.
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2. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit als Kulturphilosophie
2.1 Berger/Luckmanns Grundbegriffe Berger/Luckmann beschäftigen sich im protosoziologischen ersten Teil der Gesellschaftlichen Konstruktion mit den für sie wichtigsten Elementen der Lebenswelt, nämlich Interaktion, Wissen und Sprache. Daran anschließend entwickeln sie im zweiten Teil eine Institutionalisierungstheorie, mit deren Hilfe sie die Gesellschaft als objektive Wirklichkeit untersuchen. 2.1.1 Lebens- und Alltagswelt Der Berger/Luckmanns Theorie zugrunde liegende Begriff ‚Lebenswelt‘ wird von Schütz geprägt, geht aber ursprünglich auf Husserl zurück. Husserl bezeichnet Lebenswelt als „Universum vorgegebener Selbstverständlichkeiten“56 und schreibt: „Die Lebenswelt ist [...] für uns, die in ihr wach Lebenden, immer schon da, im Voraus für uns seiend, ‚Boden‘ für alle, ob theoretische oder außertheoretische Praxis. [...] Leben ist ständig In-Weltgewißheit-leben.“57 Husserl folgend, stellt sich die ‚Lebenswelt für den Einzelnen immer als Einheit dar und die Relativität der Lebenswelt, also ihre Fragmentierung in unterschiedliche Bereiche, wird in der Regel von den Individuen nicht beachtet.58 Die sehr detaillierte und umfangreiche Analyse Husserls zum Begriff ‚Lebenswelt‘ kann und soll hier nicht zum Thema gemacht werden. Daher wird auf eine treffende Zusammenfassung und Charakterisierung des Husserlschen Lebensweltbegriffs bei Blumenberg verwiesen. Blumenberg schreibt, die Lebenswelt stellt sich bei Husserl als ein „zu jeder Zeit unerschöpflicher Vorrat des fraglos Vorhandenen, Vertrauten und gerade in diesem Vertrautsein Unbekannten [dar]. Alles, was in der Lebenswelt wirklich ist, spielt in das Leben hinein“59. Und weiter: „Die Lebenswelt ist […] dasjenige Faktum, das seine eigene Faktizität selbst verhüllt und verbirgt, insofern es sich als das Universum der Selbstverständlichkeit ausgibt; das aber bedeutet zugleich, daß jede aus dieser Lebenswelt heraustretende Umstellung, vor allem und in einzigartiger Weise aber die theoretische Umstellung, diese Faktizität der unmittelbar vorgegebenen Wirklichkeit unübersehbar auffällig machen muss.“60 Blumenberg beschreibt damit einerseits die praktische Lebensumwelt des Menschen und andererseits die anthropologischen Bedingungen eines Mensch-Welt-Verhältnisses, die Husserls Lebensweltbegriff ausmachen. Bei Schütz nimmt der Begriff ‚Lebenswelt‘, aufbauend auf Husserl, eine tragende Rolle ein. ‚Lebenswelt‘ ist für Schütz kein genuin soziologischer, sondern ein phänomenologischer Begriff, der von Husserl als Korrektiv hinsichtlich der Reflexionslosigkeit der positivistischen Wissenschaft eingeführt wird. Husserl will Philosophie als Meta-Wissenschaft etablieren, die den anderen Disziplinen reflexive Grundlage sein kann. Die Lebenswelt ist als egologisches Gebilde völlig subjektiv verfasst und damit in der konkreten Ausformung unendlich verschieden.61 Schütz dagegen sieht in der Lebenswelt eine universelle Matrix, denn alle gesellschaftlich konstituierte Wirklichkeit ruht auf der subjektiven Orientierung in der Welt. Schütz’ Untersuchung der Ontologie der Lebenswelt ist insofern sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung, als dass er versucht, zunächst die invarianten Strukturmerkmale der Lebenswelt und dann die Wirklichkeit, wie sie in individuellen Bewusstseinsvorgängen konstituiert wird, zu beschreiben.62 Genau dieser Meinung ist auch Natanson, der Herausgeber der Collected Papers von Schütz, wenn er Schütz’ Lebensweltbegriff definiert als „the Life-world [which] encompasses the rich totality of common-sense experience lived through by the individual in his concrete existence.“63 Die Lebenswelt integriert folglich alle Wirklichkeitsbereiche des Individuums und lässt sich „als das Insgesamt von Sinnwelten“64 definieren. Damit erhält der Begriff ‚Lebenswelt‘ die Funktion eines totalisierenden Konzeptes. Kritisch anzumerken ist allerdings, dass Schütz/Luckmann nicht immer scharf zwischen den Begriffen ‚Lebenswelt‘, ‚Vorzugsrealität‘ bzw. ‚vornehmlichstem Sinngebiet‘ unterscheiden65, und in unklarer Abgrenzung davon mit dem Begriff ‚Alltag‘ häufig den ‚vornehmlichsten Wirklichkeitsbereich der Lebenswelt‘ bezeichnen.66 In den Mittelpunkt rückt der Begriff ‚Lebenswelt‘ bei Schütz/Luckmann dann in der Zusammensetzung ‚alltägliche Lebenswelt‘. Diese ist klar bestimmt als „jener Wirklichkeitsbereich […], den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet. Mit ‚schlicht gegeben‘ bezeichnen wir alles, was wir als fraglos erleben, jeden Sachverhalt, der uns bis auf weiteres unproblematisch ist.“67 Wenn Berger/Luckmann nun in der Gesellschaftlichen Konstruktion über die Wirklichkeit der Alltagswelt sprechen, dann meinen sie genau diesen von Schütz geprägten Begriff ‚alltägliche Lebenswelt‘. Dieser lässt sich beispielhaft – wenn auch mit Abstrichen – auf die Wirklichkeit der gesamten Lebenswelt übertragen. Berger/Luckmann binden die Lebenswelt des Alltags bzw. die alltägliche Lebenswelt eng an einen zentralen Begriff ihrer Theorie der Wissenssoziologie: den Begriff ‚symbolische Subsinnwelt‘. Sie führen den Begriff ‚symbolische Subsinnwelt‘ schleichend ein, das heißt, sie beginnen, ihn in der ersten Hälfte ihres Buches regelmäßig zu verwenden und liefern erst später eine Explikation nach.68 Symbolische Subsinnwelten sind gesellschaftlich abgetrennte Wirklichkeitsbereiche, die in Folge der institutionalen Auffächerung der Gesellschaft entstehen, und die ihre Struktur den verschiedensten Kriterien verdanken können: „Geschlecht, Alter, Beruf, religiöse Überzeugung, ästhetische Vorlieben und so fort.“69 Berger/Luckmann schreiben weiter: „Mit dem Auftreten von Subsinnwelten entwickelt sich eine Vielfalt der Perspektiven, unter denen sich die Gesamtgesellschaft betrachten lässt; sie wird von jedem Standpunkt her in einem anderen Blickwinkel gesehen. […] Die Vielfalt der Perspektiven erschwert es natürlich, die gesamte Gesellschaft unter ein Dach, das heißt unter ein integrierendes Symbolsystem zu bringen.“70 Mit ihrem Begriff ‚symbolische Subsinnwelt‘ entwerfen Berger/Luckmann gleichzeitig ein Gegenkonzept zur trivialisierten Form der Marx'schen Basis- Überbau-Theorie,71 indem sie den relativ autonomen Subsinnwelten zugestehen, dass sie auf die Gesellschaft, aus der sie entstanden sind, zurückwirken. Entscheidend für Berger/Luckmanns Wissenssoziologie ist dabei die zugrunde liegende Dialektik von Wissen und gesellschaftlicher Basis.72 Der Begriff ‚symbolische Subsinnwelt‘ spielt auch in der hier vorliegenden Untersuchung eine zentrale Rolle und wird im vierten Kapitel direkt mit Cassirers Konzept der symbolischen Formen verglichen. 2.1.2 Interaktion Berger/Luckmann entwickeln anders als in Gesellschaftstheorien,73 bei denen der Einzelne der Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft gegenübergestellt wird, den Ansatz, dem Einzelnen den Anderen gegenüberzustellen: als Alter Ego oder signifikanten Anderen.74 Ausgehend von der Frage, wie der Andere in der Alltagswelt erlebt wird und wie Interaktion entwicklungspsychologisch beschrieben werden kann, stellt die Vis-à-vis-Situation oder face-to-face-Beziehung75 für Berger/Luckmann die fundamentale Erfahrung des Lebens in der gesellschaftlichen Wirklichkeit dar: „Mein und sein ‚Jetzt und Hier‘ fallen zusammen“76, und so kommt es zur direkten Konfrontation mit dem Anderen.77 Bezugnehmend auf Theodor Litt nennen Berger/Luckmann die gegenseitige Bezugnahme im ‚Hier und Jetzt‘ Reziprozität,78 womit Litt den Kontakt eines Ichs mit einem Du bezeichnet, bei dem verschiedene Relationen, wie z.B. Zeitlichkeit, Raumwirklichkeit, Wissen um Dinge usw. zum Tragen kommen. Dabei ist es für Litt nicht nur von Bedeutung, dass ein Kontakt stattfindet, sondern auch das strukturelle Wie, denn es handelt sich nicht um eine einfache analoge Übertragung (aus der Haltung des denkenden, vergleichenden Subjekts heraus).79 Berger/Luckmann argumentieren, dass die Reziprozität gegenseitiger Ausdrücke den Zugang zueinander eröffnet; also das Subjekt-Sein des Anderen wahrgenommen wird. Sie schreiben: „In der Vis-à-vis-Situation ist der andere völlig wirklich.“80 Das führt zu einer Art ‚Selbstvergessenheit‘ in der Interaktion mit dem Anderen. Der Andere ist während der Interaktion dem Ich wirklicher, als es sich selbst ist. Denn will das Ich sich selbst erfassen, muss es innehalten, die Spontaneität stoppen und sich auf sich selbst besinnen; quasi rückwärts oder nach innen. Dieses Innehalten, diese Reflexion, nennt Schütz in Anschluss an Husserl epoché.81 Die Vis-à-vis-Situationen als Grundlage der Interaktion in der Alltagswelt sind sehr flexibel, gleichzeitig aber trotzdem hochgradig typisiert. Ein Beispiel dafür sind die Typisierungen82 der alltäglichen Kommunikation, vor allem und in erster Linie durch Sprache. Durch Typisierungen sind Vis-à-vis-Situationen vom Anderen erfassbar, wobei die in der jeweiligen Situation vorgegebenen Typisierungen reziprok sind, das heißt vom Gegenüber ebenfalls angewendet werden. So wissen z.B. die an einem Kauf Beteiligten, wer Käufer und wer Verkäufer ist, und...