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E-Book, Deutsch, 350 Seiten

Schwab Zeit der Aussteiger

Eine Reise zu den Künstlerkolonien von Barbizon bis Monte Verità

E-Book, Deutsch, 350 Seiten

ISBN: 978-3-406-77525-3
Verlag: C.H.Beck
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)



Elf Künstlerinnen und Schriftsteller, darunter Truman Capote und Arthur Schnitzler, die Tänzerin Charlotte Bara und Alma Mahler-Werfel, führen uns zu den zehn bedeutendsten Künstlerkolonien. Wir tauchen ein in die besondere Atmosphäre von Barbizon, Worpswede, Capri oder Taormina und ziehen mit einer dort lebenden Person dann weiter in die nächste Gegenwelt – bis wir am Schluss auf dem Monte Verità in Ascona angelangen. Der Schweizer Autor und Ausstellungsmacher Andreas Schwab zeigt in einem farbigen Reigen, wie sich fernab der Ballungszentren neue Lebensstile entwickelten, lange bevor sie sich in der Gesellschaft durchzusetzen begannen
Von den 1830er Jahren an bis weit ins 20. Jahrhundert hinein machen sich Menschen in ganz Europa auf, um Lebens- und Arbeitsgemeinschaften fernab der großen Städte in naturnaher, schöner, zuweilen auch wilder Umgebung zu gründen. Das Leben in Barbizon, der Mutter aller Künstlerkolonien, in Capri, Worpswede oder Ascona ist von bewusster Abgrenzung zur bürgerlichen Gesellschaft bestimmt. Die Aussteiger suchen eine Gegenwelt zur Dichte und zum Konkurrenzdruck in den Städten, zum übersteigerten Nationalismus und dem allgegenwärtigen Krisengefühl. Ohne große soziale Kontrolle entwickeln sich neue Lebensstile, die sich erst deutlich später durchzusetzen beginnen, manche von ihnen erst im 21. Jahrhundert. Dazu gehören die Frauenemanzipation und das Spiel mit verschiedenen Geschlechterrollen ebenso wie das offene Ausleben einer freieren Sexualität. Mit der Zeit entsteht ein Netzwerk von Subkulturen, das von Skagen an der Nordspitze Jütlands bis nach Tanger an der marokkanischen Küste, von der Finistère, der äußersten Spitze der Bretagne, bis nach Korfu reicht. Häufig pendeln sogar Künstlerinnen und Künstler von einem Aussteigerort zum andern. Darunter sind regelrechte Stars, aber auch nur Eingeweihten bekannte Malerinnen wie Marianne Stokes oder zu Unrecht vergessene Schriftstellerinnen wie Maria Lazar. Der Schweizer Autor und Ausstellungsmacher Andreas Schwab hat sie zu einem farbigen Reigen arrangiert – bis wir am Ende auf dem Monte Verità angelangen, wo uns der 'wilde Denker' Harald Szeemann in Empfang nimmt.
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Barbizon
Auberge Ganne
Als die ersten Maler mit der Patache, der berüchtigten Knochenschüttler-Kutsche, nach Barbizon an den Rand des Waldes von Fontainebleau kommen, umfasst der Weiler nicht mehr als hundert Häuser. Es gibt hier weder eine Kirche noch eine Schule, aber, und das ist viel wichtiger, eine Herberge in der Dorfmitte. Seit 1824 wird sie vom Ehepaar François und Edmée Ganne betrieben. Im Erdgeschoss haben sie einen kleinen Krämerladen eingerichtet. Dort gibt es außer dem Offizierssaal, auf der anderen Seite neben der Küche, bald auch einen Künstlersaal, in dem alle gemeinsam essen. In den bescheidenen Kammern im Obergeschoss sind die Gäste einquartiert, zunächst hauptsächlich Franzosen ausnahmslos männlichen Geschlechts, ab 1849 vermehrt auch Engländer, Iren und Amerikaner und ab 1851 Belgier und Holländer sowie Deutsche. Auch Künstler aus Italien, Rumänien, Ungarn, Russland und Polen verkehren in der Auberge Ganne und bleiben oft mehrere Wochen bis Monate. Der Anteil der Künstlerinnen in Barbizon ist mit geschätzten drei Prozent so gering wie in keiner anderen Künstlerkolonie.[1] Die gute Erreichbarkeit von Paris aus ist einer der Gründe für die Attraktivität Barbizons. Während die frühen Reisenden in die Patache, die berüchtigte Knochenschüttler-Kutsche, steigen müssen (oben), fährt später die Tramway direkt in den Weiler (unten). Die Künstler arbeiten bei schlechtem Wetter drinnen in den bis heute zugänglichen Ateliers hinter dem Innenhof, bei gutem strömen sie in die umliegenden Wälder und auf die Felder. Dafür werden sie von den Wirtsleuten mit einem Imbiss und einer Flasche Wein ausgestattet. Solange Barbizon noch ein Geheimtipp ist, stört sie kaum jemand bei der Arbeit. Abends kehren die Maler von ihren Streifzügen in die Auberge Ganne zurück. Gegenseitig kritisieren sie die an den Wänden aufgereihten Werke und setzen sich an den üppig gedeckten Tisch, um mit Scherzen, Gesang und viel Rotwein den Tag ausklingen zu lassen. Wenn sich der richtige Anlass bietet – und der bietet sich nicht selten –, werden Feste gefeiert. Eines, nämlich die Hochzeit der Wirtstochter Louise Ganne mit dem späteren Fotografen Eugène Cuvelier, hat Olivier de Penne 1859 in einem Gemälde festgehalten. La Noce de la fille Ganne zeigt die Festgesellschaft wohl schon spätabends in ausgelassener Stimmung. Corot ist als Trauzeuge zu erkennen, ebenfalls die Maler Millet und Rousseau, welche die Scheune mit Efeu geschmückt haben. Die Kunsthistorikerin Julia Cartwright beschreibt das Fest: «Corot eröffnete den Ball und führte den Flaschentanz an zu den Klängen ländlicher Geigen. Leere Flaschen wurden in Reihen auf den Boden gestellt, und das Paar, welches eine umwarf, musste austreten. Es wurde langsam begonnen, dann schneller und schneller getanzt, bis es in einem wilden Galopp endigte, und der letzte Tänzer erhielt als Preis eine Blume der Braut.»[2] Mit der Zeit suchen die Maler ihre eigene Bleibe. Sie mieten sich in eines der Häuschen ein, die entlang der Hauptstraße wie aufgereiht wirken, oder kaufen es gleich. Théodore Rousseau lässt in seines sogar ein hohes Fenster einbauen, damit er die großformatigen, auf den Rahmen gespannten Leinwände problemlos hinein- und hinaustransportieren kann. Von der Präsenz der Maler in Barbizon profitiert die lokale Bevölkerung. Mancher junge Mann und manche junge Frau kann Modell stehen, andere vermieten Zimmer oder sind als Fremdenführer tätig. Der Landschaftsmaler Charles Émile Jacque zeichnet sich durch einen besonderen Geschäftssinn aus: Ab 1862 bietet er bei allen zum Verkauf stehenden Häusern in Barbizon mit. Erhält er den Zuschlag, lässt er das Haus renovieren und verkauft es mit Profit. Doch nach der Insolvenz seines Pariser Kunsthändlers gerät er in einen Liquiditätsengpass und muss seine Immobilien in Barbizon abstoßen. Er rappelt sich wieder auf und wird 1870 Besitzer eines Anwesens in der Bretagne, wo er eine Fabrik für Stilmöbel betreibt.[3] Besonders in den Anfangsjahren ist das Leben für die auswärtigen Maler ausgesprochen preiswert. Sie können bequem leben, manchmal fast zu bequem, wie Robert Louis Stevenson (später wird er mit dem Roman Die Schatzinsel berühmt) leicht spöttisch berichtet. Denn typisch für Barbizon seien die «Snoozers» (von to snooze = ein Nickerchen machen). Viele junge Maler kosteten die schöne Umgebung und das Zusammensein so stark aus, dass sie künstlerisch weitgehend untätig blieben. Das müsse jedoch nicht als gravierend betrachtet werden, versichert er augenzwinkernd, Latenzphasen seien für die künstlerische Inspiration schließlich von essenzieller Bedeutung.[4] Mit den Jahren entwickelt sich Barbizon zum Missfallen der Pioniere zum Magneten für allerlei Kunstfreunde und Hobbymaler. Mit Naturnähe und Ruhe ist es nicht immer weit her. In einer in der Zeitschrift Journal amusant veröffentlichten Karikatur von 1875 verlegt ein Maler seinen Arbeitsplatz nicht an, sondern direkt in einen Teich. In der Bildunterschrift wird dazu erklärt: «Englische und amerikanische Maler suchen Orte, an denen kein anderer zuvor gemalt hat.»[5] Als das neu eröffnete Hotel Siron auf mehr Luxus in den Zimmern und eine gehobene Küche setzt, erlangt Barbizon immer stärker den Ruf, ein Ort für die Elite zu sein: «Hier malt man in grauen glänzenden Handschuhen, die Havanna ersetzt die Pfeife, der Champagner den Weinkrug!»[6] Laut Stevenson zählt der Wirt des Siron am Morgen die ausgetrunkenen Flaschen und verteilt die Kosten gleichmäßig auf die Maler, die am Vorabend im Saal gewesen sind. Dieses alles andere als unfehlbare System soll zu etlichen Diskussionen Anlass gegeben haben.[7] Bald schon entwickelt sich das Dorf Grez-sur-Loing, zwanzig Kilometer südlich von Barbizon gelegen, zu dessen ernsthafter Konkurrenz. Die träge dahinfließende Loing bietet Möglichkeiten für Ruderpartien und andere Vergnügungen am Wasser. Hier entsteht eine neue, ländlich geprägte Bohèmekultur, die in rauschenden Künstlerfesten ihren offenkundigsten Ausdruck finden wird. Kaum ein Maler verlässt Grez, ohne ein Bild der mittelalterlichen Brücke mit ihren zehn massiven Steinbögen gemalt zu haben Den Anfang macht der große Realist Jean-Baptiste Camille Corot zwischen 1850 und 1860: Sein in Grün- und Grautönen gehaltenes Gemälde stellt mit seiner Mittelperspektive eine klassische Vorlage dar, die Künstlerinnen wie Jelka Rosen mit ihrer flirrend-sommerlichen Version in den Folgejahren variieren.[8] Um 1900 ist nicht einmal die Anreise nach Barbizon mehr beschwerlich: Um 8.20 Uhr besteigen die Ausflügler in Paris den Zug in südlicher Richtung. In Melun müssen sie in den Tramway umsteigen, mit dem sie Punkt 10.34 Uhr im bereits hauptsächlich von der Vergangenheit lebenden Künstlerort vorkommen. Ein Werbeplakat aus dieser Zeit zeigt ihnen in vier Bildern, was sie dort erwartet: Findlinge und Felsformationen in wilder Natur, mächtige Eichen, geheimnisvolle Wege, Grotten und Wasserläufe. Das Gasthaus, vor dem die Eisenbahn ihren Dampf ablässt, steht für die ausgebaute touristische Infrastruktur, mit der die Gäste rechnen können. Auf einem Felsen prangt ein Medaillon mit den Köpfen von Théodore Rousseau und Jean-François Millet. Die beiden berühmtesten Maler von Barbizon sind zu dessen Markenzeichen geworden. Inszenierte Natur
Am Anfang der Barbizon-Begeisterung steht eine technische Innovation. Die vom Amerikaner John G. Rand 1841 zum Patent angemeldete Farbtube erlaubt ein angenehmeres Arbeiten unter freiem Himmel, da die Farben nicht mehr so kompliziert gemischt werden müssen und weniger eintrocknen. Auch deswegen erlebt die sogenannte Pleinair-Malerei einen Aufschwung. Die Künstler suchen, anders als noch in der Epoche zuvor, eine wilde, ungezähmte Natur. Sie lehnen die idealisierten Naturdarstellungen, wie sie noch im Barock und in der Klassik vorherrschten, als gekünstelt und im eigentlichen Sinn als unnatürlich ab. In ihrer Hinwendung zum authentischen Naturerlebnis folgen die Künstler dem Naturphilosophen und Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau. Dessen am Ufer des Genfersees spielendes Werk Julie ou La nouvelle Héloïse avanciert zum wichtigsten literarischen Vorbild für die sentimentale Naturbeschreibung. ...


Andreas Schwab, geboren 1971, ist Autor, Ausstellungsmacher und Gemeindepräsident von Bremgarten bei Bern. Er hat Bücher über den Monte Verità und die Landkooperative Longo maï veröffentlicht. Als Mitglied der Ausstellungsgruppe Palma3 kuratierte er zahlreiche Ausstellungen zu kulturgeschichtlichen Themen, u.a. die Dauerausstellung in der Casa Anatta auf dem Monte Verità sowie jüngst "Lebe besser! Auf der Suche nach dem idealen Leben".


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