E-Book, Deutsch, 199 Seiten
Reihe: Lenos Voyage
Schwarzenbach Das glückliche Tal
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-85787-551-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 199 Seiten
Reihe: Lenos Voyage
ISBN: 978-3-85787-551-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
In "Das glückliche Tal" führt uns die Autorin in einen gebirgigen, hoch über dem Kaspischen Meer gelegenen Winkel Persiens, von Winden durchstrichen, im Angesicht des traumhaft hohen und fernen Demawend. Hier sucht und findet sie Ruhe vor der Unruhe der Welt und den Weg zu sich selbst und zu einem wahren Leben. Erinnernd lässt sie vor uns die ganze Welt des Orients mit ihren Blumengärten und Ruinenstädten erstehen, die sie, wie kaum eine zweite Europäerin, durchstreift und begriffen hat. Magisch bezaubert uns ihre Geschichte in der wundervoll geschliffenen Sprache.
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I.
Unsere Zelte stehen auf einer Grasbank am Ufer des Lahr-Flusses. Der Talboden liegt zweitausendfünfhundert Meter über Meer – noch dreissig Meter höher, wenn man vom Spiegel des Kaspischen Meeres aus rechnet, welches uns viel näher ist als der Persische Golf. Zweitausendfünfhundert Meter – das klingt schon beträchtlich, aber in Wirklichkeit bedeutet es wenig; denn ringsum sehen wir Berge und Ketten, die unser Tal mächtig überragen. Es sind graue Höhenzüge, zum Teil mit steil emporsteigenden Felswänden, aus brüchigem, wild zerrissenem Gestein – zum Teil lange, sanft hingelagerte Halden. Steht man irgendwo in der Mitte einer solchen Halde –, und wir gehen nicht selten hinauf, um die Steinböcke zu beobachten, oder einfach, um dem dumpfen Schlaf unter dem Zeltdach zu entfliehen –, dann kann man deutlich das unaufhörliche Rieseln des Gerölls hören. Dieses monotone, sehr leise Rieseln ist das einzige Geräusch in der Einöde, ausser dem Brausen eines unsichtbaren Windes, der in weiter Ferne über die Kämme streichen muss, oder gar über die heisse Ebene, tief unten, die durch eine ganze Reihe namenloser Pässe und Saumpfade von unserem Tal getrennt ist. Ich kenne kein unerträglicheres Geräusch als das nie versiegende Rieseln der grossen Halden –, ja, es übertrifft an Schrecklichkeit sogar das nächtliche Dröhnen der Karawanenglocken in der Ebene, dem ich hier glücklich entflohen bin. Im Sommer bringen die Karawanen den heissen Tag in einer Stadt oder in einem Khan zu und brechen erst mit der Dämmerung auf, wenn der Wind ein wenig kühler wird. Da ich mehrere Monate in einer Baracke gewohnt habe, die nur durch eine Gartenmauer aus Lehm von der alten Karawanenspur zwischen Teheran und Veramin getrennt war, hörte ich das dumpfe Dröhnen der Glocken, die heiseren Schreie der Treiber und die kleine, hell bimmelnde Glocke am Hals des Leitesels jeden Abend, und noch bis in den Traum hinein –, trotzdem konnte ich mich nie daran gewöhnen. Hier oben habe ich sozusagen meine ungestörte Nachtruhe; denn Kamele ziehen selten durch dieses Tal und gewiss nicht des Nachts, wenn schneidende Kälte herrscht. Aber es gibt auch andere Geräusche. Manchmal ängstigt mich das rasche, eilige Gurgeln des Flusswassers, das sich unter den Uferbänken hindurchwindet, über Kiesel stolpert –, und ich meine sogar, die verzweifelten Luftsprünge von Forellen zu hören. Oder der Wind wird stärker, dieser fürchterliche Höhenwind, der noch den Staubgeruch der verbrannten Ebene hier heraufträgt und in der Dunkelheit an den Seilen unserer Zelte reisst. Aber, wie gesagt, weitaus am schlimmsten ist das unaufhörliche Rieseln der grossen Halden. Man sollte sich nie in das Geröll hinaufwagen. Man tut es doch immer wieder. Und bleibt man dann stehen, einen Augenblick nur, um Atem zu schöpfen, dann meint man zuerst sein eigenes, rasch schlagendes Herz zu hören. Aber das ist schon verstummt, und was man immer noch hört – jetzt deutlich, unmissverständlich –, das sind die rieselnden Halden. Man sieht sich unwillkürlich um, als erwarte man Hilfe. Weithin ist, was man erblickt, nur die graue und dabei merkwürdig milde Einöde. Unten der Fluss – ein schmales Band, und die grünen Pferdeweiden, die weissen Zelte, gegenüber am anderen Ufer das Tschaikhane, niedrig, fast versteckt in der Mulde vor dem Anstieg des Afjé-Passes, der Rauch dringt aus der Türe und windet sich an der silbergrauen Felswand empor –, ein wenig flussabwärts die Zelte der Nomaden, aus schwarzem Ziegenfilz, davor die rotleuchtenden Röcke der Frauen und ihre blitzenden Kupferkessel. Alles so winzig wie Spielzeug, auch die Schafherden, auch die weidenden Pferde des Schahs. Der Fluss verschwindet hinter den Schwarzklippen – viel weiter sind wir auch beim Forellenfischen noch nicht gekommen. Aber das Lahr-Tal ist damit noch längst nicht zu Ende; wissen wir überhaupt, wohin es führt? – Hinunter nach Mazanderan, in das Teufelsland am Kaspischen Meer, sagen die Nomaden. Mazanderan – wunderbar ist der Klang dieses Namens! Dort herrschen Dschungel, Urwald, Reisfelder, Wasserbüffel auf melancholischen Dünen, Feuchtigkeit, Malaria. In Gilan, der westlichen Nachbarprovinz, werden die Reisfelder auf Befehl des Schahs trockengelegt, und Chinesen lehren den Malaria-Bauern die schwierige Kunst der Teekultur. Der Tee von Gilan schmeckt nach Stroh, der Reis aus Mazanderan riecht nach getrocknetem Mist. In den kleinen Küstenstädten, in Pehlevi, in Meshed-i-Sehr, wohnen die russischen Kaviarfischer. Im Osten beginnen die Steppen, Weideplätze der Pendinischen und Theke-Turkmenen, mit ihren roten und kamelhaarbraunen Teppichen, ihren bunten Zeltstreifen und Satteltaschen. Sie züchten die schönsten und schnellsten Pferde des Ostens. Ihre Buben, sechsjährig, achtjährig, reiten sie in den grossen Steppenrennen, die im Herbst stattfinden. Im Hafen Krasnovodsk beginnt die russische Bahn, ein einsamer Schienenstrang, der durch die Steppe läuft: nach Merw, nach Buchara, Samarkand. Da sind wir schon nahe von den lockenhaarigen Tadschiken, schon bald auf den Pamir-Höhen, und an der Grenze des Himmelsgebirges. Oh, Magie der Namen! Oh, Städte Asiens, leuchtende Kuppeln über dem Niemandsland, oh, jähe Hoffnungen! Schlägt dein Herz wieder? Am Talausgang – dort, wo wir seinen Ausgang vermuten, erhebt sich der glatte Kegel des Riesen, die unerreichbare, unberührbare Pyramide des Demawend: sein Leib ist jetzt, im späten Sommer, gestreift wie der eines Zebras. Die Lava macht sich breit zwischen dem schmelzenden Schnee. Sein Haupt aber ist immer von strahlender Wolkenweisse und sendet selbst in der Nacht sein Licht aus, das wie die Milchstrasse sanft den Himmel erhellt. Wir sind an seinen herrlichen Anblick gewöhnt – wie man sich in diesem Land gewöhnt an Ausblicke, Staub, Kamelglocken, Fieber, an den Ablauf der Stunden, an Morgen und Abend, und zu leben versucht, jeder, wie er es vermag. Und den Demawend sehen wir, wo immer wir uns hinwenden: wenn wir morgens das Zelt verlassen, wenn wir dem Fluss entlang waten bis hinunter zu den Schwarzklippen, wenn wir statt dessen flussaufwärts gehen und den Graskessel erreichen, wo Kamele weiden und Ziegen und fettschwänzige Schafe. Einmal bin ich zu einem Ruinenhügel geritten, der viele Stunden von hier entfernt in einem runden Talgrund liegt und noch von keinen Grabräubern, von keines Menschen Fuss berührt wurde. Den Nomaden bedeutet er nichts; denn kein Grashalm wächst auf seiner nackten, von einem wohl tausendjährigen Tod gezeichneten Oberfläche. Ich stieg hinauf, kehrte dem starken Wind den Rücken: da erhob sich, in wunderbarer Ferne, wieder das weisse Haupt. Heute ist es von einer leichten Wolke verhüllt – oder sind es Schwefeldämpfe? Aber der Krater ist längst erloschen. Selbst die Assyrer, welche berichteten, dass das fremde Volk der Meder sich bis zum Fusse des Bikni-Berges ausdehne, wussten nicht, dass es ein feuerspeiender Berg sei. Seit dreitausend Jahren schon ist er erloschen! Seit Menschengedenken! – Wie ich hinüberschaue zum Demawend, den ich aus langer Gewohnheit kenne und gewiss auch verehre, weil sein Haupt den Himmel berührt und sein Fuss unsichtbar ist, da vermischen sich meine Herzschläge wieder mit dem unaufhörlichen Rieseln. Ich werde ruhiger. Über mir heben die Felskämme zu glänzen an, die die Halden krönen, aller Schwere entblösst, und wenn mir auch nicht leicht zumute wird, so gewinnt doch das eben noch unerträgliche Geräusch die Qualität einer grossen Stille. Wir nennen dieses Tal manchmal «Ende der Welt», weil es hoch über den Hochflächen der Welt liegt, weit von den begangenen Ebenenstrassen; keine Karawanenspur verbindet es auch nur mit der Wüste und den Toren ihrer Totenstädte Kerbela und Nejaf, wo es von geschäftigen Menschen wimmelt – Gebirgszüge ohne Ende trennen es vom Meer. Wohl trifft man da und dort auf einen Pfad; aber niemand ausser den Nomaden weiss, wohin diese Pfade führen. Und es ist noch zu bezweifeln, ob die Nomaden es wissen, obwohl sie es sind, die im Lauf der Jahrhunderte die Spuren getreten haben; denn sie wandern geduldig mit ihren Herden und folgen den Jahreszeiten oder den Weideplätzen, bis der Kreislauf sich schliesst und sie, in den ersten Tagen des Sommers, wieder hier eintreffen. – Nein, sie kennen kein Ziel, und ihr Blick, wenn er über die Rücken ihrer Kamele streift und vielleicht weit darüber hinaus schon beim Demawend anlangt, ist von einer Ergebenheit, die Enge und Weite hinnimmt – von einer Geduld, die uns im Innersten erschreckt. Sie fürchten zweifellos den Tod nicht. – Sehen sie den Demawend? – Erkennen sie, wie sein glatter Kegel den Talausgang versperrt? – Merken sie nicht, dass er, wenn man versucht, ihm näher auf den schneegestreiften Leib zu rücken, sich sachte weghebt und entfernt wie der Mond? – Wahrscheinlich würden sie antworten: «Man kann seinen Fuss umgehen.» Was liegt hinter seinem Fuss? – Sie würden den Kopf schütteln über eine solche Frage. Man sagt, die Nomaden rauchen kein Opium. Wenn man drüben im kleinen Tschaikhane, wo die Männer um den Samowar sitzen, den süsslichen Opiumgeruch zu spüren glaubt, der die Erinnerung an die Khans der Karawanenstrassen und an die Teehäuser der Städte wachruft, so braucht man nur genauer hinzusehen: auf den Lehmbänken neben dem Herd, in der dunkelsten Ecke, hockt ein Soldat, einer der Pferdehüter des Schahs, die Bluse offen, die Schuhe neben sich, und raucht. Es ist besser, nicht zu genau hinzuschauen. Der Wirt stellt sich in den Weg und murmelt: «Er ist krank.» Das sagt er zu uns, den Faranghi, den Fremden. Und ringsum Schweigen, die...