E-Book, Deutsch, 164 Seiten
Schütte Figurationen
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7557-6582-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zum lyrischen Werk von W. G. Sebald
E-Book, Deutsch, 164 Seiten
ISBN: 978-3-7557-6582-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
W. G. Sebald gilt heute als der vielleicht bedeutendste deutschsprachige Autor des späten 20. Jahrhunderts. Seine Prosawerke haben eine kaum mehr überschaubare Zahl von Deutungen und Kommentaren in Gang gesetzt. Wenig bekannt hingegen sind seine Gedichte, die im Verlauf von vier Jahrzehnten entstanden und zumeist posthum publiziert wurden. Diese Studie des Sebald-Schülers Uwe Schütte vermittelt einen kenntnisreichen Einblick in das poetische Gesamtwerk - von den Jugendgedichten bis zu den enigmatischen Mikropoemen, an denen Sebald unmittelbar vor seinem Tod arbeitete - wobei auch unbekannte Texte aus dem Nachlass analysiert werden. »Figurationen« macht es möglich, W. G. Sebald als Lyriker (neu) zu entdecken.
Uwe Schütte, geboren 1967, promovierte 1997 bei W. G. Sebald an der University of East Anglia und ist Reader in German an der Aston University in Birmingham, England. Neben wissenschaftlichen Aufsätzen und literaturkritischen Essays hat er zahlreiche Monografien verfasst. Zuletzt erschienen: W. G. Sebald. Einführung in Leben & Werk (2011); Urzeit, Traumzeit, Endzeit - Versuch über Heiner Müller (2012); Unterwelten. Zu Leben und Werk von Gerhard Roth (2013) sowie die umfangreiche Studie Interventionen. Literaturkritik als Widerspruch bei W. G. Sebald (2014).
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Vorbemerkung Die bisherige Wahrnehmung von Bedeutung und Funktion der Lyrik im Werk W. G. Sebalds ist in mancher Hinsicht seiner Essayistik zu vergleichen: Angesichts des extraordinären Interesses, das der Erzählprosa entgegen gebracht wird, hat man die Relevanz der poetischen und essayistischen Schriften bisher zu stark vernachlässigt. Dieser Band versteht sich daher als companion piece zu Interventionen, meiner umfangreichen Studie zu den literaturkritischen Schriften, die beide – obschon auf unterschiedliche Weise – sich zum Ziel gesetzt haben, etwas Licht in die noch immer unbeleuchteten Winkel von Sebalds Werk zu bringen. * Eine gründliche Auseinandersetzung mit den nicht-literarischen Schriften ist erst rund zehn Jahre nach Sebalds Tod langsam in Gang gekommen. Erst die beiden 2012 erschienenen Dissertationen von Peter Schmucker 1 und Fridolin Schley 2 stützen sich – bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Zielsetzungen – wesentlich auf die Literaturkritik, während die 2008 erschienene Auswahledition der Gedichte keine nennenswerte literaturkritische Reaktion auslösten, bis Axel Englund unlängst mit einer Reihe aufschlussreicher Interpretationen von Sebalds Lyrik hervortrat. In einer davon brandmarkt er zurecht the injustice of criticism’s complete negligence of Sebald’s poems: while they are often concerned with the same problems as his expansively flowing prose – memory, history, intertextuality, travel, death – these themes are placed in an entirely different light when they are reflected by the dense concentration that marks his treatment of the poetic genre.3 Lässt sich der offizielle Beginn der literaturkritischen Produktion auf die 1969 publizierte Arbeit über Carl Sternheim festlegen, so sind die Anfänge der lyrischen Publikationstätigkeit noch etwas früher zu datieren auf die vier Gedichte, die Sebald im Dezember 1964 in der Freiburger Studenten-Zeitung veröffentlicht hatte. Lyrik wie Literaturkritik wird Sebald bis an sein Lebensende schreiben und mithin über einen Zeitraum, der die Periode seiner literarischen Veröffentlichungen weit übersteigt. In den lyrischen Juvenilia von Mitte der sechziger Jahre ist bereits durchaus die Stimme eines Dichters zu vernehmen; Debütantenpoesie, gewiss, aber dennoch mehr als bloß fromme Herzergießungen eines empfindsamen Jünglings. Ein Anfang als Dichter war gemacht, und Sebald hat die Lyrik, wenngleich primär als Privatgeschäft, fast vierzig Jahre lang betrieben. Im Nachlass fanden sich nicht nur deutlich mehr lyrische Texte, als seine vergleichsweise restriktive Veröffentlichungspolitik zu Lebzeiten vermuten ließ, diese waren zudem gesammelt und in mit Titeln versehenen Abteilungen geordnet, was unterstreicht, dass Sebald sie keineswegs als reine Nebenprodukte betrachtete und zumindest zeitweise eine Publikation erwogen hatte. Erst posthum erkennbar wurde die innere Beziehung der lyrischen Produktion von den Anfängen bis in die achtziger Jahre. Iain Galbraith beschrieb die Physionomie des lyrischen Korpus treffend als Kaskade, in der jeweils einzelne Texte aus den drei unveröffentlichten Sammlungen Poemtrees. Lyrisches Lesebuch für Fortgeschrittene und Zurückgebliebene (ca. zweite Hälfte der sechziger Jahre), Schullatein (ca. Mitte der siebziger Jahre) und Über das Land und das Wasser (ca. frühe achtziger Jahre) direkt oder überarbeitet von der jeweils vorausgehenden zur nachfolgenden Sammlung hinüberwanderten.4 Letztere Textsammlung wird abgeschlossen durch das epische Gedicht Und blieb ich am äußersten Meer, das 1984 in der Zeitschrift Manuskripte erschien. Ergänzt durch zwei weitere Erzählpoeme entstand das literarische Buchdebüt Nach der Natur, wobei zahlreiche Gedichte aus dem dritten Konvolut Über das Land und das Wasser in das Elementargedicht einmontiert wurden, womit es zum letzten Auffangbecken der Kaskade wurde. Das betrifft insbesondere Die dunckle Nacht fahrt aus, den dritten, stark autobiografisch gefärbten Teil von Nach der Natur. »Hier hat Sebald mehrere Gedichte zu einem einzigen montiert. Die zweite, dritte und sechste Strophe von Die dunckle Nacht fahrt aus bestehen sogar weitgehend aus umgearbeiteten, überformten, einander formal angeglichenen Gedichten des frühen Konvoluts.5 Das mehr narrativ denn poetisch ausgerichtete Prosagedicht erwies sich zudem als Brückenschlag von der Lyrik zur Prosa, wobei die Transformation vom Dichter zum Erzähler dem Prozess parallel einhergeht, mit dem der Germanist zum Schriftsteller wurde, da Sebald die wissenschaftliche Weise über Literatur zu schreiben, zunehmend zu restriktiv erschien, weshalb er in den Texten über Stendhal und Kafka, die alsdann ins Prosadebüt Schwindel. Gefühle. eingingen, eine idiosynkratische Schreibweise zwischen literarischer Essayistik und essayistischer Literatur erprobte. Parallel zu seinen Erzählwerken der neunziger Jahre veröffentlichte Sebald dann an verstreuten Orten eine Reihe von Gedichten, die als letzte Abteilung in die von Sven Meyer posthum herausgegebene Auswahledition Über das Land und das Wasser (2008) aufgenommen wurden. Diese in der Regel längeren Gedichte sind vor allem Arbeiten für Verlagsalmanache, Bild- und Materialienbände, oder sie erschienen auf Nachfrage von Zeitungen. Für die sprichwörtliche Schublade zunächst schrieb Sebald aber ebenso kürzere Texte, die nicht mehr als eine Strophe umfassen bzw. eine Länge von zwanzig Worten nicht überschritten. Im Verlauf der neunziger Jahre schälte sich dabei eine zunehmende Tendenz zur Verknappung heraus, da Sebald seinen lyrischen Ausdruck auf das Minimalste reduzierte. Durch seinen Tod avancierten die lyrischen Miniaturen, die in den beiden eng verwandten Bild-Text-Bänden For Years Now (2001) und Unerzählt (2003) erschienen, zur letzten Phase von Sebalds dichterischem Schaffen. Die dezidierte Kürze der Gedichte ist dabei in ihrer Funktion als Korrespondenztexte zu den bildnerischen Arbeiten von Tess Jaray und Jan Peter Tripp zu verstehen, weil die durch die Kürze erzielte Offenheit dem angestrebten Dialog zwischen Bild und Text mehr Raum geben soll. Da die Kurzgedichte auf den ersten Blick praktisch inkompatibel wirkten mit dem Prosawerk, das sich gerade durch seine mäandernden Satzperioden auszeichnet, blieben sie bisher fast völlig unbeachtet. Dem Abhilfe zu verschaffen, war eines der wesentlichen Motive zur Abfassung dieses Bands. Das poetische Werk von W. G. Sebald gerät darin in seinen drei Figurationen in den Blick: Im Anfangskapitel werden zunächst einige grundsätzliche Aspekte von Sebalds Verhältnis zur Gattung erörtert, um dann anhand thematischer Schwerpunkte einige Querschnitte durch den Bestand an quasi ›regulärer‹ Lyrik von Mitte der sechziger Jahre bis zur Jahrtausendwende zu ziehen, ohne eine vollständige Behandlung aller Gedichte anzustreben. Das zweite Kapitel gilt dem literarischen Debüt Nach der Natur (1988), zu dem eine vergleichsweise breite Sekundärliteratur existiert, die in ihren relevanten Aspekten im Gang des exegetischen Kommentars reflektiert wird. Der dritte Teil wiederum nimmt sich der deutsch-englischen Kurzgedichte an und erhebt den Anspruch einer umfassenden Analyse, wobei auch einige noch unbekannte bzw. unveröffentlichte Miniaturen vorgestellt werden. * Iain Galbraith zu verdanken ist nicht nur eine Ergänzung der von Sven Meyer getroffenen Auswahl, indem er 33 Gedichte aus dem Nachlass in einer anlässlich des zehnten Todestages von Sebald erschienenen Ausgabe der Zeitschrift Akzente im Jahr 2011 herausgab, sondern zudem ein so hervorragender wie aufschlussreicher Stellenkommentar in seiner englischsprachigen Edition der Gedichte, die mein Interesse an einer Beschäftigung mit den Texten wesentlich beförderte. In den Anhang von Across the Land and the Water nahm er auch jene zwei englischsprachigen Gedichte auf, die im Herbst 2000 in der an der School of English and American Literature der University of East Anglia beheimateten Zeitschrift Pretext erschienen waren.6 Mit diesen zwei Texten vollzog sich, zumindest offiziell und im Grunde unbemerkt,7 jener tentative Wechsel in die Fremdsprache, dem sich Sebald zu Lebzeiten in Hinblick auf das Schreiben von Erzählprosa stets widersetzte, was von anglophoner Seite nicht selten mit Verwunderung registriert wurde.8 In der zwar perfekt beherrschten, aber fremd gebliebenen Sprache seines Gastlandes verfasste Sebald jedenfalls jenes Gedicht, in dem seine Persönlichkeit, wie ich sie während der letzten zehn Jahre seines Lebens erleben konnte, einen kennzeichnend unprätentiösen Ausdruck findet: In I remember rekapituliert das lyrische Ich eine 1990 unternommene Reise mit der Fähre vom Port of Harwich nach Hoek of Holland. Sebald teilte sich dabei die Kabine mit einem Trucker aus Wolverhampton, der ausrangierte LKWs in das post-sowjetische Russland überführte: I can still hear him softly snoring through the night, see him at dawn climb down...