E-Book, Deutsch, 190 Seiten
Schulz SEIANUS UND TIBERIUS: DAS DRAMA DER SIAMESISCHEN ZWILLINGE
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7487-7065-7
Verlag: BookRix
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Eine quellenkritische Annäherung an die Wirklichkeit
E-Book, Deutsch, 190 Seiten
ISBN: 978-3-7487-7065-7
Verlag: BookRix
Format: EPUB
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Seianus gilt als einer der prominentesten Schurken der Geschichte: Er sei niederer Herkunft gewesen und habe sich ins Vertrauen des Kaisers eingeschlichen, bis man ihm die Regierungeschäfte überließ. Ferner habe er die Prätorianer kaserniert, um besser über sie gebieten zu können. Dank seiner übermächtigen Stellung plante er dann einen Staatsstreich. Der Autor Dr. Meinhard-Wilhelm Schulz, der bereits das Bild Caesars zurechtrückte, hat nun auch die Quellen zu Seianus einer Revision unterworfen: Suetonius, Tacitus und Cassius Dio, die sich in der negativen Beurteilung des Mannes einig sind. Er hält ihre Aussage dann für besonders glaubwürdig, wenn sie für Seianus spricht. So kommt er zum Ergebnis, dass unser tradiertes Bild nicht der Quellenlage entspricht: Seianus war weder von niederer Herkunft noch dachte er an einen Umsturz. Vielmehr fiel der rein theoretisch gefährliche Mann einer üblen Palastintrige zum Opfer. Das Buch führt indirekt zu einer neuen Verdammung des Kaisers Tiberius, der seinen Kameraden aufgrund vager Beschuldigungen einfach umbringen ließ.
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3. Teil: Herkunft und Charakter des Seianus
Ohne die unten folgende Stelle aus den Annalen des Tacitus wüssten wir nicht, woher er stammte und wie seine Jugend verlief. Daher wollen wir mit dem Zitat beginnen (ann. 4, 1): »Geboren in Vulsinii als Sohn des römischen Ritters Seius Strabo, hatte er sich in der frühen Jugend Gaius Caesar, dem Enkel des vergöttlichten Augustus, angeschlossen, nicht ohne dass dabei das Gerücht umging, er habe sich an Apicius, einen reichen Verschwender, zu Zwecken der Unzucht verkauft. Danach fesselte er durch unterschiedliche trickreiche Finten Tiberius dergestalt an sich, dass er es bewerkstelligte, dass dieser, der doch sonst so verschlossen gegen seine Umwelt war, sich ihm gegenüber arglos und offenherzig zeigte. Doch dies war weniger der Erfolg seines ausgeklügelten Vorgehens – er fiel ja denselben Machenschaften zum Opfer – als vielmehr des Zornes der Götter gegen Roms Lage, welcher sein Aufstieg und Untergang gleichermaßen zum Verderben gereichte. Er besaß einen Körper, der Mühe und Arbeit aushielt. In seinem Denken war er kühn. Vom Verborgenen aus beschuldigte er andere des Verbrechens. Ein Schmeichler und die Überheblichkeit in Person war er gleichermaßen. In der Öffentlichkeit zeigte er wohlberechnete Bescheidenheit, innerlich war er von Gier nach Erreichen der höchsten Dinge erfüllt. Daher kam es dazu, dass er sich bald Freigebigkeit und Verschwendungssucht, öfter jedoch Arbeitseifer und aufmerksamer Fürsorge widmete, die freilich nicht weniger verderblich ist, sofern sie nur vorgetäuscht wird, um die Macht an sich zu reißen.« Seianus wurde in der Gemeinde Vulsinii (heute: Bolsena), ungefähr 70 km. ndl. Roms an einem idyllisch schönen See gelegen, geboren. Seius Strabo, seinerzeit Gardepräfekt des Augustus, ist sein Vater. Doch wie Strabo nach Rom kam, um von Augustus (zuletzt gemeinsam mit dem Sohn) das Kommando über die Prätorianer zu erhalten, wäre eine interessante Ergänzung gewesen. So verschweigt uns Tacitus absichtsvoll die Tatsache, dass bereits der Vater des Seianus größte Wertschätzung beim Kaiser und dann auch bei seinem Nachfolger Tiberius genoss. Mit keinem Wort sagt der auch sonst so mannesstolze Tacitus, dass Seianus‘ Mutter eine ‚Iunia‘ war, die Schwester des Iunius Blaesus, der unter dem späten Augustus und unter Tiberius führender General des Reiches war. Ferner sagt er nicht, wann und warum der Junge ins angesehene plebejische Geschlecht der Aelii adoptiert wurde und so erst aus einem ‚Lucius Seius‘ unser ‚Lucius Aelius Seianus‘ wurde. Gewiss übergeht er solch für Seianus vorteilhafte Dinge, da sie ihm nicht ins Konzept passen. Ja, er nennt uns nicht einmal sein Geburtsjahr; doch wir können es rekonstruieren (s.u.). Es folgen dann zwei kurze Bemerkungen. In der ersten wird die Tatsache wiedergegeben, dass er ein Spielkamerad oder Jugendfreund des Kronprinzen Gaius Caesar (20 v. bis 4 n. Chr.; leiblicher Augustus-Enkel) gewesen sei, gewiss doch, weil sein Vater Strabo als Chef der Prätorianer im Kaiserhaus ein und ausging und dabei den Sohn einfach mitbrachte. Wenn Seianus sein ‚Kumpel‘ war, sollte er spätestens im Jahr 20 v. Chr. geboren sein und kannte demnach auch Lucius Caesar, in der Thronfolge die Nr. 2. Diese indirekte und daher umso glaubwürdigere Meldung ist eine Sensation: Neben dem Argument, dass Seianus‘ Vater den Kaiser persönlich kannte (Augustus entstammte ebenfalls ‚nur‘ dem Ritterstand), lässt es sich auch dadurch erklären, dass Iunia, die Mutter des Seianus, aus einem erlauchten Hause stammte. Sein Onkel Iunius Blaesus, der höchstdekorierte General des Reiches, sollte seinen Neffen doch wohl gefördert haben. Ob auch Marcus Iunius Silanus an der Seite des jungen Seianus stand? Immerhin wurde er, was nur mit Zustimmung des Kaisers möglich war, im Jahre 19 n. Chr. Konsul. Gaius Caligula, der Thronfolger des Tiberius, zwang ihn übrigens später, Selbstmord zu begehen (38 n. Chr.) und wusste, was er tat. (Kurz zu Caligula: Seine Herrschaft hatte dieser Urenkel des Augustus, wenn man denn der Gerüchteküche glauben will, damit begonnen, dass er seinen Großonkel und Adoptiv-Vater Tiberius entweder vergiftete oder mit einem Kissen (bzw. Decke) erstickte, weil der Greis einfach nicht sterben wollte (Suet. Cal. 12). Ferner soll er sich geärgert haben, dass Agrippa, dieser Mann ‚nur‘ ritterlicher Herkunft, sein Großvater sei und behauptete, seine Mutter Agrippina sei das Produkt eines Inzestes zwischen Augustus und seiner Tochter Iulia [I.]. Dieser Verrückte auf dem Thron trieb es dann mit den eigenen Schwestern, wenn wir seinem Biographen (Suet. Cal. 23) glauben wollen.) Tacitus wischt jeden Gedanken über den in Wirklichkeit bedeutenden Stammbaum des Seianus, ehe er aufkommen kann, mit einem kleinen Nachsatz vom Tisch, indem er behauptet, er habe seine blühende Jugend an einen gewissen Apicius verkauft. Es handelt sich dabei nicht um den Verfasser des Kochbuches (3. Jh.), auch wenn es unter seinem Namen überliefert ist. Dem damaligen Leser brauchte man einen ‚Apicius‘ freilich nicht vorstellen: Er hieß eigentlich Marcus Gavius und lebte unter Augustus und Tiberius als stadtbekannter Schlemmer und Genießer. Sein Beiname ‚Apicius‘ wurde ihm von spöttischen Zeitgenossen nach einem ähnlich hemmungslosen Vorgänger verpasst, bis er sprichwörtlich wurde. Als Apicius II. sein Vermögen soweit verprasst hatte, dass er nur noch ein normal reicher Mann war, beging er Selbstmord, um nicht ‚verhungern‘ zu müssen, wie er angeblich sagte: An diesen Wüstling, habe Seianus doch wohl seine sexuellen Dienste verkauft, vermutet Tacitus, der alte Moralapostel, als der er sich bereits in seiner frühen Schrift ‚Germania‘ offenbart. Ein solches Vorgehen ist für jeden Historiker infam. ‚Nichts Genaues weiß man nicht‘, aber er posaunt es aus und ist bis heute der wichtigste Zeuge für die Feinde des Seianus geblieben. Nichts aber ist an der obigen Behauptung dran, denn nichts hasste Augustus, der Verfasser vergeblicher Moral- und Ehegesetze, nämlich mehr, nachdem er älter geworden war, als jede Art der Unzucht, besonders in der nächsten Umgebung. Seine Tochter Iulia [I.], seine Enkelin Iulia [II.] und der Dichter Ovidius Naso sollten als prominente Opfer dafür zu büßen haben … Ausgerechnet solch ein Jugendlicher wie der von Tacitus erfundene ‚Wüstling‘ Seianus soll Gefährte des Kronprinzen gewesen sein? Augustus hätte das niemals zugelassen und ihn in die Verbannung gesteckt. Das aber wäre das Ende seiner Karriere gewesen. Stattdessen wurde er zum stellvertretenden Kommandeur der kaiserlichen Leibwache ernannt. Der Adoptivsohn des Augustus, Tiberius, war übrigens erst recht ein ‚verklemmter‘ Typ, was sexuelle Eskapaden betraf und konnte nichts mit seiner übel beleumundeten, ihm aufgezwungenen Frau Iulia [I.] anfangen. Wäre Seianus nur in Ansätzen der oben Beschriebene gewesen, hätte er in den Augen des Kaisers Tiberius erst recht keine Gnade gefunden. Tacitus behauptet im Anschluss an die erfundene Sexaffäre, Seianus habe den anerkannt verschlossenen Tiberius mit List und Tücke für sich einnehmen können: Hier wird der Kaiser als Tor geschildert, der in seiner Ahnungslosigkeit auf den unmoralischen Seianus hereinfällt, obwohl dieser ihn doch wohl auf ganz andere Weise von sich zu überzeugen wusste und musste, indem er bald an seiner Seite die Staatsgeschäfte leitete. Den Rest des Kapitels können wir getrost überlesen: Seianus wird hier wie ein zweiter Catilina heruntergeputzt, indem seinen unleugbaren Qualitäten jeweils ein mühsam verborgener zweiter Charakterzug entgegengestellt wird. Das Verblüffende daran ist die Tatsache, dass man unter Weglassen der taciteischen Unterstellungen zu einem rundum positiven Charakter gelangt. Seianus war also Freund des oder der Prinzen. Augustus und Tiberius mochten und schätzten ihn. Er war körperlich fit und sah gut aus. Sein Vater hat ihm naturgemäß die beste Ausbildung in allen Waffengattungen sowie im Reiten verpasst. Im Denken war er entweder kühn oder verwegen. Er trat bescheiden auf und war freigebig. Das bedeutet, dass er aus einer reichen Familie stammte, und was Tacitus »Überheblichkeit« nennt, kann man in einen verständlichen »Stolz« des jungen Heißsporns ummünzen. Seine »Gier nach Erreichen der höchsten Dinge« darf man als den »Ehrgeiz« eines Mannes deuten, den der Glanz des Kaiserhauses blendete, und das »Streben nach dem Höchsten« ist allen energischen Menschen der Welt gegeben. Es ist weder »Gier« noch gar ein Verbrechen. Nach Sallustius ist der Erwerb ewigen Ruhmes sogar das Größte, was man im Leben erreichen kann. Seianus wusste naturgemäß, mit welch brutaler Gewalt Augustus sich an die Macht geputscht hatte. Warum sollte er nicht davon träumen dürfen, ein Stück vom Kuchen abzubekommen? War das nicht verständlich und verzeihlich? Cassius Dio bietet über seinen byzantinischen Kommentator Xiphilinos (11. Jh.) eine kleine Ergänzung (Veh, Bd. 4, 328): »Dieser Seianus war der Mann, den Tiberius infolge ihrer Wesensgleichheit besonders an sich band, zum Rang eines Praetors erhob […] und zum Ratgeber und Helfer in allen Dingen machte.« Bei Tacitus war es Seianus, der Tiberius bestrickte, hier ist es umgekehrt. Dio behauptet, die beiden hätten so gut zueinander gepasst, weil sie »wesensgleich« waren. Vielleicht trifft das den Kern ihrer jahrelangen Freundschaft besser. Aber Dio geht auch auf das perverse sexuelle Verhältnis des Seianus ein (4, 327): »Lucius Aelius Seianus...