E-Book, Deutsch, Band I, 350 Seiten
Reihe: Schlechtwetterzonen
Schwarz Schlechtwetterzonen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7583-3308-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Voraus, voraus und allzeit gute Fahrt
E-Book, Deutsch, Band I, 350 Seiten
Reihe: Schlechtwetterzonen
ISBN: 978-3-7583-3308-8
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Geschichte wie sie sich nicht alle Tage ereignet, eine Biografie, welche ihresgleichen sucht. Der Autor, Heimkind in den 1960er und 70er Jahren, erfuhr ein Leben einerseits als aufgezwungenes Schicksal, geprägt von in jener Zeit in Kinderheimen herrschender sinnloser Gewalt, anderseits aber auch als fortlaufenden Wechsel prägender Ereignisse: mehrere Heimwechsel, sowohl kirchlich als auch weltlich, zwangsläufige Schulwechsel, Wechsel der Erzieher und Kameraden. Immer zu wenig Zeit, um Bindungen einzugehen und um sich selbst zu schützen, unwissend immer mehr Kälte als Wärme erlernen zu müssen. Ein junges Leben, welches vor allem auch ein Ringen ums Überleben war - körperlich und auf jeden Fall seelisch. Und dann der immerwährende Wunsch, diesen Druck der staatlichen Fürsorge endlich zu entrinnen. Schließlich seine lang ersehnte und verrückte Berufswahl, von der er zu Beginn noch nicht ahnte, dass sie ihn fortan prägen wird und diese zu seiner Passion werden würde. Im Wechsel zwischen packender Schilderung der Ereignisse, Reflektionen und umfangreichen Informationen wie die folgenden, die man als Motto, es wären immer nur sich bald auflösende Schlechtwetterzonen, die die gesamte Schilderung sehen kann: "Es ist gut, dass jeder Mensch sein Leben nach seinem Wohlgefallen, in welcher Form auch immer, gestalten kann. Das Individuum Mensch ist in der Evolutionsgeschichte als einziger in der Lage, dies selber zu entscheiden."
Werner Schwarz wuchs mit sechs Geschwistern bei seiner Mutter in West-Berlin auf. Mit dem Entzug des Sorgerechts ihrer Mutter durch das Jugendamt Berlin wurde Werner Schwarz und seine 6 Geschwistern am 1. Februar 1965, der elterlichen Erziehung entnommen. Die Kinder wurden mit den Jahren getrennt und verloren sich aus den Augen. Werner Schwarz wuchs dabei in sieben Kinderheimen in drei Bundesländern auf und besuchte in dieser Zeit sechs verschiedene Schulen. Erst im hohen erwachsenen Alter fand sich ein Teil der Kinder wieder, fanden aber nie wieder zueinander. Aus der Zeit in den Heimen und dessen Folgen in späteren Jahren berichtet Schwarz in seinen Büchern von Gewaltexzessen, sexuellen Missbrauch, Prügelstrafen, Züchtigungen, Vernachlässigungen in der Erziehung, der Ernährung und schulischen Bildung, Drogen, Alkohol und Spielsucht, Prostitution, Beschaffungskriminalität, Gefängnisstrafen, Suizid, Mord und anderen Tragödien. Schwarz begann im Alter von 16 Jahren eine Lehre als Binnenschiffer in der Rheinschifffahrt und seinen Nebenwasserstraßen. Er wurde danach Matrose, Steuermann und Kapitän. 1983 und 84 wurde er als Marinesoldat der deutschen Bundesmarine, Turbinengast auf der Fregatte Braunschweig, kehrte zurück in die Binnenschifffahrt und blieb bis 2021 auf diversen Fracht- und Tankschiffen auf den europäischen Binnengewässern tätig. Diese Erlebnisse wurden in Schlechtwetterzonen Band I und II dokumentiert. 2021 wurde Schwarz EU-frühverrentet. Er lebt in Berlin.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Sonnenhalde: Wie kann man diesen Ort mit der Wärme der
Die letzten eineinhalb Jahre, welche ich in dieser Einrichtung verbringen musste, bahnen sich ihren Weg in meine Gedanken. Die Zeit war mal wieder viel zu kurz, um Kameradschaft oder gar Freundschaften wachsen zu lassen. Es gibt viele positive aber auch ein paar negative Ereignisse in Verbindung mit dieser Einrichtung. Meine Schwester Dagmar – ein Jahr jünger als ich – sie ist jetzt allein in dieser Einrichtung und ich habe nicht die geringste Vorstellung, wie es bei ihr weitergehen soll und was mit ihr geschehen würde. Allerdings wusste ich, dass sie ganz gerne in dieser Einrichtung war. Schon alleine wegen den ganzen Viechern usw. gefiel es ihr doch ganz gut dort. Sie war also ganz gut aufgehoben, zumindest hoffte ich das mal. Ich weiß nicht, so richtig froh werde ich dann heute Abend wahrscheinlich erst mal doch nicht sein. Meine Kameraden werden es genossen haben, dass Herr Walter mal einen Tag nicht im Haus war, weil er die Aufgabe hatte, mich zu meinem ersten Arbeitsplatz zu bringen. Obwohl, so schlecht war er gar nicht, der Herr Walter. Er war so um die 45, hatte eine normale Statur, rauchte Ernte 23, Stirnglatze, graue Haare, Vollbart, Brille und war ungefähr so groß wie ich, also ca. 180 cm. Ein Naturbursche, der stets Kniestümpfe, Knickerbocker und festes Schuhwerk trug. Ein Bergsteiger und leidenschaftlicher Wanderer, den ständig – immer und überall – ein Berg rief. Irgendwie war er sehr sozial und auch immer sehr locker und gelassen, gar nicht so richtig reizbar oder aggressiv, wie wir renitenten Zöglinge dieser Anstalt es manchmal gerne gehabt hätten. Die Erzieher hatten es sicher nicht leicht mit einer Gruppe von ein Dutzend mehr oder weniger renitenten jugendlichen Jungs – alle zwischen 12 und 18 Jahren. Es gab auch noch eine Erzieherin: Sie wohnte als einzige Frau auch noch auf der gleichen Etage wie unsere Gruppe und hatte eine dicke, alte, taube und schwarzgraue Langhaardackeldame, die stets eine Schleife im Haar hatte und Hexe hieß. Jeder Neuzugang, der in unsere Gruppe kam, stellte sich, genau wie ich vor eineinhalb Jahren, dieselbe Frage – wer ist denn nun die Hexe von den beiden, der Hund oder sie? Sie war mindestens 50 Jahre alt, groß und schlank, hinkte ziemlich heftig, hatte ein sehr markantes unschönes Gesicht und lange, (wie sollte es anders sein) schwarzgrau und fettig herunterhängende Haare wie ihre Dackeldame. Gut, eine Schleife trug sie nicht, aber sie hatte furchtbar vergilbte, pferdegebissähnliche Zähne und trug ständig die ganze Zeit über, die ich dort verweilen musste, die gleiche graublaue Hausfrauenschürze und ihr unter uns Jungs verwendeter Spitzname war natürlich „Hexe“. Doch es entging ihnen fast nichts, unseren Hexen. Ihr tauber Dackel kläffte ständig vollkommen grundlos, anscheinend um zu beweisen, dass er wenigstens noch kläffen konnte. Sie war ständig auf der Hut und wachte wie besessen über uns. Morgens weckte sie uns mit einem geheuchelten, fröhlich singenden und laut gerufenem „Guten Morgeeen“, während sie die Zimmertür aufriss und das Licht einschaltete. Abends schaltete sie es mit einem sehr bestimmenden „Gute Nacht“ bei den Großen, also den Jugendlichen ab 15 Jahren, pünktlich um 21:00 Uhr aus. Aber irgendwie hatten wir, vor allem die Älteren, doch die gleichen Interessen und somit hatten wir sie und ihre List, alles zu sehen und zu hören, ganz gut im Griff. Die Jungs kamen meist aus zerrütteten Familien, waren Scheidungsopfer, lebten in Armut oder waren – sagen wir es mal so – nicht wirklich leicht erziehbar. So war es in fast allen anderen Heimen, in denen ich so viele Jahre verbrachte, auch. Es waren von den vielen hundert Kindern, mit denen ich gemeinsam einen Teil meiner Zeit durchlebte, gar nicht so viele dabei wie ich. Ein Kind wie ich, das schon mit zwei Jahren zusammen mit seinen Geschwistern – allein durch den Staat und von niemandem sonst entschieden – in ein Kinderheim kam. Und meine, mir die ganze Zeit meines Lebens gestellte Frage, was damals vorgefallen war, ist noch lange nicht beantwortet. Vielleicht wäre es besser, keine Antwort zu finden, vielleicht wird es auch keine Antwort geben. Ich weiß es nicht und kann nur hoffen, dass meine Seele das, was ich in Erfahrung bringen werde, verkraftet. Nichts hat mich darauf vorbereitet, ganz allein und mit mir selbst all das auszuloten, was mich ausmacht. Viele Berliner, eine recht bunte Mischung von verschiedenen Charakteren, waren in der Sonnenhalde untergebracht, schön weit weg von dieser „ach so gefährlichen“ Großstadt … Es war schon sehr abenteuerlich, sich z. B. nachts die Treppe aus dem Dachgeschoß, indem wir untergebracht waren, hinunter zu schleichen, um eine Zigarette zu rauchen. Die Treppen knarrten fürchterlich in dieser alten, großen Fachwerkhütte, die außen in den oberen Etagen mit dunkelbraunem Holz vernagelt und unten nur ganz grob verputzt war. Dies führte unabdingbar zu gemeinen Schürfwunden, wenn man mal in das eine oder andere Fenster steigen wollte. Wer diese knarrenden Stufen nicht kannte, war nach der ersten Stufe schon verraten und von unserer Haushexe (die ihr Zimmer leider unmittelbar neben dem Treppenhaus hatte) erwischt worden. Da außer der Küche, dem Speisesaal und den Duschen im Erdgeschoss und der ersten Etage, in der die kleineren Zöglinge zwischen 6 und 12 Jahren untergebracht waren, nichts war, was uns interessierte, zog es uns dann zum Rauchen oder zu nächtlichen Treffen meist in den Speisesaal, wo man noch die eine oder andere Stunde heimlich verbrachte. Die Fenster hatten wir weit aufgerissen, um eine abendliche Gutenachtzigarette zu rauchen und um über die einen oder anderen Vorkommnisse des Tages zu diskutieren. Aber eben nur, wenn der heimliche Ritt durchs Treppenhaus gelang. Ansonsten hat dich die Hexe geholt und dann war es vorbei mit den nächtlichen Ausflügen. Entweder man hatte für die Wächterin der hölzernen Treppe eine gute Ausrede parat oder es war um 21:00 Uhr wirklich Zapfenstreich. Was einigermaßen als Begründung zog, wenn man erwischt wurde, war die Mitleidstour – furchtbarer Hunger, schnell mal eine Scheibe trockenes Brot aus dem angrenzenden Speisesaal neben der Küche holen zu wollen, weil man doch aus einem „erfundenen“ Grund das Abendessen verpasst hatte oder weil einem beim Abendessen so speiübel war, dass man nichts essen konnte – das ging dann schon mal. Nur eine Scheibe Brot würde jetzt wirklich sehr helfen, um die Nacht zu überstehen. „Du bist in 5 Minuten wieder oben und klopfst an meine Tür“, kläffte sie fast standardmäßig! Man wandelte, da es ja jetzt offiziell war, die knarrenden Treppen zurück in sein Schlafzimmer, sagte, man ziehe sich dann doch besser einen Morgenmantel an und bat leise einen Zimmergenossen, doch in 5 Minuten an das Zimmer der Hexe zu klopfen, die dann annahm, dass der nächtliche Ausflug des zuvor erwischten Nachtwanderers beendet wäre. Somit war immer eine gewisse Zeit im Kreis seiner Kameraden gesichert. Aber ich, ich brauchte keine Ausreden. Ich kannte nach eineinhalb Jahren den Klang jeder einzelnen Stufe, ich übte schon seit Monaten tagsüber, wie ich das Treppenhaus ohne Knarren bewältigen konnte. Für mich existierte diese Treppe gar nicht. Punktgenau wusste ich, wo ich meinen Fuß aufsetzen musste. Mal ganz links oder besser mittig oder am besten gleich über zwei hinweg auf die nächste Stufe – ich kannte jeden Tritt und wandelte darüber wie über ein Minenfeld und es war jedes Mal ein unglaubliches Erfolgserlebnis. In den Sommermonaten kletterten wir meist, wenn's nicht gerade regnete, durch die Dachfenster und dann trafen wir uns auf dem Dach des Hauses. Das war dann weniger schwierig und es war auch sehr viel schöner da oben. Da das Dach sehr flach gebaut war, konnte man sich auf die noch von der Tagessonne erwärmten Dachziegel legen und fantastische Sternenhimmel beobachten. Oft saßen wir mindestens zu zweit, zu dritt oder manchmal noch mehrere in Unterhosen oder Schlafanzügen auf dem Dach des Hauses und genossen so eine Freiheit der anderen Art. Es war absolute Stille und nur Natur, nichts anderes. Flüsternd, leise und gar nicht so sehr viel redend verbrachten wir so manchen Abend auf dem Dach in der Sonnenhalde. Im Winter war dazu natürlich keine Chance vorhanden, es gab Schnee, sehr viel Schnee. Da durften dann doch nur einige „Auserwählte“ auf das Dach, um dieses von den Schneemassen zu befreien, wenn es zu viel wurde. Unsereiner durfte eher wieder die Fenster am Boden freischaufeln, die von den lawinenartigen Schneeabgängen verdeckt waren. Frau Köhler, die Hausherrin, war eine alte aufgetakelte Dame, welche die kleineren Insassen Tante Elfi nannten. Sie war schlank und sehr groß, rauchte sehr stark, hatte dunkles gewelltes Haar und war mindestens (wie ihr auffallend faltiges Gesicht verriet) schon 60, immer braun gebrannt und fuhr einen goldmetallicfarbenen Renault 16. Ihr Mann hieß auch Walter,...