Segal | Entscheidungen auf Tuga | E-Book | www.sack.de
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E-Book, Deutsch, 432 Seiten, ePub

Segal Entscheidungen auf Tuga


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-0369-9531-1
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 432 Seiten, ePub

ISBN: 978-3-0369-9531-1
Verlag: Kein & Aber
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Trotz der unerwarteten Offenbarung, wer Charlottes Vater ist, und trotz seines feindseligen Verhaltens ihr gegenüber, hat Charlotte ihren Aufenthalt auf der Insel Tuga verlängert. Sie liebt die wunderschöne Landschaft, hat die Inselbewohner in ihr Herz geschlossen, und ihre Beziehung mit Levi macht sie glücklich. Charlotte genießt die Freiheit, die die Insel im Gegensatz zu ihrem kontrollierten Leben in London bietet.
Doch London holt Charlotte wieder ein – in Form ihrer Mutter, Lucinda Compton-Neville. Als die Anwältin erfährt, dass ihre Tochter länger auf der einsamen Insel bleiben will, beschließt sie, Charlotte wieder auf Kurs zu bringen und in ihr echtes Leben zurückzuholen.
Lustig, bewegend und voller Hoffnung ist »Entscheidungen auf Tuga« ein Roman über Mütter und Töchter, über die Liebe und über das Festhalten und Loslassen.

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3


Als Elsie Walter aufstöberte, stand er vor der Band und hörte zu, in der Hand die Überreste einer gebackenen Banane, die ihm gerade seine Tochter Rebecca gegeben hatte.

»Zwei Tagesreisen entfernt, hieß es, vielleicht auch drei«, sagte Elsie leise, weil sie das kleine Mädchen nicht beunruhigen wollte. Es stand dicht neben seinem Vater und hatte einen Finger in dessen Gürtelschlaufe gehakt.

»Und der Zustand des Patienten ist wirklich so schlimm, dass er es nicht dahin zurückschafft, wo er in See gestochen ist?«

»Vermutlich Herzinfarkt. Oder zumindest Herzprobleme. Lebensgefährlich, meint der Captain. Ist keine schicke Jacht, sondern eine dieser Nussschalen, die an Challenges teilnehmen, um Spendengelder zu sammeln.«

Walter zog am Schild seiner Kappe, rückte sie zurecht und dachte nach. Wer ihn kannte, wusste, wie seine Antwort ausfallen würde. Trotzdem wartete Elsie respektvoll, bis er es aussprach.

»Tja, dann müssen wir es wohl versuchen, nicht wahr?«

Es war keine Frage, sondern ein Beschluss. Walter war der Chef der Küstenwache, und als solcher traf er nach Beratung mit dem Chief Medical Officer sämtliche Entscheidungen, was Evakuierungen aus medizinischen Gründen anging. Die Inselbewohner waren in Sachen Handel und Fortbewegung von Beginn an vom vorbeifahrenden Schiffsverkehr abhängig gewesen, und wenn sich die seltene Gelegenheit bot, sich zu revanchieren, zögerten sie nicht lange. Im letzten Jahr hatte beispielsweise ein Crewmitglied eines Frachtschiffs mit Ziel Walvis Bay eine Blinddarmentzündung erlitten; außerdem kam es trotz Satellitentechnik und verbesserter Wettervorhersagen auch heute noch manchmal zu verheerenden Schiffbrüchen. Tuga selbst hatte mehrere Männer verloren, als vor sechs Jahren ein Fischerboot verunglückt war, eine Tragödie, die bis heute viele Inselfamilien erschütterte. Es war Walters Boot gewesen, auch wenn er selbst durch einen Zufall nicht an Bord gewesen war.

Während Island Close hätte eigentlich kein Schiff nah genug an Tuga sein dürfen, um die hiesigen Seeleute durch einen Notruf in Gefahr zu bringen, aber wenn die durchgegebenen Koordinaten des Segelboots stimmten, würde es Wochen benötigen, um zu seinem Ursprungshafen zurückzukehren. Man brauchte keinen Chief Medical Officer, um zu wissen, dass ein Patient mit Herzproblemen schnellstmöglich an Land musste.

»Ich kenne das Boot natürlich nicht, aber wir lotsen es besser nicht bis direkt an die Tangwälder heran, für den Fall, dass das Wetter umschlägt. Falls die Crew ein Beiboot hat, soll sie es auf keinen Fall zu Wasser lassen – damit käme der Tod schneller als mit jedem Herzinfarkt. Nein, ich fahre raus.«

Walters Tochter Rebecca stand fest an ihn gedrückt da, wie sie es schon fast den ganzen Abend tat. Sie drehte den Kopf und schmierte Schokolade von ihrer Wange auf sein Hemd. Als Kind eines Fischers kannte sie die Gefahren des Meers während Island Close, genauso wie sie die Geschichte des unglückseligen Fischerboots von vor sechs Jahren kannte, in dem ihr Vater mitgefahren wäre, wenn er sich nicht am Vorabend einen Nagel in den Fuß gerammt hätte. Im Südatlantik konnte fallender Luftdruck ohne jede Vorwarnung Stürme von achtzig Knoten aufpeitschen, und die Strömungen waren selbst bei ruhiger See tückisch. Strömte das Wasser eben noch aufgewühlt dahin, konnten sich im nächsten Moment schon hohe, wütende Wellen türmen, hinter denen sich schwindelerregende Täler entfalteten. Rebeccas Vater legte ihr seine große, beruhigende Hand auf den Rücken und zog sie näher an sich heran.

»Alles gut, mi vida«, sagte er leise. »Es muss nun mal sein. Mir wird schon nichts passieren.« Um das Gespräch auf sichereres Terrain zu lenken, erklärte er an Elsie gewandt: »Falls wir den Patienten erfolgreich an Land bekommen und er seine Herzprobleme überlebt, haben wir ihn allerdings bis Island Open an der Backe.«

»Bis dahin sind es noch circa neun Wochen. Na ja, könnte schlimmer sein. Wir haben leerstehende Häuser, die Unterbringung ist also kein Problem. Wie wäre es zum Beispiel mit dem Häuschen von Ruth dos Santos?«

»Der Inselrat müsste zahlen, und Marianne hätte finanzielle Unterstützung durch die Miete.«

»Sehr gut. Sie kann ein bisschen Glück gebrauchen«, gab ihm Elsie recht. »Ich glaube, sie hat nicht damit gerechnet, dass Annie das mit Alex’ Abreise so schwernimmt.«

»Selbst wenn, ihr blieb ja nichts anderes übrig«, antwortete Walter, der besser als die meisten wusste, welche Opfer die Inselmütter bisweilen bringen mussten, um die Zukunft ihrer Kinder zu sichern. Seine eigene Frau arbeitete nun schon seit über einem Jahr in England. Seit sie weg war, war Rebecca fünf Zentimeter gewachsen und hatte drei Zähne verloren.

Elsie nickte. »Wir bringen die evakuierte Person also bis Island Open in Ruths Haus unter. Falls wir es schaffen, sie an Land zu bringen. Und falls sie nicht bis dahin schon tot ist.« Sie setzte Rebecca ihren letzten Mintberry-Kranz auf und trat zurück, um das Mädchen zu bewundern.

»Wir treffen uns morgen früh an der Werft und bereiten alles vor«, sagte Walter. »Gib doch bitte Dan Bescheid, wenn du ihn siehst. Und jetzt ist es Zeit für Marshmallows!«, verkündete er und wuchtete sich Rebecca mit plötzlicher Entschiedenheit auf die Schultern. Ihr finsteres Gesicht verzog sich zu einem Lachen. Als sie sich vorbeugte, spürte er durch seine Baseballkappe hindurch ihr kleines, spitzes Kinn. Nachdem er mit jeder Hand ein Fußgelenk umfasst hatte, nickte er Elsie noch einmal zu und stapfte zu einem der Lagerfeuer davon. Morgen würden sie die Planung konkretisieren, auch wenn sie beide wussten, dass die Rettungsaktion am Ende vielleicht gar nicht mehr nötig sein würde. Der Herzpatient musste noch zwei, vielleicht sogar drei Tage auf hoher See überleben, und – was noch wichtiger war – eine von Walter geleitete tuganische Crew musste mit dem Schlauchboot der Insel auf das feindliche, erbarmungslose Meer hinausfahren.

»Sind die immer noch nicht fertig?« Annie Goss trat mit dem nackten Fuß gegen die in Alufolie gewickelten Bananen, die am Rand des Lagerfeuers in der Glut lagen, eine Reihe dicker, silberner Stangen. Sie waren heißer als gedacht, und Miss Moz beobachtete, wie sich Annies Gesicht vor Schreck und Schmerz verzog. Das Mädchen gab keinen Laut von sich, wich nur einen Schritt zurück und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust. Moz drehte sich zu den anderen Kindern um und schwang ihre Grillgabel durch die Luft.

»Ihr verzieht euch jetzt alle von hier. Weg mit euch!«

Mit der freien Hand schob sie Annie noch ein Stück vom Feuer weg, drückte dann tröstend ihre Schulter und fuhr ihr durch die zerzausten blonden Haare. Dieses Kind könnte auch über glühende Kohlen laufen, ohne mit der Wimper zu zucken, dachte sie, und diese Erkenntnis versetzte ihr einen Stich. Sie hatte es noch nie erlebt, dass Annie Schwäche zeigte. In all den vielen Jahren als Insellehrerin war ihr nie eine Wildheit begegnet, wie Annie sie besaß. Aber zauberhaft war es auch, dieses Mädchen, denn hinter ihrer draufgängerischen Art verbargen sich bedingungslose Loyalität und ein weiches Herz. Miss Moz hatte grundsätzlich keine Lieblingsschüler. Es fiel ihr dennoch schwer, ernst zu bleiben, wenn Annie während des Unterrichts für Alex dos Santos herumkasperte. Oder vielmehr herumgekaspert hatte. »Geht noch fünf Minuten spielen«, sagte sie nun zu den Kindern. »Wenn ihr die Bananen anstarrt, werden sie auch nicht schneller gar. Ich rufe euch dann.«

Ihre Schützlinge murmelten missmutig vor sich hin und verschwanden in der Dunkelheit. Sie würden nicht weit weggehen, schließlich hatte sich jedes Kind bereits seine persönliche Banane reserviert.

Annie rieb sich die Seite ihres schmutzigen Fußes am Knöchel des anderen. Sie schien sich tatsächlich verbrannt zu haben – Moz konnte es in der Dunkelheit nicht genau erkennen. Unter normalen Umständen hätte sie die Sache auf sich beruhen lassen, wohl wissend, dass Annies Mutter Marianne nichts entging. Doch seit Alex aufs Internat in England geschickt worden war, blieb Annie bis spät in die Nacht fort und kam auch nicht mehr zu den Mahlzeiten nach Hause. Sie trauerte, und Miss Moz litt mit ihr mit. Es war, als wäre dem Mädchen der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Annie war mit Alex aufgewachsen, die beiden waren Hand in Hand durchs Leben gegangen. Schon als Babys waren sie gemeinsam durchs Haus gekrabbelt wie zwei tollpatschige Welpen, hatten nachts aneinandergeschmiegt geschlafen und den warmen Atem des jeweils anderen eingesogen. Alex war Annies Heimat gewesen – das einzige Leben, das sie kannte, war an seiner Seite. Zusammen waren sie jeden Tag über die Insel gestreift, bis die erste lautlose Fledermaus über den bleichen Abendhimmel geflattert war. Aber Alex war fort, und heute, sechs Wochen nach dem zwölften Geburtstag der beiden Kinder, war für alle offensichtlich, dass seine Abwesenheit Annie vollkommen aus dem Gleichgewicht gerissen hatte. Die Entscheidung, ihn nach England zu schicken, war so plötzlich getroffen worden, dass sein Verschwinden sie wie ein Todesfall getroffen hatte. Seit das Schiff mit Alex davongefahren war, hatte sie kein einziges Wort mehr mit Marianne geredet.

»Wo ist deine Mutter?«, fragte Moz.

Annie zuckte mit den Schultern und senkte den Blick. »Wahrscheinlich backt sie mal wieder.«

»Was meinst du mit ›wahrscheinlich‹? Wenn sie arbeitet, solltest du ihr helfen! Zeig mir mal deinen Fuß.«

»Sie braucht meine Hilfe nicht«, antwortete Annie mürrisch. Sie hakte ihre Zehen hinter der Wade des anderen...


Kilchling, Verena
Verena Kilchling übertrug für Kein & Aber neben Francesca Segal bereits Romane von Nicola Upson, Hannah Tinti, Dinaw Mengestu, André Aciman und Calla Henkel ins Deutsche.

Segal, Francesca
Francesca Segal, 1980 in London geboren, studierte in Oxford und Harvard und ist Journalistin und Kritikerin. Sie veröffentlicht u. a.  im Granta Magazine, Guardian und Daily Telegraph, ist Kolumnistin für den Observer und Feuilletonistin für das Tatler Magazine. Ihr Debütroman Die Arglosen erschien 2013 und gewann zahlreiche Preise, u. a. den Costa First Novel Award und den National Jewish Book Award for Fiction. Bei Kein & Aber erschienen zudem Ein sonderbares Alter (2017), Mutter Schiff (2019) sowie Willkommen auf Tuga (2024), der Auftakt zur Tuga-Trilogie. Francesca Segal lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in London.

Francesca Segal, 1980 in London geboren, studierte in Oxford und Harvard und ist Journalistin und Kritikerin. Sie veröffentlicht u. a.  im , und , ist Kolumnistin für den und Feuilletonistin für das . Ihr Debütroman erschien 2013 und gewann zahlreiche Preise, u. a. den Costa First Novel Award und den National Jewish Book Award for Fiction. Bei Kein & Aber erschienen zudem  (2017), (2019) sowie (2024), der Auftakt zur Tuga-Trilogie. Francesca Segal lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in London.

Verena Kilchling übertrug für Kein & Aber neben Francesca Segal bereits Romane von Nicola Upson, Hannah Tinti, Dinaw Mengestu, André Aciman und Calla Henkel ins Deutsche.



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