Schuh Sämtliche Leidenschaften
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-552-05709-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-552-05709-8
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Ich will hier nur eines erzählen, nämlich wie ich Lili, die mich natürlich auch verlassen hat, eines Tages kennenlernte." Der Erzähler – er heißt wie der Autor Franz Schuh – ist Mitte sechzig, ein Künstler in Wien, der eher schlecht als recht von seiner Kunst leben kann. Deshalb verdingt er sich als Frühstückskoch im Café Formanek. Als er eines Morgens aus dem Haus stürzt, gerät er unversehens in eine große Menschenmenge, zwischen Polizeiautos und -sirenen – die Dreharbeiten zu einer "Tatort"-Folge. Aus dieser Situation rettet ihn die Filmstudentin Lili Fichte. Zwischen den beiden entsteht eine Freundschaft, bei ihm wohl mehr. Franz Schuhs Buch ist ein großartiges Porträt des Ich-Erzählers als armer Hund, wobei der arme Hund gar nicht unglücklich ist.
Autoren/Hrsg.
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Ich lebe vom Versagen. Kurt Krömer Warum, Schuh, lesen Sie Kriminalromane, warum haben Sie von frühester Jugend an, Schuh, Kriminalromane gelesen, so viele, dass Sie im Fernsehen vorkommen dürfen mit einer Expertise zum Beispiel über Agatha Christies »Mousetrap«, am Vortag einer Theaterpremiere: »Die Mausefalle«. Mein Gott, denke ich, flehe ich, und eine Welle von Daseinsnostalgie (das Wort, das mir so wichtig ist, werde ich später noch erklären, analysieren, erhellen oder wozu ich in der Lage bin), das Wort spült mir die Seele durch, von so einer Welle bleibt immer etwas hängen, im letzten Spitalsbett deines Lebens wird dir, wenn die Schmerzen es zulassen, von deinem Dasein immerhin die Nostalgie bleiben, die Übersicht im Rückblick – Daseinsnostalgie, um wenigstens so viel jetzt schon zu sagen, ist das Gefühl, das einem nachhängt, wenn man einst schon dagewesen ist: Ich war da, als 14-jähriger in London, und las an der Fassade eines Kotzbrocken von Architektur: »The Mousetrap«. Es kann nur das Theatergebäude gewesen sein, in dem man »Die Mausefalle« Jahrzehnte gespielt hat, ein Agatha-Christie-Durchlauf durch Jahrzehnte, und ich in London, mit meinen Luncheon Vouchers in der Tasche, das waren Essensgutscheine, die in bestimmten Lokalen angenommen wurden, in anderen aber sowas von gar nicht. Die warfen einen raus, wenn man damit ankam. War ich in einem Lokal, von dem ich annehmen musste, dass sie dort keine Luncheon Vouchers annahmen, verbarg ich meine Luncheon Vouchers in der Brusttasche des Sakkos, nahe am Herzen. Und wieder war eine Kamera auf mein Haupt gerichtet, auf meinen Sprechkopf. Ich sage es wieder, sagte ich, so wie ich es schon Hunderte Male gesagt habe: Ich lese Kriminalromane wegen der Zwangslage, der Kriminalroman ist die Literatur der Zwangslagen, wenn es eng wird, da weiß der Kriminalroman Bescheid über die Zwangslage, er hat die Zwangslage in sein Schema eingearbeitet, genauso wie er die Illusion, sich aus der Zwangslage befreien zu können, vielleicht durch ein Verbrechen?, in sein Schema eingearbeitet hat, mehr kann man als Mensch auch nicht machen, und, du lieber Gott, dachte ich, als ich dem Fernsehen kostenlose Auskunft geben durfte, kostenlos – und das bei meiner prekären Lebenslage, Auskunft über Agatha Christie, über Paranoia und über Schuld, über den Kreis der Schuldigen, dafür waren sie mit der Kamera ins Funkhaus angerückt, in den Großen Sendesaal, aber sie waren zu spät gekommen, und so gab ich Auskunft über Paranoia, über Schuld, über das ewige Ausfindigmachen des Schuldigen, während hinter unserem Rücken bereits zwei Menschen, eine Orgelspielerin und ein Sänger, präsent waren, um für den Abend ein Oratorium zu proben: Der Sänger sang einen Ton an, die Orgel spielte mit, und nie wurde es etwas Ganzes, nicht eine Sekunde lang wurde »O Haupt voll Blut und Wunden« daraus, es war immer nur ein wiederkehrendes »O H«, es hätte am Schluss auch »O Hauptgewinn« heißen können, ich war verzweifelt: ein Oratorium, nein, nicht als Fragment, ein Oratorium in Schnipseln. St. Matthew Passion, sagte ich zu den Leuten vom Fernsehen, und weil sie doch über das höher entwickelte Medium verfügten, höher entwickelt als Stimme und Orgel, forderte ich sie auf, dem niederen Treiben, dieser Gesangsprobe hinter uns, sofort Einhalt zu gebieten. Ich hörte, wie die Leute vom Fernsehen eine Weile verhandelten, und ich konnte – paradox wie ich eben empfinde – meine Tränen nicht unterdrücken, als die Orgelspielerin und der Sänger traurig, wie ich mutmaßte, ja, sehr traurig den Großen Sendesaal verließen. Sie verschwanden durch eine Seitentüre, und ich sah von meinem privilegierten Platz vor der Kamera aus, wie der Raum, in dem diese beiden Künstler nach ihrem Auszug aus dem Sendesaal Zuflucht fanden, vollgesteckt war mit Reisetaschen, Koffern und Kleidungsstücken: das Ensemble des Oratoriums, der Chor (O Haupt voll Blut und Wunden) hatte sich in einem Nebenraum des Großen Sendesaals niedergelassen, in dem ich schamlos über die Schuld, über die Paranoia, über Agatha Christie ausführlich werden durfte, allerdings gratis, und das bei meiner prekären Lebenslage. Das Fernsehen war ins Radio gekommen, extra meinetwegen. Ich arbeitete damals als Radiophilosoph, mit einer philosophischen Kolumne pro Monat, ein Zubrot, und es ist gut, dass man davon nicht leben kann, denn über alles, wovon man nicht leben kann, kann man philosophieren. So reißt der Gedankenstrom nicht ab, und du wirst durch deine Zwangslage auch noch zum Gelehrten. Die Leute vom Fernsehen waren bald weg, sie ließen mich, den Mann mit seinen Zwangslagen, im Großen Sendesaal allein zurück. Ich fühlte eine leichte Beklemmung, und um mich darüber zu beruhigen, aber auch aus Spaß und weil sonst niemand da war, stellte ich mich an eines der vielen Pulte, die im Sendesaal bereitstehen, und hielt niemandem, buchstäblich niemandem einen Vortrag: … und dann, so begann ich meinen einsamen Monolog im Sendesaal, und dann ging der Vorhang auf. Die ganze Bühne, sagte ich, war besetzt von einem einzigen Orchester. Die Musiker saßen in Stufen, bis hoch hinauf, bis fast an die Decke. Die Klarinetten spielten, die Violinen spielten, die Trompeten spielten, alle spielten, und zwar auf Teufel komm raus. Die Musiker waren mit ihren Instrumenten zusammen gewachsen, im Doppelsinn – zusammengewachsen: Sie waren endlich eins mit ihren Instrumenten geworden (und zwar nicht bildlich, sondern im wörtlichen Sinn) und: zusammen gewachsen –, sie waren mit ihren Instrumenten gewachsen, empor in die lichten Höhen, sagen wir, einer himmlischen Musik. Durch das Orchester ging ein einziges Zittern und Beben, alle waren ein Körper, niemand fiel aus dem Rahmen, auch die dicke Dame nicht, die in einem grellroten Kleid vorne an der Rampe stand und beinahe elegant am Klavier lehnte. Der Pianist haute in die Tasten, dass es eine Freude war, und die Dame, die ein wenig aussah wie ein verkleidetes Mitglied der Panzerknackerbande, schürzte ihre ohne Gnade sangesbereiten, das Kleid an Röte weit übertreffenden Lippen. Da sie nichts zu singen hatte, stand sie als Monument ihrer selbst da, gleichsam als solistisches Zubehör des Orchesters. Das war spektakulär, aber es war nichts gegen die Figur, die diesem Ereignis insgesamt vorstand. Man sah sie nur von hinten, und es konnte kein Zweifel bestehen: Das ist der Dirigent. Wie auch seine Frackschöße flogen, das wirkliche Ereignis waren seine Hände und seine Arme. Mit ihnen hatte er alles im Griff, den Rhythmus, die Noten, die anwesenden Menschen, die Hörer und die Produzenten. Die Ärmel des Dirigenten ruderten besitzergreifend in der Luft – unschlagbar gaben sie den richtigen Ton an. Nie in meinem Leben habe ich Schostakowitsch wieder so hören können, nie wieder in einer so eindeutigen Schostakowitsch-Performance, auch nie wieder in einer so unverschämten Lautstärke, dass es einem die Socken auszog – und bevor man mich für den Banausen hält, der ich leider eh bin: Ich habe, wie gesagt, dieses Orchester wirklich gesehen, allein, es war kein wirkliches Orchester, sondern ein Marionettenorchester, auf die Bühne gestellt von einem russischen Puppentheater, an dem hinter den Kulissen ein geniales Ensemble wirkte: Leute, die einen Sinn für Ironie und zugleich für das Bombastische haben, mit dem nicht zuletzt ein moderner Musikbetrieb seine Anhänger rekrutiert. Und bei Musikbetrieb, einem Stichwort, kamen die Organistin und der Sänger wieder zurück, um ihren kleinen Musikbetrieb wieder zu eröffnen. Sie wurden widerwillige Zeugen meiner akustischen Anmaßung. Sie waren doch keine Marionetten, sondern Künstler, also Menschen, die geistige Freiheit, Disziplin und Lebendigkeit hatten. O Haupt voll Blut und Wunden murmelte ich in meinen Bart und schlich beschämt aus dem Großen Sendesaal des Funkhauses in der Wiener Argentinierstraße. Wie passt das alles zusammen? Ganz einfach und überhaupt nicht. Kein Wunder, dass ich Bewusstseinsflimmern habe. Mein Kopf, mein Bewusstsein, muss alles zusammenhalten, und es war ganz einfach der Tag, an dem ich Lili Fichte kennen lernte, nämlich der Tag, an dem ich selbst mit durchaus krimineller Energie (ich will nicht unschuldig tun) den Herrn vor dem Aufzug verbal und brachial versorgte. Das hasse ich an der Zeitungssprache, dieses »er sorgt für«, zum Beispiel für Aufsehen oder für einen Eklat, natürlich hasse ich auch »er gibt sich«, das hasse ich auch, wenn einer sich ergibt, also wenn völlig Fremde, der Sache und der Person ganz und gar Fremde, die in der Zeitung schreiben, sich skeptisch geben: Er gibt sich zufrieden, nein, das kann man ja sagen, aber er gibt sich charmant, so, als ob er nicht charmant wäre, sondern sich nur charmant gäbe. Das ist gang und gäbe, dieses »er gibt sich«, und Robert Menasse hat es auch erledigt, mit elegantem Spott, während ich mich selbst erledige mit dieser Wut, dieser Wut, die ich habe, wenn sich einer wieder gibt. Ich gebe alles, sagt Alaba, der größte Fußballer aus Österreich, und daher – wegen alles – muss man von ihm sagen, dass er auch sich gibt. Das war mein Glück, dass ich mich nie gegeben habe, jedenfalls nie ganz, so blieb immer ein wenig, ein bissl was von mir über, mit dem ich die nächste Niederlage in die Wege leiten konnte. Dafür habe ich gesorgt. Genau an diesem Tag, an dem ich morgens beim Aufzug Sieger geblieben war, lernte ich Lili Fichte kennen. Jetzt gebe ich mich als einer, der Lili Fichte kennen gelernt hat. Man muss sich das vorstellen, ich habe den Mann im Aufzug erledigt, danach wollte ich ins Café Formanek, zur Arbeit, Frühstück für jeden Menschen, der ein Frühstück bezahlen kann, und als die Frühstücke...