E-Book, Deutsch, 200 Seiten
Schwob Problem Child
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95542-064-2
Verlag: Societäts-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Rhein-Main-Krimi
E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-95542-064-2
Verlag: Societäts-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Als Jugendlicher in den 80er Jahren ließ sich Frank die Haare wachsen, hörte AC/DC und demonstrierte gegen die verhasste Startbahn West. Etliche Jahre später kehrt er als Erwachsener in seinen Heimatort zwischen Rhein-Main-Airport und Darmstadt zurück, weil er sich um den Verkauf des Elternhauses kümmern muss. In der alten Umgebung werden Erinnerungen wach, die er bisher erfolgreich verdrängt hatte. Schuldgefühle aus dieser Zeit sorgen schließlich dafür, dass er ein obdachloses Mädchen für eine Nacht mitnimmt, ohne zu ahnen, dass er sich damit riesige Schwierigkeiten einhandelt. Am Ende spitzt sich die Situation im Frankfurter Bahnhofsviertel lebensbedrohlich zu.
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2010: Heimkehr
Rechts versteckt sich der Niederwaldsee hinter Bäumen, und ein Stück weiter vorne kündigt das Schild bereits die Ausfahrt an. Noch 500 Meter. Noch 300. 100. Frank nimmt den Fuß vom Gaspedal, blinkt und verlässt die Autobahn. Am Römerkreisel biegt er auf den Nordring ab, um die Innenstadt zu umgehen. Da er nicht wissen kann, was man sich in Sachen Verkehrsführung innerhalb eines knappen Jahres neu einfallen lassen hat, scheint ihm diese Strecke noch am sichersten zu sein. Als er im letzten Jahr zum achtzigsten Geburtstag seines Vaters nach Groß-Gerau gekommen war, hatte er überrascht feststellen müssen, dass Straßen, die er früher immer gerne als Abkürzungen benutzt hatte, zu Einbahnstraßen geworden waren. Als sein Vater dann keine zwei Monate später überraschend verstorben war und Frank zur Beerdigung erneut in seine Heimatstadt zurückkehren musste, machte er die verwirrende Erfahrung, dass man die neue Einbahnstraßenregelung zumindest teilweise wieder zurückgenommen hatte. Über die entsprechenden Schilder waren blaue Plastiksäcke gezogen und die Straßen wieder in beiden Richtungen befahrbar. Dafür waren aber nun andere Straßen gesperrt, die vorher passierbar gewesen waren. Auf dem Nordring gibt es heute Gott sei Dank keine derartigen Überraschungen, die Straße schlängelt sich wie eh und je an der Feuerwache und dem neuen Friedhof vorbei, durchschneidet Felder und Äcker und führt schließlich als Brücke über die Bahntrasse. Allein das kahlgeschlagene Grundstück jenseits der Schienen, wo sich früher die Zuckerfabrik mit ihren Silos und Schornsteinen erhob, löst ein merkwürdiges Gefühl der Entfremdung in ihm aus, so als fehle auf einmal etwas, das eigentlich nicht fehlen darf, weil es doch schon immer, buchstäblich seit er denken kann, da gewesen ist. Die Zuckerfabrik war bereits vor einiger Zeit geschlossen und kurz danach vollständig entkernt und abgerissen worden. Frank hatte sich damals ein Amateurvideo von der Sprengung der Kamine und Türme im Internet angesehen. Als er nun am höchsten Punkt der Brücke anlangt, sieht er das wie ausgebombt brachliegende Areal links unter sich, dessen weitreichende Fläche ihm erst jetzt, wo nichts mehr darauf steht, richtig bewusst wird. Auf der anderen Seite der Brücke biegt er links auf die Umgehungsstraße ab, überquert die Kreuzung an der blauweißen Aral-Tankstelle und ordnet sich wenig später an der nächsten Ampel zwischen Schule und Hallenbad auf der Linksabbiegerspur ein. Franks Elternhaus liegt in einer Seitenstraße mit Reihen- und Einfamilienhäuschen, angebauten Garagen und großzügigen Gärten, die von der Straße aus nicht einsehbar sind. Er parkt seinen Leihwagen, einen silbergrauen Opel Astra, den er sich am Frankfurter Flughafen geliehen hat, entgegen der Fahrtrichtung direkt vor dem Haus. Sein Rücken macht ihm zu schaffen und seine Arme und Beine fühlen sich steif und müde an, obwohl der Flug von Berlin nur eine knappe Stunde gedauert hat; auch die anschließende Autofahrt hierher war ein Klacks. An den meisten anderen in der Straße geparkten Autos sind schwarz-rot-goldene Fähnchen in die Schiebefenster geklemmt, die deutsche Mannschaft hatte am Vorabend mit einem Sieg gegen Ghana den Einzug ins Achtelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft in Südafrika feiern können. Im Vorgarten gegenüber lehnt der alte Schubert am Zaun und spritzt seinen Garten. Er tut so, als habe er nichts gesehen, aber Frank weiß, dass er natürlich trotzdem alles mitbekommen hat. Der alte Schubert, seit geschätzten hundert Jahren Pensionär, hat schon immer alles mitbekommen, was in der Nachbarschaft vor sich ging. Wenn Frank früher einmal eine verbotene Abkürzung über einen fremden Gartenzaun genommen hatte und ihn Schubert dabei sah, konnte er sicher sein, dass die Nachricht von seiner Untat bereits bei den Eltern angekommen sein würde, bevor er selbst zu Hause eintraf. Der alte Holzzaun ist verwittert und zwischen den Gehwegplatten, die zum Hauseingang und dem hinteren Teil des Grundstücks führen, wächst büschelweise Unkraut. Im Garten gebe es einiges zu tun, hat Andrea letzte Woche am Telefon gesagt, und er hat ihr versprochen, sich darum zu kümmern. Die Rollläden im Erdgeschoss sind alle heruntergelassen, und die Haustür dreimal verschlossen. Als Frank die dunkle Diele betritt, schlägt ihm der süßliche Geruch abgestandener Luft, vermischt mit kaltem Zigarettenrauch, entgegen. Er drückt an der Leiste neben der Tür auf den unteren Schalter für die Flurbeleuchtung, aber nichts geschieht. Erst nachdem er alle Schalter ohne Erfolg einmal an- und wieder ausgeschaltet hat, fällt ihm ein, dass Andrea wahrscheinlich die Sicherungen umgelegt hat. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich langsam zu einem der Fenster vorzutasten. Von der Haustür fällt ein schmaler Streifen Licht durch den Flur ins Wohnzimmer, aber trotzdem stößt er sich zweimal das Knie, bevor er endlich den Rollladengurt im Halbdunkel zu fassen bekommt. Die Abendsonne fällt in schrägen Streifen durch das Fenster in den Raum, Staubkörner tanzen in den Lichtbahnen. Die schweren dunklen Möbel und die verblasste Tapete sehen noch genauso aus wie immer. Er sieht den Fußschemel, an dem er sich gestoßen hat, und daneben den Wohnzimmertisch, die zweite Stolperfalle. Beides ist nachlässig in die Mitte des Raumes gerückt worden, offenbar um den Polstersessel, den kleinen Beistelltisch und die Stehlampe besser aus der Ecke heraustragen zu können. Am alten Standort der Möbel sind Abdrücke im aufgehellten Teppichboden zurückgeblieben. Auf dem Wohnzimmertisch liegen ein paar Bücher aus Vaters Bibliothek und daneben steht ein Aschenbecher mit einer zusammengedrückten Kippe darin. Frank sieht den roten Lippenstift am Filter der nur zur Hälfte gerauchten Zigarette. Unter den Aschenbecherrand ist ein gefaltetes Blatt Papier geklemmt, auf dem ein paar Zeilen in der geschwungenen Handschrift seiner Schwester geschrieben stehen. Bei näherem Betrachten stellt er fest, dass es sich um Anschrift und Telefonnummer des „Altenheims an der Fasanerie“ und die Durchwahl der Station handelt, auf der seine Mutter nun offenbar untergebracht ist. Daneben steht: Hallo Frank, bitte bring Mutter die Bücher mit, wenn du sie besuchst. Rufe dich heute Abend an. Grüße, Andrea. Frank legt das Blatt zurück auf den Tisch, nimmt den Aschenbecher und wirft ihn samt Kippe in die Mülltonne vor dem Haus. Dann macht er sich auf den Weg zum Sicherungskasten. Als am frühen Abend sein Handy klingelt, hat Frank das Haus bereits ausgelüftet. Er liest die Nummer auf dem Display ab und meldet sich mit einem knappen „Ja“. „Wo bist du?“ „In unserem Elternhaus natürlich, was denkst du denn?“ Einen Moment lang herrscht Stille, dann fragt seine Schwester: „Hast du alles gefunden?“ Frank lacht. „Wenn du deinen informativen Zettel und deine miefende Hinterlassenschaft meinst, ja, habe ich.“ Er hört, wie Andrea leise aufstöhnt. „Hör mal, das Haus stinkt und ist noch voller Möbel, so nimmt das keiner, nicht mal geschenkt. Warum hast du eigentlich alles derart verrammeln müssen?“ „Vielleicht ...“, setzt Andrea an, wird aber von Frank barsch unterbrochen. „Wenigstens zum Rauchen hättest du nach draußen gehen können.“ „Vielleicht ...“, beginnt sie noch einmal und redet einfach weiter, obwohl Frank erneut Anstalten macht, ihr gleich wieder das Wort abzuschneiden. „Vielleicht erinnerst du dich noch, dass wir bereits gestern Morgen verabredet waren. Mamas Umzugshelfer mit dem Kleinbus war da. Ich war da. Sogar der Sozialdienst des Altenheims war da. Der Einzige, der nicht da war, warst du. Und du warst auch nicht zu erreichen. Als wir fertig waren, kam deine SMS, dass du es erst heute schaffst. Im Laufe des Tages. Bei günstigen Umständen. Wenn überhaupt. Also bitte, ich hatte keine Ahnung, ob du überhaupt noch auftauchen würdest. “ „Es ging nicht anders ...“ „Natürlich, so wie es die ganzen letzten 12 Monate nach Vaters Tod auch nicht anders ging ...“ „Zehn“, sagt Frank. „Was?“ „Es waren nur zehn Monate.“ „Weißt du was, Frank? Du kannst mich mal.“ Frank holt tief Luft, aber seine Schwester hat bereits aufgelegt. Er spürt, wie ein leichtes, aber beständiges Pochen in seinen Schläfen Kopfschmerzen ankündigt. Er war noch nicht im Garten und in der Einliegerwohnung im Keller, und oben hat er sich auch noch nicht richtig umgesehen. Das alles wird warten müssen, denkt er und beschließt, seine Reisetasche aus dem Auto zu holen und sich erst einmal für die Nacht einzurichten. Draußen taucht die tief stehende Sonne die kleine Straße in rötliches Sommerabendlicht. Der alte Schubert liegt gegenüber mit einem Kissen unter den Ellenbogen und einer Flasche Bier in der Hand im Fenster und verfolgt jeden seiner Schritte. „Schönen guten Abend, Herr Schubert!“ Frank winkt demonstrativ fröhlich hinüber, und der alte Griesgram murmelt ein kaum verständliches „’N Abend“. Zwei Jungs mit Handtüchern über den schmalen Schultern schlurfen in kurzen Hosen und Badelatschen ein Stück weiter vorne über den Rad- und Fußweg, der hier an der Umgehungsstraße entlangführt. Die beiden rempeln sich beim Laufen ständig gegenseitig an und lachen. Wahrscheinlich auf dem Heimweg vom Freibad, denkt Frank und sofort fallen ihm die ratternden, blau lackierten Drehkreuze und das Kassenhäuschen wieder ein, vor dem er als Kind so oft, nur mit einem zusammengerollten Handtuch unter dem Arm und dem abgezählten Eintrittsgeld in...