E-Book, Deutsch, 248 Seiten
Seidl Vom Untergang
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-96054-285-8
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kriminalroman
E-Book, Deutsch, 248 Seiten
ISBN: 978-3-96054-285-8
Verlag: Edition Nautilus GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Bayern, 1922. Der rechtskonservative Erfolgsautor Oswald Spengler schmiedet geheime Pläne für eine Lenkung der Presse. Gemeinsam mit Forstrat Escherich, dem Gründer einer militanten Bürgerwehr, und Gumbrecht, einem mächtigen Fürther Spiegelfabrikanten, will er die öffentliche Meinung in der jungen Republik beeinflussen.
Emma, Gumbrechts Sekretärin und Geliebte, ist die Tochter des Anarchosyndikalisten Fritz Oerter. Eigentlich hat sie genug von Politik und von ihrem Freund, dem Sozialdemokraten Max Schmidtill. Doch dann liest sie einen Brief, der nicht für ihre Augen bestimmt war …
Leonhard F. Seidl zeichnet ein packendes Sittenbild der Weimarer Republik, das auf realen Geschehnissen beruht.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Ameisen
Fürth, Mittelfranken
19. Mai 1922 Emma schloss die Tür zur Wohnung hinter sich und hörte von der Straße einen schrecklichen Gesang: »Auch Rathenau der Walther Erreicht kein hohes Alter Knallt ab den Walther Rathenau Die gottverfluchte Judensau.« Sie wich zurück, dachte aber dann an das Lächeln, das sich auf Vatis faltiges Gesicht gelegt hatte, als sie ihm gesagt hatte, dass sie in die Pfiffer gehen würde, weil er die »Gelberla«, die Pfifferlinge, so mochte. Davor hatte er noch getobt, weil in München irgendein rechter Zeitungsredakteur einen Journalisten namens Fechenbach vor Gericht mundtot gemacht habe, weil der die Wahrheit über die deutsche Kriegsschuld geschrieben hatte. Sollte er es doch mit seinem Bruder Sepp ausdiskutieren. Immer ging es nur um Politik. Wie Emma das nervte! Sie konnte es kaum erwarten, der drückenden Luft der Stadt zu entkommen und in den Wald zu fliehen. Emma musste an den gestrigen Arbeitstag denken. Sie konnte es immer noch nicht glauben, dass sie jetzt als Schreibkraft, als »Fräulein Hierer« für Georg Gumbrecht in seiner Spiegelfabrik Gumbrecht und Söhne arbeitete. Endlich jeden Monat eine volle Lohntüte und nicht mehr stundenlang in der Zichorienfabrik Cohn Säcke wuchten und die Beine in den Bauch stehen. Und das alles nur, weil sie unaufmerksam gewesen und auf die Straße getreten war und Gumbrecht sie mit seinem Automobil angefahren hatte. Wie hatte Vati getobt, als er herausbekam, dass Emma für diesen Kapitalisten in der Schreibstube arbeitete! Dann allerdings hatte Emma ihm erwidert, dass er auch nichts anderes tat, wenn er, der selbständige Lithograph, Bilder für Spielekartons auf die Natursteine aus dem Altmühltal zeichnete, die ihre Mutter dann mit dem Leiterwagen über die Fürther Straße nach Nürnberg zur Spielwarenfabrik karren musste, weil Vati noch immer vom Skorbut gezeichnet war und durch den Leistenbruch nicht schwer heben konnte. Auch er arbeitete für die Kapitalisten! »Fräulein Hierer, kommen Sie bitte mal in mein Büro«, hatte ihr Chef dann gestern gesagt. Sie hatte ihn überhaupt nicht kommen gehört und ihre Kollegin Mimi Gründler, die ansonsten alles hörte, war bereits im Feierabend. Gumbrecht wies ihr mit der Hand den Weg in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Emma roch sein herbes Duftwasser. Sie begann zu schwitzen. Hatte ihm irgendwer erzählt, dass sie die Tochter des Anarchisten Fritz Oerter war? Hoffentlich bemerkte er ihre Nervosität nicht. »Bitte nehmen Sie Platz.« »Danke schön«, sagte Emma, machte einen Knicks und setzte sich. Zum Glück hatte ihr Gumbrecht gerade den Rücken zugekehrt und sah nicht, dass sie vor Aufregung förmlich in den Stuhl fiel. »Wie gefällt es Ihnen bei uns?« »Sehr gut, danke schön.« »Irgendwelche Beschwerden?« Sollte sie ihm vielleicht erzählen, was die Arbeiterin Trude, die sie durch Vati kannte, ihr gestern über seinen Sohn erzählt hatte? Sie schüttelte den Kopf ein wenig zu heftig. »Nein, alles bestens.« »Dafür mussten Sie jetzt aber lang überlegen«, sagte er und schmunzelte. Emma sah ihn gerne lächeln und lächelte ebenfalls. »Ich finde, Sie machen sich ganz gut.« »Danke schön.« »Würden Sie mir noch einen Brief tippen?« Emma überlegte, ob das ein Test war. Gumbrecht folgte ihr an ihren Schreibtisch. Stellte sich hinter sie. Wie gut er roch! Mit leicht zitternden Händen legte sie das vorgedruckte Papier mit dem Briefkopf der Spiegelfabrik Gumbrecht in die Maschine ein. Dann diktierte ihr Chef mit seiner tiefen Stimme: Sehr verehrter Herr Professor Cossmann, »Cossmann mit C, Fräulein Hierer«, Vielen Dank für die Einladung. Den Abend des 4. Juni 1922 werde ich mir freihalten und mich in den Drei Rosen einfinden. Ich würde mich freuen, wenn sich dann Gelegenheit fände, über die schwebenden Fragen eingehend mit Ihnen zu sprechen. Mit besten Grüßen, Ihr Georg Gumbrecht Jetzt stand Emma an der staubigen Nürnberger Straße, da kam ihr Max mit dem Fahrrad seines Freundes Leonhard entgegengeradelt. »Da bist du ja endlich«, sagte er freudestrahlend, dass die Krähenfüße neben seinen Augen sich nur so kräuselten. Emma fragte nicht, warum Leonhard und seine Freundin Susi nun nicht dabei waren. Max aber schien ihre Frage zu erahnen und zog die Schultern entschuldigend nach oben. »Wenn Leonhard und Susi auch mitgekommen wären, hätten die Fahrräder nicht gereicht.« Er zog ein zerfleddertes Taschentuch aus seiner Hosentasche, wischte sich über die Stirn und ließ die Hosenträger schnalzen, unter denen sich dunkle Streifen auf dem weißen Hemd abzeichneten. »Los geht’s!« Emma nahm ihren Weidenkorb, in dem sich ein Taschenmesser, etwas zu trinken, Brote und zwei Äpfel befanden, und schaute ihn fragend an. »Auf den Sattel«, sagte Max. Er wusste, dass sie weder seinen Befehlston mochte noch auf dem Sattel zu sitzen und dabei nicht die Fahrerin zu sein. Aber es blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Er würde sie kaum fahren lassen. Und bis sie den Wald zu Fuß erreicht hätten, würden andere die Pfiffer geklaubt haben. Also schwang sie sich auf den Sattel, allerdings nicht im Frauensitz, wie es sich geziemt hätte. So spannte zwar der Rock, aber Max konnte leichter das Gleichgewicht halten. Bis zum Kanal verlief der Weg eben oder es ging sogar bergab. Emma genoss den kühlen Fahrtwind und schloss die Augen. Der Wind fuhr unter ihr Kleid, sie wagte nicht, ihre Augen zu öffnen. So stellte sich die Vorstellung von Georg Gumbrechts großen Händen ein, wie sie zärtlich ihren Rücken kraulten. Gut, dass Max nicht ahnte, was sie dachte. Hinter dem langgestreckten sandsteinigen Schloss Burgfarrnbach ging es bergan, sie kamen dem Wald immer näher. Sie spürte jeden von Max’ Tritten, die das Fahrrad ruckeln ließen, versuchte, erneut die Realität auszublenden, sich nur auf den Druck des Ledersattels zu konzentrieren. Eine Windbö riss das Fahrrad nach links, sie öffnete ihre Augen, doch schon fand Max den Weg zurück in die Spur, kehrte die Lust zurück. Eine Kraft, die von ihrem Bauch in ihren ganzen Körper ausstrahlte, die ihre Muskeln anspannte. Max keuchte, das Fahrrad schlingerte erneut. Max’ fester Hintern stieß gegen ihren Schoß, sie fasste nach ihm, presste ihn gegen sich. Er rutschte von den Pedalen und sie stürzten auf den Asphalt. »Was zum Teufel hat dich denn geritten …«, geiferte Max und klopfte sich die Hose ab. Aber die zwei dunklen Flecken auf Kniehöhe blieben. Emmas Atem ging immer noch schnell. Max hob das Rad auf, begutachtete es, der Lenker war leicht verbogen. Emmas Oberschenkel tat weh, aber sonst fehlte ihr nichts. Die Knie über den Strümpfen waren ebenfalls erdbraun geworden. Sie sammelte die Dinge aus dem Korb ein, die über den Feldweg verstreut lagen, zum Glück noch heile, vor allem die Bierflasche. Doch in ihr war gar nichts heile, da war ein Aufruhr, ein Toben. Ungeduldig schaute sie Max dabei zu, wie er den Lenker hinbog. »Lass uns den Rest des Weges laufen«, sagte er. »Laufen?«, stieß sie aus. »Das ist noch sauweit!« »Willst du, dass wir noch einmal stürzen?« Sie schnaubte verächtlich aus. »Willst du, dass wir nach Hause laufen?« »Aber ich habe mir den Arm verletzt.« Er zeigte auf seinen rechten Unterarm, über den sich tatsächlich eine lange Wunde zog, die blutete. »Komm her.« Emma nahm ihr Taschentuch und legte es auf die Wunde. »Aua!«, schrie Max auf, »sei doch nicht so grob!« Wortlos ging sie auf die Wiese und bückte sich. »Hier wirst du sicher keine Pfiffer finden«, sagte Max. »Dafür vielleicht ein Kuhmaul«, antwortete Emma. Max starrte sie mit offenem Mund an und hielt das Taschentuch an seinen Unterarm. »Oder ein Hasenöhrl«, legte Emma nach. Normalerweise mochte sie es, dass er so ein empfindsamer Kerl war. Aber sie wollte weiter, auf dem Fahrrad, in den Wald. »Sag mal. Ich blute und du machst dich über mich lustig?« »Spitzwegerich such ich. Für deine Wunde.« Schon hatte sie einen, rupfte ihn aus und ging wieder auf ihn zu. Sie drückte ihn ein bisschen zu fest auf seine Wunde und band das Taschentuch darum. »Aua!« Max zog den Arm zurück. »Du warst auch schon mal...