Schutting | Auf vertrauten Umwegen | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 250 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 210 mm

Schutting Auf vertrauten Umwegen

Datierte Blätter 2: 2017-2018
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7013-6323-0
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Datierte Blätter 2: 2017-2018

E-Book, Deutsch, 250 Seiten, Format (B × H): 145 mm x 210 mm

ISBN: 978-3-7013-6323-0
Verlag: Otto Müller Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Leben – ein Weitergehen und Weiterschreiben: Der da so gedankenversunken Tag um Tag dahinschreibt, ist zugleich ein unermüdlich Gehender. Zu allen Tages- und Jahreszeiten wird der Witterung ebenso getrotzt wie den dann und wann spürbaren Anwandlungen des Alters. Nicht zuletzt aus dem Zuwachs an Lebenszeit schöpft der Dichter Julian Schutting eine Erfahrung, die er in Literatur verwandelt, und die wiederum wird im täglichen Gehen, Schauen, Zuhören neu aufgeladen. Der Stadtflaneur erkundet, wird Augenzeuge einer von ihm täglich neu erfundenen Gegenwart. An den Schreibplatz zurückbgekehrt, wartet das Blatt Papier, das beschrieben und datiert werden will. Nach dem ersten Band, der die Jahre 2011 bis 2016 umfasst, versammelt Band 2 der „Datierten Blätter“ die Notate der Jahre 2017 und 2018. Auch darin kann man Julian Schutting auf „vertrauten Umwegen“ begleiten, den Alltag eines Dichters miterleben, in dem Kunst und Natur eine tägliche Symbiose eingehen – wenn Opernarien im Radio ertönen oder Vogelstimmen an den Stadtwanderer dringen, wenn Zeitungsnotizen oder Aufschriften sofort Reflexionen in Gang setzen, Landschaftsbilder im Kopf beschrieben werden oder wenn, buchstäblich im Gehen, Gedichte entstehen, die manchmal Spielerei, manchmal schon eine vollendete Form sind. Um Form und Format geht es dabei immer: im Schauen, im Gehen, im Beschreiben …

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1. Jänner 2017. „Kumm guat iwi!“, das mir lang vor Mitternacht vom oberösterreichischen Bruder telephonisch gewünscht worden. ja, das bekäme einer gern gesagt, der in seinen letzten Zügen liegt, sofern er an ein Jenseits glaubt und in ‚iwi‘ das Adverb ‚hinüber‘ erkannt hat. ‚Einen guten Rutsch!‘, was an ein folgenloses Ausrutschen denken macht, aber Ähnliches bedeutet – im Mittelhochdeutschen ‚rutschen‘ gleich ‚reisen‘ … als es fürs neue Jahr zum ersten Mal zehn Uhr wird, bei herrlich trockener Kälte, Himmel wolkenlos, auf Umwegen hinter der Sonne her kahlenbergwärts loszuziehen, bald Anorak und Wolljacke weit aufzutun. Klosterneuburg von Nebelschwaden hinweggenommen. zu Mittag in Grinzing große Kälte – erstreckt sich bis zu meiner Haustür. eine Stunde später am Donaukanal zarte Nebelstreifen. auf dem Rückweg ist vom Heiligenstädter Hof bis zur Hälfte der Barawitzkagasse, also fast bis in die Oberdöblinger Höhe, zur Sonne wie zu einem Vollmond aufzuschauen – vom Auge nicht wahrzunehmen deren zarte Verschleierung. bei uns aber blendende Sonne. die Freude an so kleinräumigen Unterschieden (in der Nacht auch vom Saarplatz wie nie zuvor hochaufschießende Raketen abgefeuert worden, aus denen sich hoch oben vielerlei Leuchtfiguren ergießen) 2. Jänner. Ein Dezemberabend es gewesen, an dem du aus der U-Bahn zum AKH, zum Allgemeinen Krankenhaus, aufschaust, zu den bis hinan gleich nackt überhellen Fenstern, deren kahle Anzahl dir doch nicht ‚Jahres-Advent-Kalender‘ eingeben dürfte. ob du sie – wie lange ist das her? – von der Unfallstation abholen könntest. ja, da war es auch schon dunkel. nein, du müssest dir nicht ein Taxi nehmen, brauchtest erst in einer guten halben Stunde vor deren Ambulanz, Eingang …, auf sie zu warten. für diesen Liebesdienst, das sagt sie dann auf der Fahrt zu ihrer Wohnung, seiest auch deshalb du ausersehen gewesen, weil einzig du am Telephon nichts erfragen wollest, so als solltest du sie bloß für einen Abendspaziergang von zuhause abholen. hast sie ja auch nur an der Hand genommen, zum Lift und zum Taxi geleitet, ohne über ihren Kopfverband mehr als: Nein so etwas! zu sagen. ob du auch heutzutage, falls …, der einzig infrage Kommende wärest? dich das besser nicht zu fragen – oder wäre nicht, darüber Gewißheit zu erlangen, Ähnliches fraglos erforderlich? Dreikönigstag. Dem in den jüngsten zwei Nächten übermächtigen Sturm ist eines nicht gelungen: den weißen, wie ein langer Schal um einen Ast einer unserer Saarplatzplatanen gewundenen Kunststoff-Fetzen zu entfernen, und auch an dem rosaroten, vor langem am benachbarten Ahornbaum hoch oben hängengeblieben, war vergeblich sein Gerüttel. habe die von ‚Epiphanie‘ hergeleitete Dreikönigshexe Befana vor langem in Rom auf der Piazza Navona in drei Exemplaren dahinrasen sehen, weiß aber erst seit heute, daß von den Sternsingern unseren Türen mit Kreide eingeschriebenes C+M+B, von zweigeteilter Jahreszahl umschlossen, in der Lesart ‚Caspar und Melchior und Balthasar‘ Volksetymologie ist wie das Christogramm JHS in der Deutung als ‚Jesus, Heiland, Seligmacher‘: Christus mansionem benedicat! das Ö1-Religionsmagazin hat soeben das voriges Jahr versäumte Ritual der Griechisch-Orthodoxen am Dreikönigstag mit den Worten angekündigt, da werde zum Gedenken an Jesu Taufe die Wassertaufe am Donaukanal mit der Versenkung eines Kreuzes vorgenommen – also auf ins alte Griechenviertel, zur Kirche des Metropoliten, zum Fleischmarkt! zum Ende des gut zweistündigen Hochamts wird im Vorraum von Frauen der Pfarre aus einem Weihwasserbehälter das Gewünschte den Gläubigen mit Küchenschöpflöffeln in mitgebrachte Fläschchen und Rex-Gläser gegossen, auch zu wie ich nur Zuschauenden war einer der Geistlichen mit Weihwasserkessel und üppigem Weihwasserbemstl getreten für verschwenderische Segensgüsse, mein Anorak halbseitig naß wie nach einem Platzregen. dann formiert sich allmählich die Prozession inmitten eines Geschiebes – ihr über den Hafnersteig voranzueilen und am Treppelweg dort an ein Geländer gelehnt, wo die Geistlichkeit noch ein paar Stufen zu einem Schiffsanlegesteg hinuntersteigen wird, im eisigen Wind bei minus fünf Grad auf das Weitere zu warten – es kann doch nicht sein, daß zur Weihe des Wassers ein Kreuz im Donaukanal versenkt wird, als sollte der Bootsflüchtlinge gedacht werden, deren Leichen vor der Insel Lampedusa auf dem Meeresgrund liegen! endlich kommen Bischof, hohe Geistliche, Popen und Diakone, in Weihrauch gehüllt, heruntergestiegen, und es leuchten in der Sonne die ihnen vorangetragenen zarten Kreuze: nämlich die in der Mitte der kurzen Querbalken montierten golddurchwirkten Scheiben, wie Monstranzen anzusehen. das Wasser ist noch nicht gefroren, wird ihnen also Jesu Taufe und das doch mitzufeiernde Wunder von Kanaan, das der Verwandlung von Wasser in Wein, nicht verleiden, aber die Lufttemperatur wird Gebete und Gesänge nicht ‚ausufern‘ lassen! auf deutsch erfahren wir Gaffer, gemäß altem Brauch würde das zur Wasserweihe bestimmte Kreuz von nächst dem Meer ansässigen Kirchengemeinden weit hinausgeworfen und junge Männer sprängen ihm nach – der es als der Schnellste zurückbringt, werde so und so geehrt. hat Johannes der Täufer den Täufling Jesus aus dem Jordan gerettet wie ein ins Wasser gefallenes Kind? eine griechisch-orthodoxe Gemeinde des Burgenlandes habe mehrmals den vereisten Neusiedlersee aufhacken müssen … ein Pope greift dann einem Höherrangigen unters Schultertuch in einen kleinen Rucksack und holt aus dem das zur Wassertaufe bestimmte kleine Kreuz heraus, ein blondes und von Schnitzereien verziertes, samt einem an dem noch eingerollt mehrfach verknoteten tiefblauen Band. zum Wasser, nicht durchs Wasser trägt es jener am Rücken und nicht auf den Schultern, und trotzdem an den heiligen Christophorus zu denken. der Metropolit ists sodann, der dem Kreuz kurze Leine gibt – offenbar damit es nicht unter das über den Winter dort stillgelegte Ausflugsschiff gerät. holt es mit einem Ruck wie einen Fisch, der angebissen hat, durch die Luft schwungvoll zurück, und tut das noch zweimal – seiner Dreifaltigkeitskirche oder doch den drei Weisen aus dem Morgenland zu Ehren? einige junge Laien küssen seinen Bischofsring, was der jetzige Papst kaum noch zuläßt – spricht den einer „Heiliger Vater“ an, antwortet er: „Heiliger Sohn“. mir schon sehr kalt, und so geh ich, während noch gebetet und gesungen wird. ‚religio‘, den Römern auch ‚abergläubische Bedenken‘ und ‚Gewissensskrupel‘ gewesen, aber wie für die Christen mit dem Verbum ‚religare‘ (zurückbinden) eng zusammengehörig – an die Katholische Kirche ich weder mit einem Drahtseil noch mit einem Faden gebunden, vielleicht mit einem tintenblau nicht himmelblauen Band! jedenfalls nie von ihr wie am Kletterseil gesichert worden, mangels Interesses, höher hinan geleitet zu werden – das jetzt eine aberratio ins Symbolische gewesen. 10. Jänner. Feingenetzt und vergißmeinnichtblau zugebunden, lehnt das goldblonde Säckchen an der Vase mit mir nicht hinwelkenden Kugelschreibern – wird nicht nur zur Weihnachts- und Osterzeit von meiner Nase gestreift. und versteift hat sich längst die Scheu, Vergessenes von dir zu erfragen: ob du dir damals mein Faible für Weihrauch in einem ägyptischen oder marokkanischen Basar hast aufsteigen lassen. aber daß überhaupt, das rührt wohl davon her, daß du mitanzusehen bekommen hattest, wie heilsam sein Rauch den mir entzündet tränenden Augen! und so beschleicht mich auch Wehmut vorm geöffneten Küchenkastel: ja, diesen kleinen Rechaud hat sie mir noch früher zugedacht, mein Gasherd zum Erhitzen von Weihrauchkörnern ja ungeeignet – solche sollten kein zweites Mal auf ihre Herdplatte gestreut werden, trotz ihres Verglühens bis auf ein Aschestäubchen. wollte vorm Aufschnüren des wohlriechenden Säckchens den billigen Weihrauch aufbrauchen – und so habe ich nicht einen der edlen Harztropfen durch vorzeitige Verwendung verschwendet. als der vorrätige, zur Linderung auch von Husten eingeatmet, erst nach zwei, drei Wintern dahin war, warum habe ich mich da des deinen enthalten? etwa in den Irrglauben geraten, seiner Reinheit sei es zugeteilt, die wann endlich frischgeweißelten Zimmerwände einer anheimelnden Rauchkuchel anzugleichen? Aber jetzt, im Alter, von deinem Weihrauch an das zu denken gemahnt zu werden, woran ich allzu oft denke, bloß nicht an das Zeremoniell danach? Ein Sakrileg wäre es längst nicht mehr in meinen nur noch selten entzündet tränenden Augen, das Säckchen voller immer noch heilig riechender Edelklümpchen an deine oder meine Pfarrkirche weiterzuschenken, und sei es, um mich von da an jeden Sonntag, vom geschwenkten Weihrauchfaß eingenebelt, ins Mysterium der Liebe versenken zu lassen und dich währenddessen auf dem Grund meines Herzens atmen zu spüren! 12. Jänner. Mit Filzstift hat einer in unkindlicher Druckschrift auf eine grundierte Plakatwand den greisen Kinderscherz „Wer das liest, ist blöd!“ geschrieben, und dir ists im Weitergehen nicht zu blöd, mit diesem stolzen Sophisten zu argumentieren: Was man liest, das ist man. Sage mir, was du liest, und ich sage dir, wer...


Schutting, Julian
Geboren 1937 in Amstetten, lebt seit den 1950er-Jahren in Wien. Mit seinen über 60 Buchveröffentlichungen einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller, schreibt Gedichte, Prosa und dramatische Texte, die mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet wurden. Im Otto Müller Verlag erschienen zuletzt der Gedichtband
„Winterreise“ (2021) und der erste Tagebuchband „Auf vertrauten Umwegen“ (2023).



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