E-Book, Deutsch, Band 2, 281 Seiten
Seemann Elbleichen
2024
ISBN: 978-3-8392-6180-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, Band 2, 281 Seiten
Reihe: Kommissarinnen Brandes und Kurtoglu
ISBN: 978-3-8392-6180-4
Verlag: Gmeiner-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Auf der kleinen Elbinsel Neßsand werden zwei stark verweste Leichen gefunden. Die Untersuchung des Mordfalls gestaltet sich schwierig, denn in dem vornehmen Hamburger Stadtteil Blankenese stoßen die Kommissarinnen Stella Brandes und Banu Kurtoglu auf eine Mauer des Schweigens und der Gleichgültigkeit. Als die Ermittlungen endlich vorankommen, geschieht ein weiterer Mord. Dieser führt Stella und Banu zu einem Geheimnis, das nie ans Licht der Öffentlichkeit hätte kommen sollen.
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Samstag, den 11. August 2012
Meike Liebermann legte den Arm um die Schultern ihres kleinen Sohnes Lukas. Die Elbe war heute glatt wie ein Spiegel. Lukas lehnte sich über die Reling und zeigte begeistert auf die Wasservögel, die offensichtlich eine Art Willkommensgruß für die Barkasse »Deichbraut« bildeten. »Mama, wie heißen die?« »Vögel«, gab Meike leicht genervt zurück. Der Fachmann für gefiedertes Getier aller Art, Lukas’ Vater, lag heute leider mit einer Magen-Darm-Grippe im Bett. Meike war in einer Hochhaussiedlung aufgewachsen und kannte sich mit der Natur nicht besonders gut aus. Sie konnte ein Rotkehlchen von einer Amsel unterscheiden, aber bei allem, was darüber hinausging, musste sie passen. Timo war begeistert gewesen, als er den Flyer mit dem Programm zum »Langen Tag der Stadtnatur Hamburg« vor sie auf den Tisch gelegt hatte. »Es ist ein Highlight für jeden Ornithologen, sich die Vogelwelt auf Neßsand anzusehen.« »Dann fahr doch mal am Wochenende dorthin«, hatte Meike vorgeschlagen. Timo hatte aber heftig mit dem Kopf geschüttelt. »Neßsand ist Naturschutzgebiet und überhaupt nicht zugänglich. Nur an diesem Tag«, er zeigte mit dem Finger auf das Datum in der Ankündigung, »dürfen angemeldete Teilnehmer übersetzen und bekommen auch noch eine Führung vom Inselwart. Schatz, das wird toll für Lukas.« Und Meike hatte gelächelt. Wenn er sich freute, war die Ähnlichkeit zwischen Timo und seinem Sohn noch deutlicher zu erkennen. Meike holte die Sonnencreme aus ihrem Rucksack und rieb bereits zum zweiten Mal Lukas’ Nacken ein. Er hatte die empfindliche helle Haut seines Vaters geerbt und neigte zu Sonnenbrand. Dann nahm sie die Hand ihres Sohnes und begab sich mit den anderen ungefähr zwanzig Ausflugsgästen zum Ausgang der Barkasse. »Bitte vorsichtig!«, mahnte Arndt Sieck, der amtierende Inselwart, und half einer älteren Dame von dem leicht schwankenden Schiff. Meike fand, dass er aussah wie Robinson Crusoe, bärtig und braun gebrannt. So stellte sie sich einen Aussteiger vor, der dem Alltagstrott Lebewohl gesagt und auf Neßsand sein eigenes kleines Paradies gefunden hatte. Denn paradiesisch sah es hier aus. Lukas’ kleine Füße hinterließen Spuren auf dem weißen Sandstrand und das Schilf wiegte sich sanft im warmen Sommerwind. Auf die Frage, ob er hier auf der Insel wohnte, schüttelte der Inselwart jedoch den Kopf. »Ich bin nur an den Wochenenden auf Neßsand, um nach dem Rechten zu sehen und Leute wegzujagen, die das »Betreten Verboten«-Schild nicht akzeptieren. Vor allem im Sommer. Im Winter seltener. Ansonsten habe ich ein ganz normales bürokratisches Leben.« Er machte eine weit ausholende Bewegung. »Im Sommer ist das hier alles ein Traum. Man könnte meinen, man ist in der Karibik, aber im Winter kann man sich hier sehr verlassen fühlen.« Ein dunkelhaariger Mann mittleren Alters, dem ein Fernglas um den Hals hing, meldete sich zu Wort. »Ich habe gelesen, dass einer Ihrer Amtsvorgänger mitsamt seiner Frau und seinem Sohn hier bei der Sturmflut von 1976 ertrunken ist.« Arndt Sieck nickte. »Hans Fröhlich. Die Leichen wurden nie gefunden. Dafür ihr leeres Boot. Wahrscheinlich haben sie noch versucht, aufs Festland überzusetzen.« Er hob die Hand, als sei das Thema damit für ihn beendet. »Nun wollen wir uns aber der Inselnatur zuwenden. Wir gehen jetzt Richtung Auwald. Bitte verlassen Sie nicht die Wege und pflücken Sie auf gar keinen Fall etwas ab.« Lukas hatte bereits das Interesse an den Erzählungen des großen Mannes verloren. Als er von den verschwundenen Toten gesprochen hatte, hatte sich der Fünfjährige ein wenig gegruselt. Es war nicht ganz so gruselig wie die Aufbahrung seiner Urgroßmutter gewesen, die wie eine verschrumpelte Puppe in ihrem offenen Sarg gelegen hatte, aber immerhin … Nun allerdings ging es nur noch um seltene Pflanzen. Seine Mutter hatte Anschluss an eine Frau gefunden, mit der sie sich über Wanderschuhe unterhielt. Andere Kinder gab es keine. Leicht mürrisch ließ Lukas sich ans Ende der Gruppe fallen. Seine Mutter schien das nicht zu bemerken. Das einzig Gute war, dass sein Vater ihm das Sandspielzeug in seinen kleinen Rucksack gepackt hatte. »Vielleicht kannst du ja ein bisschen im Sand buddeln und mir eine Muschel mitbringen«, hatte er Lukas heute zum Abschied gesagt. Lukas hoffte, dass sie bald zum Strand zurückkehren würden, denn es war doch ziemlich langweilig hier. Außerdem pikte ihn gerade eine Baumwurzel in seine Fußsohle. Seine Mutter hatte seine Schuhe in der Hand, doch sie war ja nun einige Meter weiter vorn. Er wusste nicht, ob sie am Strand noch Zeit genug haben würden, um das Sandspielzeug zu benutzen. Aber es war ganz neu. Und es war Batman drauf! Er wollte es heute unbedingt ausprobieren. Die Wurzel, die ihn eben gezwickt hatte, sah merkwürdig aus. Eher wie ein vertrockneter Ast, der aus dem Boden ragte. Oder eine ganz seltene Pflanze. Vielleicht hatte er in diesem Moment eine Pflanze gefunden, die noch niemand zuvor entdeckt hatte, und die würde man nach ihm benennen. Lukas blieb stehen und packte Eimer und Schaufel aus. Die Erwachsenen waren schon ein ganzes Stück weit weg. Eifrig begann er, die Pflanze freizulegen, aber die steckte ziemlich tief im Boden. Schon nach wenigen Schaufelstichen verwarf er den Gedanken an eine Pflanze. Er hatte etwas viel Interessanteres ausgegraben. Etwas, das noch viel gruseliger war als seine tote Urgroßmutter. »Mama«, schrie er, »ich habe was gefunden.« Meike Liebermann erstarb der Satz auf den Lippen, als sie ihren Sohn schreien hörte. Wie hatte sie nur so unachtsam sein können. Sie drehte sich auf dem Absatz um und sprintete einige hundert Meter in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Lukas kniete auf dem Waldboden und zeigte auf etwas, das er gerade freigelegt hatte. »Das sieht aus, als wäre es aus der Serie, die Papa immer guckt.« Meike wusste sofort, von welcher Serie Lukas sprach. Auch sie erinnerte der gräuliche Schädel, an dem noch etwas verwestes Fleisch und ein Büschel Haare hingen, an »The Walking Dead«. Kriminalkommissarin Stella Brandes drehte sich vor dem großen Spiegel in ihrem Schlafzimmer. Ihr gefiel, was sie sah. Der Ausschnitt des ansonsten eher sportiven Kleides war vielleicht ein wenig zu tief, aber der lavendelfarbene Baumwollstoff passte perfekt zu ihrer leicht gebräunten Haut. Die Hamburger hatten in diesem Jahr einen ungewöhnlich warmen Sommer erlebt, und Stella hatte ihre spärliche Freizeit fast ausschließlich auf ihrem Balkon oder beim Laufen in der Fischbeker Heide verbracht. »Nippelgate am Millerntor?« Stellas beste Freundin Bounty, die neben sie getreten war, hob eine Augenbraue. »Mit Olivias Dekolleté kannst du sowieso nicht konkurrieren.« Stella streckte ihr die Zunge raus, musste jedoch zugeben, dass sie recht hatte. Olivia, ein mittlerweile ziemlich gefragtes Plus-Size-Model, zog meist alle Blicke auf sich. »Macht aber nichts, schließlich ist das ja auch ihr Tag.« Stella klappte ihren Schuhschrank auf und zog zwei Paar Pumps heraus. »Die schwarzen oder die grauen?« Bounty schüttelte den Kopf und zeigte auf ein Paar bequeme Sneaker. »Wir gehen zum Fußball und nicht in die Oper. Man merkt, dass du völlig unbeleckt bist, was das angeht. Die echten St.-Pauli-Fans stehen im Stadion.« Stellas Interesse für Fußball beschränkte sich darauf, bei der WM und EM die Spiele der deutschen Nationalmannschaft im Fernsehen zu verfolgen. Bounty und Olivia jedoch begeisterten sich sehr für den Hamburger Verein FC St. Pauli, der nach einem Jahr in der ersten Liga bereits in der vorletzten Saison wieder in die zweite abgestiegen war. Echten Fans schien das jedoch nichts auszumachen. Nun galt es, die Mannschaft beim Start in die neue Saison anzufeuern. Stella musterte ihre Freundin, die knappe Shorts und ein schwarzes T-Shirt mit einer buckligen Katze und der Aufschrift »Kalte Muschi« trug. Dies war nicht der Name einer Bar auf Hamburgs sündiger Meile, der Reeperbahn, sondern das offizielle Kaltgetränk des FC St. Pauli, ein Kopfschmerzen verursachender Mix aus Rotwein und Cola. Stella bückte sich und streichelte ihre beiden Kater Caveman und Shir Khan, die wie ein orange-weiß-schwarzes Knäuel zusammengerollt in dem Wäschekorb mit der frisch gewaschenen Wäsche lagen. Dann nahm sie die Autoschlüssel aus dem Schlüsselkasten. Sie hatte heute Bereitschaftsdienst und würde nichts trinken. Deshalb hatte sie sich angeboten, Olivia und ihre Freundinnen an ihrem Junggesellinnenabschied hin und her zu kutschieren. Immerhin war ihr Team seit Wochen nicht mehr während eines Bereitschaftsdienstes angefordert worden. Warum sollte es ausgerechnet heute so sein? »Allzu spät darf es heute nicht werden«, sagte sie. »Ich bin supermüde.« »Das Gute ist ja, dass selbst die späten Samstagsspiele in der zweiten Liga bereits um fünfzehn Uhr dreißig beginnen. Wir können also danach ganz in Ruhe zum Hafen schlendern und einen Abstecher in die Tower Bar machen, so wie wir es geplant haben. Olivia tritt morgen Vormittag vor den Altar, da ist sie bestimmt auch nicht scharf auf Augenringe.« Bounty zog die Wohnungstür ins Schloss. Stella selbst hielt sich nicht für besonders strukturiert. Deshalb bewunderte sie Personen wie Olivia und Paul, ihren zukünftigen Mann, die alles genau durchtakten konnten. Dies bedeutete in diesem Fall: Samstagvormittag letzter Garderobencheck und Probeschminken, Samstagnachmittag bis abends Junggesellinnen- und Junggesellenabschied, Sonntagmorgen standesamtliche Trauung außerhalb von Hamburg im Familienkreis, Sonntagmittag...