E-Book, Deutsch, 146 Seiten
Seghers Überfahrt
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-8412-1353-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Eine Liebesgeschichte
E-Book, Deutsch, 146 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1353-2
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Für eine Überfahrt lang, von Brasilien nach Deutschland, hat der junge Tropenarzt Ernst Triebel einen aufmerksamen Zuhörer seiner sonderbaren, verwickelten Lebensgeschichte gefunden. In Santos war ihm eine Frau begegnet, die ihn schmerzhaft an das Mädchen erinnerte, mit dem sein Leben einmal unlösbar verbunden war. Triebels Rückkehr nach Europa ist ein weiter, verlustreicher Weg. Er löst sich von den Träumen seiner Jugend und akzeptiert den Schmerz, der zum Leben gehört.
Netty Reiling wurde 1900 in Mainz geboren. (Den Namen Anna Seghers führte sie als Schriftstellerin ab 1928.) 1920-1924 Studium in Heidelberg und Köln: Kunst- und Kulturgeschichte, Geschichte und Sinologie. Erste Veröffentlichung 1924: 'Die Toten auf der Insel Djal'. 1925 Heirat mit dem Ungarn Laszlo Radvanyi. Umzug nach Berlin. Kleist-Preis. Eintritt in die KPD. 1929 Beitritt zum Bund proletarisch- revolutionärer Schriftsteller. 1933 Flucht über die Schweiz nach Paris, 1940 in den unbesetzten Teil Frankreichs. 1941 Flucht der Familie auf einem Dampfer von Marseille nach Mexiko. Dort Präsidentin des Heinrich-Heine-Klubs. Mitarbeit an der Zeitschrift 'Freies Deutschland'. 1943 schwerer Verkehrsunfall. 1947 Rückkehr nach Berlin. Georg-Büchner-Preis. 1950 Mitglied des Weltfriedensrates. Von 1952 bis 1978 Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR. Ehrenbürgerin von Berlin und Mainz. 1978 Ehrenpräsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. 1983 in Berlin gestorben.
Romane: Die Gefährten (1932); Der Kopflohn (1933); Der Weg durch den Februar (1935); Die Rettung (1937); Das siebte Kreuz (1942); Transit (1944); Die Toten bleiben jung (1949); Die Entscheidung (1959); Das Vertrauen (1968). Zahlreiche Erzählungen und Essayistik.
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»Mit einer Abfahrt ist nichts zu vergleichen. Keine Ankunft, kein Wiedersehen. Man lässt den Erdteil endgültig hinter sich zurück. Und was man dort auch alles erlebt hat an Leiden und Freuden, wenn die Schiffsbrücke hochgezogen wird, dann liegen vor einem drei reine Wochen Meer.« –
Ich sagte nichts zu meinem jungen Mitreisenden. Wahrscheinlich hatte er seine Gedanken nur vor sich selbst ausgesprochen. Ich kannte ihn erst seit zwanzig Minuten. Ich hatte hinter ihm gewartet bei der Kontrolle unserer Papiere. Dabei hatte ich festgestellt, dass er wie ich unser polnisches Schiff, die »Norwid«, in Rostock verlassen würde. Er war Arzt – das hatte ich gleichfalls bei der Kontrolle mitbekommen. Sein Spezialfach war Innere Medizin. Er studierte auch Tropenmedizin, in einzelnen Kursen. Daher war er zu einem Kongress nach Bahia gefahren. Der Purser hatte ohne Beanstandung gleichgültig genickt.
Was meinem Mitreisenden offenbar Spaß machte, die lange Seefahrt, die uns bevorstand, war mir zuwider. Ich hätte gern so rasch wie möglich meine Familie wieder gesehen. Man hatte mich aber nun mal für diese Reise gebucht. Mit dem Flugzeug war ich gekommen. Die Reparatur, der Zweck meiner Fahrt nach Rio Grande do Sul, war schnell erledigt gewesen. Senhor Mendez, der voriges Jahr meiner Firma die Landmaschinen abgekauft hatte, stand köpf vor Erstaunen über unsere Zuverlässigkeit, denn ich war vertragsgemäß vier Wochen nach der Beschwerde auf seinem Rancho erschienen. Nämlich, meine Kollegen daheim wussten, dass ich mit meiner Frau und den zwei Mädelchen in die Tatra gefahren war. Sie hatten keine Bedenken gehabt, mich aus dem eben begonnenen Urlaub herauszutelegrafieren, obwohl sie selbst daran schuld gewesen waren, dass die Maschinen statt unter Dach und Fach unter freiem Himmel lange auf den Transport gewartet hatten.
Mein Direktor hatte mir auch noch ins Gewissen geredet – am Telefon ins Gewissen, denn ich war in der Nähe von Prag, sodass ich das Flugzeug sogleich besteigen konnte – ich sei es unserem Staat schuldig, sofort nach Brasilien zu fliegen, damit die dort wissen, dass unsere Republik streng ihre Verträge einhält.
Das ging aber alles den Jungen, der neben mir stand, nichts an. Er kam mir ziemlich sonderbar vor. Man braucht nicht gleich einem Fremden zu erzählen, was einem durch den Kopf geht.
Er sagte: »All die Leute an Bord, all die Leute an Land, die sich noch irgendwas zurufen müssen! Wie sie sich zuwinken, die nassgeweinten Taschentücher zerknautschen! Und ich, ich bin stolz, dass an dieser Küste kein Mensch mehr für mich existiert zum Abschiednehmen. Alles ist endgültig vorbei, wenn man die Schiffsbrücke hochzieht.« –
»Warum zieht man sie noch nicht hoch?«
»Weil noch etwas angefahren wird. Sehen Sie da drüben den Kran? Jetzt streckt er noch mal seinen Greifer aus. Er setzt auf unserem Schiff noch ein paar Körbe ab. Der Koch, sehen Sie, nimmt alles selbst in Empfang. Wahrscheinlich hat er auf dem nächsten Straßenmarkt in letzter Minute die Reste billig zusammengekauft. Papayas, Guajavas, Orangen, Bananen, Ananas, Avocados. Die Früchte dieses Landes.«
»Ich hoffe, er hat uns auch ein paar Winteräpfel aufbewahrt. Zur Vorbereitung auf daheim, für die letzte Woche.«
»Ich kenne diesen Koch. Er war auf meiner letzten Reise dabei. Die musste ich auch zu Schiff machen. Ich fuhr auf der Joseph Conrads Ich überwachte damals einen empfindlichen Transport. Dieser Koch ist ein überaus sparsamer Mensch. Vielleicht hat er einmal irgendwo an der Ostsee ein Wirtshaus betreut.« –
Inzwischen war das Erwartete geschehen: Die Schiffsbrücke war hochgezogen. Der Lotse brachte uns aus dem Hafen. Zwischen breiten und schmächtigen Schiffen aller Länder der Welt. »Dann wird er uns dem Meer überlassen«, sagte der junge Mensch in dem ihm eigenen Ton, als sei alles wichtig, was er mitteilen musste, »was uns dann widerfährt, daran wird er keinen Anteil mehr haben. Er leitet dann schon ein anderes und wieder ein anderes Schiff aus dem Hafen – « Er brach plötzlich ab. »Verzeihung, ich heiße Ernst Triebel.«
Ich sagte: »Franz Hammer. Ich bin Ingenieur.«
»Ich bin Arzt. Das heißt, ich habe gerade mein Studium beendet.«
Der Schiffsjunge gongte zum Essen.
Weil wir Cargo fuhren, nämlich Kaffee nach Polen und nach der DDR, gab es auf unserem Schiff nur ein paar Kabinen für Passagiere.
Wir setzten uns rasch um unsere zwei Tische herum. An einem dritten Tisch saßen der Kapitän, sein Erster Offizier und sein Erster Ingenieur. Ich entdeckte hinter einem Pfeiler noch ein winziges Tischlein. Es war für eine einzelne Frau bestimmt. Eine kräftige, warm und braun gekleidete Nonne. Sie hatte sich wohl das Recht ausbedungen, allein ihre Mahlzeiten einzunehmen. Zu ihr gehörte offenbar als Begleiterin die ältliche, magere, lang-rockige Frau an meinem eigenen Tisch. Denn die stand oft auf, schlüpfte hinter den Pfeiler und fragte die Nonne nach einem Wunsch. Ich konnte ihr Tun leicht verfolgen, denn sie saß an der Schmalseite des Tisches, und ich war an der Längsseite der letzte. Der Passagier, der neben mir saß, trug den Arm in der Schlinge. Das schien aber seine gute Laune nicht zu verderben. Seine listigen hellblauen Augen gingen unglaublich schnell von einem Passagier zum anderen. Wie sich alsbald herausstellte, sprach er Polnisch und Deutsch, Portugiesisch und Spanisch, Französisch und Englisch und weiß der Teufel was noch. Er drehte auf einmal den Kopf und stellte sich vor: »Sadowski.« Er bat mich ohne viel Federlesens, ihm das Essen auf den Teller zu legen und das Fleisch zu schneiden. Er hätte sich, schon an Bord, den Arm ausgekugelt, als er jemand half, sein Gepäck zu heben. Der Zweite Offizier, der auch als Schiffsarzt fungierte – denn auf kleinen Schiffen wie unserem gab es keinen besonderen Schiffsarzt –, hatte ihm gleich den Arm wieder eingerenkt. »Bei der Ankunft muss er heil sein«, sagte Sadowski. »Ich bin Techniker. Ich habe schon meine Stelle in Gdynia. Ich habe zehn Jahre mit mir gekämpft: Soll ich heimfahren? Ich möchte noch mal meine Mutter lebend Wiedersehen. Und gleich das Pech in den ersten fünf Minuten. –
Drehen Sie sich bitte mal heimlich um«, sagte er kurz darauf – er sprach nicht nur alle möglichen Sprachen, er kannte sich auch unglaublich geschwind in den Schicksalen der Mitreisenden aus –, »gleich hinter Ihnen am anderen Tisch sitzt eine alte verschrumpelte Frau, die war jahrzehntelang in Brasilien. Sie kam mit der polnischen Familie, die sich beim Abschied halbtot geweint hat. Schon die kleinen Kinder dieser Familie hat sie groß gepflegt bis zur Heirat. Und aus Dankbarkeit gab ihr die Familie auf die Heimreise allen Plunder mit, den sie hier nicht mehr braucht, alles Wollzeug, aus drei Generationen. Wahrscheinlich ist die Herrschaft in Brasilien reich geworden. Sie hat ihr aber erklärt, die ausrangierten Sachen seien nötig in unserem bitterkalten Polen.«
Als ich mich nach dem Nachbartisch umdrehte, erblickte ich sofort diese alte Frau. Sie trug eine blaue Wollmütze. Mein Blick fiel auch auf Triebel. Er machte mir ein Zeichen: Nachher.
Sadowski sagte: »Die braune Nonne, die Karmeliterin, war nur ein paar Wochen in Brasilien. Sind Sie nicht schon von Bahia her mit ihr gefahren? Sie hat in dem prächtigen Haus gewohnt, das ihrem Orden gehört – Sie hat wahrscheinlich eine Unmenge unseres Geldes verschoben.« Er sagte schon »unseres«. »Eine Menge hübscher heiliger Mädchen ist um sie herumscharwenzelt mit Abschiedsgeschenken, keine Nonnen, sondern Kinder, noch zu jung, um sich zu vermählen mit einem irdischen oder himmlischen Bräutigam.«
Er brach ab und redete auf polnisch mit dem blondgezopften Mädchen an seiner andren Seite. Die Mutter, auch blond, saß zwischen Tochter und Sohn. Ich dachte: Dieser Sadowski weiß sicher bereits, warum sie unterwegs sind. Und ich war eifersüchtig, weil er Jahr und Jahr auf diesem Erdteil gelebt hatte und nichts verlernt von seiner Muttersprache. Würde ich auch nicht, so dachte ich dann. Seine eigne Sprache verlernt man nie.
Sadowski erzählte mir alsbald, was er von diesen Leuten wusste. Der Vater der Kinder war Konsularbeamter. Sie gingen in Rio in eine portugiesische Schule. Zugleich gab ihnen die Mutter polnischen Unterricht. Ihr Koffer war voll polnischer Schulbücher. Vor dem Ende der Ferien fuhr sie heim mit den Kindern, damit die in Krakau ihre Examen machten. Fuhr der Vater endgültig heim, konnten sie ohne Schwierigkeiten jeden Beruf erlernen.
Ich lobte die Frau. Nur ihre Beharrlichkeit mache den doppelten Unterricht möglich. Sadowski übersetzte mein Lob. Die Frau sah ein wenig hart aus. Ihr Gesicht wurde aber hell vor Freude bei meinem Lob.
Wir bekamen unsren Nachtisch aufgetragen: Ananas, so zubereitet, wie es hierzulande üblich ist. Die Frucht wird zuerst ausgehöhlt, sodass sie wie ein Gefäß auf dem Teller steht. Das Fruchtfleisch wird in kleine Würfel zerhackt und die Schale, das Gefäß auf dem Teller, damit gefüllt.
Ich dachte mir, das ist zuviel Mühe für unseren Koch. Mal sehn, wie lang er es aushält.
Das ältliche bescheidene Fräulein an der Schmalseite des Tisches rührte ihre Ananas gar nicht an. Sie trug sie sofort...