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E-Book, Deutsch, Band 6448, 203 Seiten

Reihe: Beck Paperback

Schröter Allahs Karawane

Eine Reise durch das islamische Multiversum

E-Book, Deutsch, Band 6448, 203 Seiten

Reihe: Beck Paperback

ISBN: 978-3-406-77493-5
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Muslim*Innen, die neben Allah die Göttin des Südmeeres verehren, das rituelle Fasten durch Arbeit ersetzen oder den Koran feministisch auslegen: Susanne Schröter führt kurzweilig durch unbekannte Kulturen des Islams, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie gehören zu den bedrohten Arten, die von Fundamentalisten und Radikalen bekämpft werden. Das anschauliche Buch ist ein längst überfälliger Einspruch gegen die fatale Verkürzung der zweitgrößten Weltreligion auf wenige Prinzipien und eine Einladung, den Islam in all seiner Vielfalt und Farbigkeit neu zu entdecken.
Die tanzenden Derwische in der Türkei haben eine eigene Orthodoxie ausgebildet, während es auf dem Balkan seit langem einen unorthodoxen, genuin europäischen Islam gibt. Im Sudan unterläuft der Zar-Kult rigide Scharia-Regeln. Im Senegal leiten mächtige Scheichs zu einem Leben im Rhythmus von Gebet, Arbeit und Musik an. In Malaysia existieren alte muslimische Matriarchate, während in den USA eine progressive muslimische Subkultur blüht und in Deutschland liberale Vereinigungen mit Imaminnen entstehen. Mit den Ibaditen im Oman ist eine traditionell tolerante Glaubensrichtung zu entdecken. In Pakistan haben sich Sufi-Heiligtümer zu gesellschaftlichen Freiräumen entwickelt, auch für Transgender. Auf der Insel Java ist der Islam mit Hinduismus und Buddhismus verschmolzen, und in China entwickelt sich unter den Augen der KP ein interreligiöser Islam. Susanne Schröters erstaunliche Reise durch das islamische Multiversum zeigt auf schönste Weise, dass die zweitgrößte Weltreligion vielfältiger, diverser, kreativer und pragmatischer ist, als es uns islamische Fundamentalisten und wütende Islamkritiker glauben machen wollen.
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1. TÜRKEI
Drehende Derwische und der laizistische Staat
Südlich von Ankara liegt die Stadt Konya. Hier lebte im 13. Jahrhundert der Poet Rumi, dessen Liebeslyrik als Inbegriff des sufistischen Strebens nach einer Vereinigung mit Gott gilt. Diesem Ziel dient auch das schnelle rituelle Drehen um die eigene Achse, das einige der Anhänger Rumis praktizieren, um in einen ekstatischen Zustand zu gelangen. Spiritualität bedeutet aber keineswegs Weltentsagung. Viele sufistische Bruderschaften agierten in der Vergangenheit machtbewusst und übten großen Einfluss auf die Politik des Osmanischen Reiches aus. Nach dessen Zusammenbruch und der Gründung der modernen Türkei als laizistischem Staat wurden sie aufgelöst. In den verborgenen Nischen der Republik überlebten sie jedoch den säkularen Furor und kehrten schließlich in die Öffentlichkeit zurück. Zwischen Spiritualität und Scharia
Der Sufismus gilt in westlichen Ländern als schöne Seite des Islams. Man denkt unvermittelt an den persischen Dichter Hafis, der die deutsche Orientwissenschaft des 19. Jahrhunderts begeisterte und Goethe inspirierte, oder an den Philosophen Ibn al-Arabi, der als Advokat interreligiöser Toleranz im spanischen al-Andalus wirkte. Fast immer wird der Sufismus mit Innerlichkeit und Frieden assoziiert. Sowohl wissenschaftliche als auch feuilletonistische Darstellungen sind nicht selten schwärmerisch. Die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel zitierte in ihren Abhandlungen Gedichte über blühende Gärten «mit duftenden Rosen und klagenden Nachtigallen», die «zu Symbolen für die göttliche Schönheit und die Sehnsucht der Seele» würden, und berichtet von Gipfeln «der höchsten theosophischen Weisheit».[1] Daher verwundert es nicht, dass sich manch einer von einer Stärkung dieser Spielart des Islams ein Allheilmittel gegen den Islamismus, besonders in dessen gewalttätiger Form, verspricht. So bezeichnete der Schriftsteller Ilija Trojanow den Sufismus nicht nur als undogmatische und antiautoritäre Variante des Islams, sondern auch als wichtige Kraft gegen Extremismus.[2] Ähnlich äußerte sich der pakistanische Kolumnist Syed Qamar Afzal Rizwi. Der Sufismus verkörpere Humanismus, Mitmenschlichkeit und Philanthropie und damit wichtige Grundwerte des Islams, schrieb er. Wenn sich Muslime darauf konzentrierten anstatt einer schariazentrierten Orthodoxie das Wort zu reden, schüfen sie ein Gegengewicht gegen den islamischen Extremismus und die wachsende Islamfeindlichkeit gleichermaßen.[3] Mevlevi-Derwisch in Konya, 1888 Dieses begeisterte Bild vom Sufismus entspricht jedoch nur bedingt der Realität. Der Sufismus ist keine einheitliche Strömung, sondern zerfällt in Bruderschaften, die sehr unterschiedlich verfasst sind, und es gibt sogar Sufis, die unabhängig von religiösen Organisationen ihren eigenen spirituellen Weg gehen. Der Begriff «Sufismus» leitet sich vermutlich von dem Wort suf für Wolle ab und soll auf die einfache Kleidung der ersten Anhänger dieser mystischen Tradition verweisen, denen die Beziehung zu Allah wichtiger war als irdische Güter.[4] Eine Abkehr von der materiellen Welt ist auch in dem persischen Terminus derwisch angelegt, der übersetzt «Bettler» bedeutet. Bereits in der Frühzeit des Islams gab es Asketen wie den irakischen Theologen Hasan al-Basri (642–?728), der dem Weltlichen entsagt und sich nur noch der Meditation und dem Koran gewidmet haben soll. Eine Reihe von muslimischen Gelehrten und Dichtern, die dem Sufismus zugerechnet werden, positionierte sich vollkommen außerhalb der Schulen islamischer Normenlehre, die die Orthodoxie begründeten. Das zeigt sich eindrucksvoll an einer Begebenheit aus dem Leben der Mystikerin Rabia al-Adawiyya (714–?801). Als sie mit einer Fackel in der einen und einem Eimer Wasser in der anderen Hand durch ihre Heimatstadt Basra eilte und gefragt wurde, wohin sie denn wolle, soll sie geantwortet haben, sie wolle in die Hölle und dort das Feuer löschen und danach in den Himmel, um ihn in Brand zu stecken.[5] Viele Sufis lehnten die verbreitete Lehre ab, nach der Muslime den Nichtmuslimen überlegen sind und die zu einem zentralen Merkmal der Orthodoxie werden sollte. Dafür steht etwa der Philosoph Ibn al-Arabi (1165–?1240), der seine spirituellen Erfahrungen nicht in das enge Korsett einer religiösen Zugehörigkeit pressen wollte. Wie andere islamische Mystiker verband er neuplatonische, gnostische und islamische Elemente miteinander. Das schloss Engstirnigkeit und fundamentalistische Überheblichkeiten per se aus. «Mein Herz ist fähig, alle Formen anzunehmen», schrieb er in einem Gedicht. Es sei «eine Weide für Gazellen, ein Kloster für den Mönch, ein Tempel für die Götzen und eine Kaaba für den, der sie umkreist. Ich bekenne die Religion der Liebe, wohin auch immer ihre Karawane zieht. Die Liebe ist mein Glaube und meine Religion.»[6] Das gefiel schon zu seinen Lebzeiten nicht jedem, genauso wenig wie die zahlreichen erotischen Metaphern, die er verwendete. Man beschuldigte ihn schließlich der Blasphemie und zwang ihn, sich im Jahr 1210 vor einem juristischen Tribunal zu rechtfertigen. Ähnlich wie Ibn al-Arabi negierte auch der Mystiker Yunus Emre, der für das Osmanische Reich und die Türkei bedeutsam werden sollte, die Grenzen zwischen den Religionen. In einem Gedicht, in dem er die Berge, Steine und Nachtigallen als Beistand anruft, heißt es: «Mit Jesus hoch im Himmelsland, mit Moses an des Bergesrand, mit diesem Stab in meiner Hand, will ich dich rufen, Herr, o Herr.»[7] In vielen sufistischen Strömungen sind christliche, jüdische, buddhistische und hinduistische Einflüsse nachweisbar, die auf umherziehende Wanderprediger zurückgehen.[8] Der Sufismus entspricht damit wohl am ehesten dem Ideal eines Johann Wolfgang von Goethe, der in seinem West-östlichen Divan davon träumte, das jeweils Beste aus Orient und Okzident miteinander zu verbinden.[9] Zwangsläufig geraten Sufis deshalb in Konflikte mit Vertretern der Orthodoxie und gegenwärtig besonders mit dem Salafismus. Auch die Beziehung zwischen einem Meister und seinen Schülern, die heute im Sufismus von essentieller Bedeutung ist, gilt vielen fundamentalistischen Muslimen schlicht als Ketzerei. Sufistische Meister werden im Arabischen als Scheich und im Persischen als pir bezeichnet. Sie sollen den Schülern durch ihr Vorbild den Weg zu Allah eröffnen. Gewöhnlich behaupten sie von sich, ihre Genealogie weise sie als Nachfahren Mohammeds aus, und bringen den Propheten damit in die Position eines Ahnherrn einer Bruderschaft.[10] Die konstruierte Abstammungslinie wird Kette (silsila) oder «goldene Kette» genannt. Mit der Herkunftslinie begründen die Scheichs ihre Autorität und ihren besonderen Status.[11] Ihre Anhänger sind davon überzeugt, dass sie im Besitz besonderer spiritueller Kräfte (baraka) sind, die sie durch Berührung weitergeben können. Verstorbene Meister werden oft als Heilige verehrt. Ihre Gräber sind Orte der mystischen Kontemplation. Nicht selten werden sie spirituelle Zentren. Dieser Personenkult gilt Salafisten und Wahhabiten jedoch als shirk, als polytheistische Irrlehre, da die Verehrung nur Gott selbst gelten dürfe. Immer wieder zerstören Islamisten deshalb sufistische Schreine und Bibliotheken, verüben Anschläge auf Heiligtümer oder verfolgen Gläubige. Aus diesem Umstand lässt sich aber nicht ableiten, Sufis seien per se undogmatisch, moderat oder gar progressiv. Die Mehrheit der sufistischen Orden vertritt einen nach strengen Regeln geordneten Islam mit absoluter Autorität des Scheichs, mit männlicher Dominanz, einer rigorosen Geschlechtertrennung sowie einer strengen Bekleidungsordnung, insbesondere für Frauen. Viele Sufi-Meister folgen zudem der konservativen Normenlehre, wenn es um den Koran oder die islamische Jurisprudenz geht.[12] In einem Gespräch, das ich vor einigen Jahren führte, definierte ein Sufi die getreue Befolgung orthodox-muslimischer Pflichten als Grundlage seines Glaubens. Nur derjenige, der fünf Mal am Tag bete, dreißig Tage im Jahr faste, der die vorgeschriebenen Almosen gebe und, wenn es finanziell möglich sei, auf eine Pilgerreise nach Mekka gehe,...


Susanne Schröter lehrt Ethnologie an der Universität Frankfurt a.M., leitet das Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam (FFGI) und nimmt daneben weitere Aufgaben wahr, u.a. als Senatorin der Deutschen Nationalstiftung und Vorstandsmitglied des Deutschen Orient-Instituts.


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