E-Book, Deutsch, 384 Seiten
Schütte Opferbucht
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8271-8413-9
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kreuzfahrt-Krimi
E-Book, Deutsch, 384 Seiten
ISBN: 978-3-8271-8413-9
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Profiler gibt es im Fernsehen - die Operative Fallanalyse (OFA) im wahren Leben, denn sie ist viel mehr als das Erstellen eines Täterprofils. Carsten Schütte, seit 2016 Leiter der OFA Niedersachsen, weiß, wovon er schreibt: 40 Dienstjahre bedeuten vielseitige Erfahrungen in verschiedenen Polizeibehörden. In den 90er-Jahren entdeckte Schütte seine dienstliche Leidenschaft: die Ermittlungen im Bereich der Tötungs- und Sexualdelikte. Sein beruflicher Weg brachte ihn über Fachkommissariate für Kriminaltechnik und Kapitaldelikte im Jahr 2002 in das noch relativ unbekannte Fachgebiet der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen. Über mehrere Jahre hat er sich beim BKA zum polizeilichen Fallanalytiker ausbilden lassen. Das medial geprägte Bild eines Profilers als Kaffeesatz- und Glaskugelleser ist im Laufe der Jahre durch methodisch seriöse und akribische Arbeit der OFA als nunmehr selbstverständliches Instrument der Ermittlungsunterstützung etabliert. Carsten Schütte beschreibt in seinen Kriminalromanen die Arbeit des Leiters der OFA Niedersachsen, Thorsten Büthe, und lässt den Leser eine fiktive Geschichte mit vielen autobiografischen Anteilen hautnah erleben. Schütte wurde 1960 in Hannover geboren, hat zwei erwachsene Töchter und lebt mit seiner Frau in einem Vorort von Hannover.
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Kapitel 2 – Hannah
Hannah Rhode war die Stimme des „Radio Kröpcke“, einem angesagten Sender Hannovers. Durch die Unterstützung vieler niedersächsischer Firmen war es dem Sender nach nur drei Jahren gelungen, sich eine Zuhörerschaft in unterschiedlichen Altersgruppen zu sichern, die kulturell interessiert waren. So wurde jungen Nachwuchsbands und Start-ups aus der Region die Möglichkeit geboten, sich selbst, ihre Musik und ihre Ideen vorstellen. In Interviews mit lokalen Künstlern und Gastronomen konnten Events, Lesungen und Ausstellungen präsentiert und beworben werden, die sich dadurch einer immer größeren Resonanz erfreuten. Der Musikstil war gemischt und wurde teilweise von den Zuhörern zusammengestellt. Durch die Unterstützung ansässiger Unternehmen konnte der Sender völlig auf die sonst übliche, oft nervige Werbung verzichten.
Hannah Rohde war das Zugpferd des Senders und begleitete die Hörer von 7 bis 15 Uhr durch den Tag. Auf kulturellen Veranstaltungen, die „Radio Kröpcke“ im Umland Hannovers durchführte, übernahm Hannah meist die Moderation. Sie war stets präsent und ein Sympathieträger. Dreimal in der Woche interviewte sie Menschen aus der Region, die Interessantes zu berichten hatten. Hannahs charismatische Ausstrahlung war sowohl über den Äther als auch im persönlichen Umgang einfach ansteckend. Mit ihren 48 Jahren wirkte sie sehr sportlich, hatte einen blonden Kurzhaarschnitt, kleidete sich modisch und war äußerst attraktiv.
Leider gab es im Leben auch andere Seiten, die jenseits des Glamours und der öffentlichen Fassade zutage traten, wenn keiner mehr hinschaute oder zuhörte. Hannah hatte sich von ihrem Mann getrennt, ihre Ehe war vor sechs Wochen nach 15 Jahren Dauer geschieden worden.
Ihr Ex-Mann hatte die große Altbauwohnung in der List behalten und Hannah ausgezahlt. Die Trennung war relativ harmonisch abgelaufen. Finanziell hatte man sich einigen können und verstand sich jetzt mit dem Abstand besser als zuvor. Oliver war als Ingenieur der Firma Siemens momentan in Oman und hatte ihr angeboten, so lange in der Wohnung zu bleiben. Hannah aber war Abstand wichtiger gewesen. Sie hatte sich ein kleines renoviertes Backsteinhaus in Großgoltern gekauft, in einem kleinen Dorf mit Blick auf den Deister. Ihre ständige Präsenz in Hannover ließ sie kaum abschalten. Sie hatte es lange genossen, gemeinsam mit ihrem Mann über die Lister Meile zu flanieren. Einen Café bei Ecco oder Da Toni, Hannah hier, Hannah da. Abends durch die Kneipenszene, leckere Restaurants, immer mittendrin. Sie hatten sich keine Zeit für sich gegönnt, keine kleinen Fluchten. Was sich rächen sollte. Jetzt genoss sie die Ruhe auf dem Land und hatte den Kontakt zu ihren langjährigen Freundinnen aus dem Raum Barsinghausen endlich wieder verstärkt. Die intensiven Gespräche beim gemeinsamen Kochen und einem guten Rotwein am Kaminfeuer hatte sie lange vermisst. Langsam fasste sie nun wieder Mut. Ihre Leidenschaft, sich in die Moderation bei „Radio Kröpcke“ im Kontrast zum ruhigen Landleben wieder engagiert einzubringen, brodelte von Neuem auf. Jede Veränderung war auch immer eine Chance, der sie sich nun bewusst wurde. Sie war zurückgekehrt.
Das Studio von „Radio Kröpcke“ befand sich im alten Karstadtgebäude nahe an dem gleichnamigen Platz, der an das historische Café erinnern sollte und seit Langem ein Mövenpick-Restaurant beherbergte.
„Radio zum Anfassen“ lockte Hunderte Besucher ins Studio. Am Eingang wurden Besuchergruppen von maximal 50 Personen im Halbstundentakt eingelassen. Man musste sich im Vorfeld anmelden und bekam eine Besuchszeit zugewiesen. Der Puzzlespieler befand sich in der Gruppe um halb zwölf, was ihm sehr wichtig war. Bis 12 Uhr führte Hannah Rhode durch den Sender. Nach einer Mittagspause bis 13 Uhr übernahm dann ihr Kollege Max Frisch, der allein wegen seines Namens die Frühschicht hätte bestreiten müssen, fand er und schmunzelte.
Die Gäste wurden im Besucherraum empfangen. Eine Mitarbeiterin des Senders, die sich als Frau Stich vorstellte, hielt einen Vortrag über die Entstehung sowie Philosophie des Senders und ging auf die Historie des ehemaligen Karstadt-Gebäudes ein. Sie kündigte an, die Gruppe nunmehr zu teilen und übergab die weitere Führung an zwei Volontärinnen. Gruppe I durfte im Studio beginnen, Gruppe II in den Redaktionsräumen. An der großen Studiotür leuchtete eine rote Warnlampe mit der Aufschrift „Live-Sendung – kein Zutritt“. Die junge Mitarbeiterin des Senders legte ihren Zeigefinger auf die Lippen und mahnte zur Ruhe. Kurz nachdem das rote Licht grün wurde, öffnete sich die Tür und eine gut gelaunte Hannah Rhode bat die Gäste ins Sendestudio.
„Liebe Gäste, vielen Dank für Ihren Besuch. Wir haben aktuell etwa fünf Minuten, das heißt zwei Songs Zeit. Dann darf einer von Ihnen die nächsten beiden Titel ansagen. Anschließend haben wir zwei weitere Lieder Zeit, um Ihre Fragen zu beantworten. Also dann: Herzlich willkommen im Herzstück von ,Radio Kröpcke’“, begrüßte die Moderatorin ihre Gruppe und legte los. Hannah stellte ihren Werdegang bei „Radio Kröpcke“ und ihre Aufgaben in den verschiedenen Sendungen vor. Als sie auf die rote Digitalanzeige über dem Sendepult wies, die gerade von 120 Sekunden herunterzählte, fragte sie in die Gruppe: „Wer von Ihnen sagt die nächsten beiden Songs an? Es sind ‚Horny‘ von ,Mousse T.‘ und ‚Wind of Change‘ von den ,Scorpions‘. Natürlich beide aus Hannover. Wer möchte? Es kann nichts passieren. Sie dürfen sogar noch jemanden grüßen, wenn Sie mögen.“
Er zuckte kurz, hielt sich aber zurück. Es war zu früh und zu offensiv. Während er der Versuchung widerstand, wählte Hannah eine Hörerin Mitte fünfzig namens Angela aus, und die Moderatorin war in ihrem Element.
„Liebe Fans von ,Radio Kröpcke’, die leider nicht live im Studio sein können. Ich freue mich, gerade 25 treue Hörer im Studio begrüßen zu dürfen. Vor mir steht also meine heutige Kollegin, die euch die nächsten beiden Songs präsentieren wird. Liebe Angela, stell dich bitte kurz vor – und los geht’s“, kündigte Hannah an.
Angela war zwar aufgeregt, moderierte die beiden Songs aber sicher an und grüßte ihre Familie aus Davenstedt. Dann hatte Gruppe I noch fünf Minuten.
Er stand in der hinteren Reihe und genoss den Anblick. Hannahs frecher Kurzhaarschnitt passte zu dem taillierten Hosenanzug, der ihre durchtrainierte Figur betonte. Ihr Lächeln war ehrlich, und ihr Blick schweifte durch die Gruppe. Als sich ihre Blicke trafen, bemerkte er ein Blinzeln und ein lächelndes Zucken um ihre Mundwinkel. Sie hatte ihn wahrgenommen und angelächelt. Diese liebevolle Reaktion stellte er nur bei sich fest. Den anderen Gästen begegnete sie zwar höflich, aber nicht so offen wie ihm. Ohne sich in den Vordergrund zu spielen, rief er aus der letzten Reihe: „Hannah, machst du wieder ein Selfie mit uns im Hintergrund?“
Er hatte das schon online bei früheren Gruppen beobachtet. Hannah nickte, nahm ihr Handy und hielt es über ihren Kopf, drehte sich mit dem Rücken zu ihren Fans und rief: „Frisbee!“
Dann folgten die Selfies mit ihren Fans. Die Uhr zählte runter. Ihm blieb nicht viel Zeit. Hannah hatte ihr Handy auf das Studiopult gelegt, während sie mit ihren Gästen posierte. Schnell, bevor sich die Bildschirmsperre einschaltete, griff er das Handy. Gott sei Dank, es war noch offen. Er aktivierte Bluetooth, legte sein iPhone direkt auf den Bildschirm von Hannahs Telefon, tippte etwas ins Display und beobachtete die Stoppuhr. Noch 65 Sekunden ...
„So, ihr Lieben, leider muss ich euch jetzt wieder hinausbitten. Toll, dass ihr uns besucht habt. Viel Spaß noch und bis bald“, verabschiedete sich Hannah unter dem Beifall der Gruppe.
Sie blickte suchend auf den Moderationstisch. Er bückte sich, versuchte einen Blickkontakt zu vermeiden und gab ihr das Handy zurück.
„Sorry, das ist wohl runtergefallen“, rechtfertigte er sich. Als sie ihn dabei an seiner Hand berührte, explodierte es in ihm. Er musste sich bemühen, in der Gruppe unauffällig unterzutauchen, die das Studio unter Führung der Volontärin wieder zu verlassen hatte. Würde man das Selfie von Hannah mit ihren Fans auf der Homepage des Senders betrachten, wäre er wohl der Einzige in Gruppe I gewesen, der verdeckt in der hinteren Reihe stand. Bei der Besichtigung der Redaktionsräume ließ er sich zurückfallen und inhalierte den Geruch an seinem Handrücken, an dem ihn Hannah berührt hatte. Es war so, als ob er ihn für immer und ewig auf seiner emotionalen Festplatte ablegen wollte. Als er mit seiner Zunge genüsslich über die Stelle fuhr, ließ er seine Fantasie spielen und speicherte auch ihren Geschmack ab. In seinen Gedanken führte er die neuen Puzzleteile hinzu, lächelte verschmitzt und dachte an die Teile, die er nun sukzessive ergänzen würde. Er war zufrieden und auf einem guten Weg.
Ihm war bewusst, dass Hannah bald Feierabend hatte. Also postierte er sich mit seiner BMW R 1200 GS so, dass er die Ausfahrt der Tiefgarage für die Mitarbeiter im Blick hatte. Auf einem ihrer Instagram-Fotos war ein roter Audi TT Roadster zu sehen gewesen. Er musste nicht lange warten. Kurze Zeit später schoss Hannah mit ihrem Cabrio die Garagenauffahrt hoch und hatte bereits das Dach geöffnet. Für März war das Wetter super, denn die Sonnenstrahlen verursachten schon Frühlingstemperaturen. Er hätte sich gar keine Mühe geben müssen, um ihr Auto zu identifizieren, denn ihr Kennzeichen lautete „H-HR 1973“. Wie einfach.
Mit seiner großen BMW war es einfach, ihr trotz ihres flotten Fahrstils unauffällig durch die Rushhour Hannovers zu folgen. Ihm war bekannt, dass sich...