Schweitzer / Auffarth / Dingel | Bildung | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band Band 2, 267 Seiten

Reihe: Theologische Bibliothek

Schweitzer / Auffarth / Dingel Bildung


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-7887-2822-9
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection

E-Book, Deutsch, Band Band 2, 267 Seiten

Reihe: Theologische Bibliothek

ISBN: 978-3-7887-2822-9
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
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Bildung gilt als zentrales Thema unserer Gegenwart. Dieser Band geht nicht schwerpunktmäßig von erziehungswissenschaftlichen und philosophischen Perspektiven aus, sondern er macht deutlich: Bildung ist von der Sache selbst her ein Thema der Theologie. Das beginnt bereits im Alten Testament und zieht sich durch die gesamte Geschichte des Christentums hindurch (Judentum und Christentum als Buchreligion; kirchliche Bildungstraditionen; Reformation als Bildungsbewegung (u. a.). Der Schwerpunkt liegt jedoch bei neuzeitlichen Entwicklungen, bei denen der Bildungsbegriff explizit thematisiert wird. Das Verhältnis von Bildung und Theologie betrifft jedoch auch systematische Zusammenhänge: Menschenbild, Menschenwürde und Gottebenbildlichkeit, die Personalität des Menschen, seine Bestimmung sowie Fragen der Ethik lassen sich von einem theologisch vertieften Bildungsbegriff her vieldimensionaler fassen und im Gespräch über Gegenwartsfragen profilierter zum Ausdruck bringen. Schließlich wird auch der Zusammenhang von Glaube und Bildung zur Sprache gebracht. Das Buch entfaltet in allgemeinverständlicher Sprache Bildung aus historischer, systematischer und praktischer Sicht und ermöglicht so den Diskurs über aktuelle Fragen.

Friedrich Schweitzer ist Professor für Religionspädagogik/Praktische Theologie an der Universität Tübingen. Er leitet das Evangelische Institut für berufsorientierte Religionspädagogik in Tübingen (EIBOR).
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II. Geschichtliche Zusammenhänge

Wenn Bildung in theologischer Perspektive thematisiert werden soll, bietet sich zunächst die Rückfrage nach geschichtlichen Zusammenhängen an. Denn der Bildungsbegriff steht in einem historisch weit zurückreichenden Horizont, vor dem sich die religiösen Bezüge des Bildungsverständnisses besonders klar erschließen lassen.

Der Bildungsbegriff selbst weist religiöse Wurzeln auf und geht auf einen ausgesprochen religiösen Entstehungskontext zurück. Darauf wird im Folgenden eigens einzugehen sein. Zugleich stellt sich im Blick auf die geschichtlichen Zusammenhänge aber das Problem, dass die mit dem Begriff bezeichnete Sache nicht erst mit dieser Bezeichnung entsteht. Deshalb muss zunächst geklärt werden, wie Begriffe und Sachen sich in diesem Falle zueinander verhalten und was dies für unsere Untersuchung bedeutet.

1. Begriffe und Sachen

Wer sich mit bildungsgeschichtlichen Entwicklungen und Zusammenhängen befasst, stößt früher oder später unweigerlich auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Begriffen und Sachen. Begriffe weisen oft eine ganz bestimmte Geschichte auf. Bei vielen wissenschaftlichen Begriffen kann man geradezu von einer Erfindung sprechen. Sie tauchen erst zu einer bestimmten Zeit in Sprache und Literatur auf und gewinnen dann mitunter doch eine solche Selbstverständlichkeit, dass es kaum mehr möglich scheint, zwischen Sache und Begriff zu unterscheiden.

Besonders leicht lässt sich dies etwa an dem heute geläufigen Begriff der Identität nachvollziehen. Inzwischen wird ganz selbstverständlich von einer persönlichen Identität, einer nationalen Identität, einer ethnischen Identität usw. gesprochen. Vor dem 20. Jahrhundert hätte dies kaum jemand verstanden. Denn niemand sprach damals von einer solchen „Identität“. Aber man wird doch kaum sagen können, dass deshalb auch alle Fragen und Probleme, die heute mit dem Identitätsbegriff assoziiert werden, vor dem Aufkommen des Identitätsbegriffs gar nicht vorhanden waren. Die Sache ist hier offenbar älter als der Begriff.

Ähnlich verhält es sich auch mit dem Bildungsbegriff.5 Noch im späten 18. Jahrhundert konnte der Philosoph Moses Mendelssohn feststellen, dass der Bildungsbegriff noch recht neu sei und von den meisten Menschen außerhalb der Wissenschaft kaum verstanden werde: „Die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge, sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht sie kaum“.6 Der allgemeine Gebrauch des Bildungsbegriffs geht demnach erst auf das 18. und 19. Jahrhundert zurück. Bemerkenswert ist auch, dass der Bildungsbegriff vor dem 14. Jahrhundert überhaupt nicht nachweisbar ist. Es handelt sich um eine Wortschöpfung, die offenbar auf die deutsche Mystik zurückgeht.

Ist daraus zu schließen, dass es Bildung vor dem 14. Jahrhundert oder gar vor dem 19. Jahrhundert gar nicht gegeben hat? Diese Auffassung vermag kaum einzuleuchten. Kinder, Jugendliche und Erwachsene haben auch lange davor schon gelernt, sie haben Schulen und andere Bildungseinrichtungen besucht und also genau das getan, was heute als „sich bilden“ bezeichnet wird. Die Sache ist auch in diesem Falle älter als der Begriff.

Zumindest ein Stück weit gilt also, dass die Sachen oder Sachverhalte ganz unabhängig von den Begriffen zu existieren scheinen. Der Bildungsbegriff lässt sich bekanntlich nur in wenige andere Sprachen übersetzen, aber deshalb lässt sich noch lange nicht behaupten, dass Bildung ausschließlich in Deutschland zu finden sei.

Mit dem Theologen und Erziehungsphilosophen Friedrich Schleiermacher begann man das Verhältnis zwischen Begriff und Sache im Bereich der Pädagogik auch so auszudrücken, dass die Praxis hier grundsätzlich „viel älter“ ist als die Theorie.7 Lange bevor es eine Theorie der Erziehung im wissenschaftlichen Sinne gegeben hat, wurde in der Praxis erzogen, gleichsam „schon immer“. Doch mit Bedacht fügt Schleiermacher dem hinzu, dass die Praxis „mit der Theorie eine bewusstere“ werde.8 Begriffe und Theorien treten demnach nicht einfach zu einer bestehenden Praxis hinzu, um diese gedanklich, mit Hilfe eines Begriffs oder einer Theorie, geistig zu verdoppeln. Durch die begriffliche Fassung und die dadurch ermöglichte theoretische Durchdringung verändert sich vielmehr auch die Sache selbst. Sie wird anders verstanden, anders ausgelegt und dann, in der Folge, eben auch vielfach anders gestaltet. Genau dies lässt sich auch für den Bildungsbegriff behaupten. Die Bildungspraxis ist älter als jede Bildungstheorie, aber indem diese Praxis als Bildung verstanden und reflektiert wird, wird sie auch selbst anders. Sie wird einem veränderten Anspruch unterstellt, und dies zieht auch praktische Konsequenzen nach sich. Deshalb ist es wichtig, im Folgenden auf beides zu achten, auf die Sache ebenso wie auf den Begriff der Bildung.

Damit ist eine erste Klärung erreicht, an der wir uns orientieren können. Zugleich ist aber noch eine weitere Unterscheidung zu bedenken, die sich auf das Verhältnis zwischen historischen Voraussetzungen und deren wirkungsgeschichtlicher Bedeutung bezieht. Immer wieder kommt es vor, dass sich erst in späterer Zeit zeigt, welche Folgen sich aus einer bestimmten Entscheidung oder Veränderung ergeben. Als beispielsweise Jean-Jacques Rousseau im Jahre 1762 seinen berühmten Erziehungsroman „Emile“ veröffentlichte9, konnte noch niemand wissen, dass sich die moderne Pädagogik später jahrhundertelang auf dieses Buch als Gründungsurkunde berufen würde. Zugespitzt kann man sagen, dass sich dieser Roman erst durch die Wirkungsgeschichte als eine Voraussetzung für spätere Entwicklungen erwies. Dem Buch selber war das nicht sofort anzumerken. Heute muss es aufgrund seiner Wirkungsgeschichte als eine solche Voraussetzung angesehen und erschlossen werden.

Solche nicht immer leicht zu durchschauenden Zusammenhänge zwischen historischen Voraussetzungen und wirkungsgeschichtlicher Bedeutung sind auch für das Verhältnis zwischen Theologie und Bildung zu berücksichtigen. Aus der Wirkungsgeschichte heraus erweisen sich bestimmte theologische Sichtweisen, die zunächst kaum etwas mit Bildung zu tun zu haben schienen, dann doch bildungsgeschichtlich als höchst bedeutsam. Das lässt sich etwa am Beispiel der biblischen Schöpfungserzählungen am Anfang der Bibel (Gen 1f.) besonders eindrücklich nachvollziehen. Denn obwohl in diesen Texten von Bildung oder Erziehung nicht ausdrücklich die Rede ist, besteht doch ein überaus enger Zusammenhang zwischen der biblischen Schöpfungstheologie und dem späteren Verständnis von Bildung. Das gilt sogar bis hin zum Begriff der Bildung selbst, der nicht nur in einem allgemeinen Sinne religiöse Wurzeln aufweist, sondern ganz direkt mit dem ersten Kapitel der Bibel und den dort zu findenden Aussagen über den Menschen – die Gottebenbildlichkeit des Menschen – verbunden ist. Deshalb kann mit guten Gründen die Auffassung vertreten werden, dass es ohne das biblische Schöpfungsverständnis kaum möglich gewesen wäre, den Bildungsbegriff in der uns heute vertrauten Form zu konzipieren. Anders ausgedrückt zeigt sich die Bildungsbedeutung des biblischen Schöpfungsglaubens in der Wirkungsgeschichte und muss anhand dieser Geschichte erschlossen werden.

Wenn hinter die Begriffe auf die Sachen vor den Begriffen zurückgegriffen werden soll, muss freilich ein bestimmtes Verständnis zugrunde gelegt werden, weil eine nicht am Bildungsbegriff orientierte Darstellung sonst ins Grenzenlose zerfließt. Von welchem Bildungsverständnis also werden die im Folgenden weit in die Geschichte zurückgreifenden Beobachtungen geleitet?

Einen hilfreichen Ausgangspunkt bietet hier der Historiker Reinhart Koselleck, der drei Merkmale nennt, die in seiner Sicht für den spezifisch deutschen, vom Sprachgebrauch in anderen Ländern unterscheidbaren Bildungsbegriff kennzeichnend sind: erstens der „Autonomieanspruch, die Welt sich selbst einzuverwandeln“ – das unterscheide Bildung grundsätzlich von Erziehung; zweitens der Bezug auf eine „Gesellschaft, die sich primär durch ihre mannigfaltige Eigenbildung begreift“ und also nicht mehr einfach von politisch-hierarchischen Bestimmungen her; und drittens die Rückbindung der „kulturellen Gemeinschaftsleistungen“ an eine „persönliche Binnenreflexion“10. Diese drei Merkmale lassen sich, Koselleck zufolge, erst ab etwa der Zeit nach 1800 finden. Insofern können sie nicht in frühere Epochen zurückverfolgt und deshalb zunächst auch nicht einfach als Orientierung für den Versuch genutzt werden, Bildung als Sachverhalt vor dem Begriff zu identifizieren. Sie stellen aber sicher, dass das mit dem Bildungsbegriff Gemeinte tatsächlich im Blick ist. Damit ist ebenfalls gesagt, dass die genannten Merkmale zumindest in einer früheren Form auch dort zu finden sein müssen, wo der Begriff der Bildung noch fehlt. Sonst könnte es nicht einleuchten, einen früher zu findenden Sachverhalt überhaupt mit dem Bildungsverständnis in Verbindung zu bringen. In dieser Spannung schlage ich eine Art Mittelweg vor: Bildung als Sachverhalt soll im Folgenden anhand des von Koselleck genannten Bezugs auf einen menschlichen „Autonomieanspruch“ sowie eine „persönliche Binnenreflexion“ etwa von Sozialisation oder Erziehung unterschieden werden. Dies entspricht auch erziehungswissenschaftlichen Auffassungen in unserer Gegenwart, die hier etwa von Selbstbestimmung und von der Bildung des Selbst...


Schwöbel, Christoph
Dr. Christoph Schwöbel ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Janowski, Bernd
Dr. theol. Bernd Janowski ist emeritierter Professor für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Schweitzer, Friedrich
Dr. Dr. h.c. Friedrich Schweitzer ist Professor für Religionspädagogik an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Wolter, Michael
Prof. Dr. Michael Wolter ist emerierter Professor für das Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn.

Schweitzer, Friedrich
Dr. Dr. h.c. Friedrich Schweitzer ist Professor für Religionspädagogik an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen.

Dingel, Irene
Prof. Dr. phil. theol. habil. Irene Dingel ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, Mainz.

Bernd Janowski, geb. 1943, Dr. theol., ist emeritierter Professor für Altes Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
Friedrich Schweitzer, geb. 1954, Dr. rer.soc., ist Professor für Religionspädagogik und Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
Friedrich Schweitzer, geb. 1954, Dr. rer.soc., ist Professor für Religionspädagogik und Praktische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
Christoph Schwöbel, geb. 1955, Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen.
Michael Wolter, geb. 1950, Theologiestudium in Berlin, Heidelberg und Göttingen, 1977 Promotion, 1977 - 1983 Redakteur der Theologischen Realenzyklopädie (TRE), 1986 Habilitation, 1988 - 1993 Professor für Biblische Theologie an der Universität Bayreuth, seit 1993 Professor für Neues Testament an der Universität Bonn, seit 2004 Honorarprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Pretoria.
Irene Dingel, Dr. theol., ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Europäische Geschichte in Mainz (Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte) und Professorin an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.



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