Sem-Sandberg | Der Sturm | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 267 Seiten

Sem-Sandberg Der Sturm

Roman
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-608-19163-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 267 Seiten

ISBN: 978-3-608-19163-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Eine atmosphärisch dichte Familiengeschichte auf einer abgelegenen Insel Norwegens – mit sezierender poetischer Erzählkunst gelingt es Sem-Sandberg, das Schweigen über die Vergangenheit zu brechen.

Norwegen, Ende der 1990er: Andreas kehrt zurück auf die Insel, auf der er seine Kindheit verbrachte, um das Anwesen seines verstorbenen Adoptivvaters Johannes aufzulösen. Mitten im Durcheinander findet er Spuren, die auf die bewegte Vergangenheit der Insel hinweisen und mit seiner nicht begleichbaren Schuld im Zusammenhang stehen. 'Der Sturm' von Sem-Sandberg besticht durch seine einnehmende, poetische, kristallklare Sprache.

Andreas war noch klein, als er mit seiner Schwester Minna zu Johannes ins Gelbe Haus kam, das auch als Totes Haus beschimpft wurde. Warum, das wusste er nicht. Es wurde ja nichts wirklich ausgesprochen auf der Insel. Aber der Argwohn nistete überall. Johannes nahm sich der beiden Kinder an, nachdem ihre Eltern auf mysteriöse Weise verschwanden. Ein Flugzeugabsturz, munkelte man. Auch Johannes erzählte ihnen stets von der Tragödie, die sich über dem Meer abgespielt haben soll. Doch Andreas forschte nach. Und wird fündig, als er Jahre später an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt. Nach und nach erfährt er die Wahrheit über seinen Ursprung, der eng mit der Geschichte der Insel zusammenhängt, auf der die faschistische Quisling- Regierung zuließ, dass eine Kolonie für arme Kinder entstand. Dabei muss er sich auch mit seiner rebellischen Schwester auseinandersetzen, die er so sehr liebte, dass er Schuld auf sich lud, mit der er schließlich von ihr alleine gelassen wurde.

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Ebba Simonsen hatte angerufen und mitgeteilt, dass Johannes tot war. Die Simonsens waren schon vor dem Krieg Johannes’ Nachbarn gewesen, als die ganze Insel im Prinzip noch Kaufmann gehörte. Damals hatten sie noch keine Kinder, später aber kamen sie Schlag auf Schlag, und ich erinnere mich an Frau Simonsen aus der Zeit meiner Kindheit, sie hatte tiefe Grübchen in den Wangen und müde Augen, war ständig von schreienden Bälgern umgeben, und ihre blonden Haare hingen in nassen Strähnen über dem, was sie gerade tat: waschen oder backen. Ihr Mann – wie sein Vorname ist, weiß ich tatsächlich nicht, ich habe ihn nie anders als Simonsen genannt – war Tontechniker beim Rundfunk und von morgens bis abends auf Arbeit. Später ging er in Pension, war deshalb aber nicht öfter daheim. Obgleich Simonsen aktiv am Kampf gegen die Deutschen teilgenommen hatte (als man die Geschichte der Widerstandsbewegung schrieb, wurde der Arbeit Simonsens, der den Funkverkehr chiffrierte und Codes knackte, stets mindestens ein Kapitel gewidmet), hatte es zwischen ihm und Johannes nie irgendwelche Feindseligkeiten gegeben. Als der Krieg vorüber war, Kaufmann im Gefängnis saß und Sigrid Kaufmann samt Tochter Helga oben auf dem Gut unter einer Art halboffiziellem Hausarrest stand, gab es viele, die der Ansicht waren, auch von den ehemaligen Handlangern des alten Nazis müsse nun Gerechtigkeit eingefordert werden, was insbesondere für Johannes galt, der Kaufmann viele Jahre als Chauffeur gedient hatte. Ein Trupp von mehreren hundert aufgebrachten Männern hatte sich vor dem Gelben Haus eingefunden, um ebendas zu tun, doch da war Simonsen dazwischengegangen und hatte zu den Anwesenden gesagt, sie sollten nichts tun, was sie später bereuen würden, jeder solle stattdessen zu sich nach Hause gehen und den Lauf der Gerechtigkeit abwarten. Von da an hing stets ein Reserveschlüssel zum Gelben Haus am Haken neben dem Sicherungskasten im Flur vor Simonsens Arbeitszimmer. Als Kinder haben Minna und ich es geliebt, Simonsen in seinem Tonstudio im Keller zu besuchen. Hinter seinem Schreibtisch bewahrte er auf breiten Wandregalen seine ganze beachtliche Geräuschsammlung auf, Tausende Rollen mit Tonbändern in runden Blechschachteln. Auf den Bändern konnte man das Knacken und Knirschen kalbender Gletscher vernehmen, das plötzliche Zuklappen eines Krokodilmauls, wenn es sich um seine Beute schloss, oder lange tropische Regengüsse, die so heftig waren, dass sie nicht einmal wie ein Geräusch klangen, sondern mehr, als hätte einem jemand Watte in die Ohren gestopft. Minna und ich gingen oft abends oder am Wochenende dorthin oder überhaupt, wenn uns langweilig war, um Simonsen zu überreden, uns seine besten Geräusche vorzuspielen. Am meisten Spaß hatten wir an den lebendigen Stimmen und Tönen, die er hatte einfangen können. Auf seinen Bändern konnten wir den heiseren Doppelschrei der Fasane vernehmen, von dem Simonsen sagte, er gleiche Todesschreien – die Fasane auf der Insel waren so zahlreich, dass man sie auf den Straßen gleich feinen, sonntäglich herausgeputzten Herrschaften stolzieren sah (jedenfalls die Männchen, während die Weibchen oft am Wegrand versteckt lagen) –, und das Gebell von Brekkes Hund, wenn er sich selbst am Ende der langen Laufleine würgte, an der Brekke ihn festgebunden hielt. Wir konnten das Räuspern und Husten von Herrn Kaufmann hören, konnten Magister Norvigs komplizierter Vorlesung, wie man die Landesfahne entrollt und wieder einrollt, lauschen und kriegten mit, wie sich Herr Carsten in seinem holprigen Halbdänisch mit irgendetwas brüstete. Und die ganze Zeit, während die Insel gleichsam an unseren Ohren Revue passierte, hing der Schlüssel dort an seinem Haken neben dem Sicherungskasten. Hatten wir uns ausgesperrt oder wenn Johannes das Auto genommen hatte, um einen überraschenden Auftrag zu erledigen, konnten wir uns Simonsens Schlüssel holen, obwohl Minna es vorzog, durch irgendein angelehntes Fenster ins Haus zu gelangen. So war es viel lustiger: an Fallrohren und Gesimsen hochzuklettern. Mit diesem Schlüssel hatte sich Ebba auch nun nach dem Dreikönigstag ins Gelbe Haus Eingang verschafft. Johannes war nicht vorbeigekommen, um Frohe Weihnachten, ja nicht einmal um alles Gute zum Neuen Jahr zu wünschen, was er sonst stets tat, und der Briefkasten quoll seit langem von Werbung und Rechnungen über, die niemand hereingeholt hatte. Er musste schon ein paar Wochen tot gewesen sein, als Ebba ihn fand, und nur die Kälte im ungeheizten Haus hatte verhindert, dass der Leichengestank nicht noch schlimmer war. Er hatte in der Küche gesessen, wo er sich nach der Mahlzeit gern »ein Weilchen erholte«, im Winkel, wie er den engen Platz zwischen dem kleinen Klapptisch, den er als Esstisch benutzte, und der Speisekammer nannte, den Arm in einer unnatürlichen Drehung zur Tischplatte und Kopf und restlicher Körper nach hinten zur Wand geworfen. Von dorther, aus seinem Winkel, hatte er all die Jahre an mich geschrieben. Lange Briefe mit bis zu zehn oder fünfzehn Seiten, die zusammenzukritzeln viele Abende erfordert haben musste. Noch Mitte Dezember hatte ich einen solchen Brief erhalten, und abgesehen von den Magenbeschwerden, über die er ständig klagte und die ich darauf zurückführte, dass er sich nicht richtig ernährte, nur Brot und Konserven aß, gab es nichts in dem Brief, dem sich entnehmen ließ, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Johannes’ Briefe waren auf äußerst charakteristische Weise verfasst, vollgekritzelt mit kleinen, dicht gedrängten Versalien (er schrieb alles in Versalien) auf derbem, kariertem Papier aus Notizheften von schlechter Qualität, die er seit eh und je bei Brekke und zuvor bei Brekkes Vater erstanden hatte. Während er schrieb, riss er eine Seite nach der anderen heraus, bis nur noch der geleimte Rücken übrig blieb, den er anschließend im Aschenbecher verbrannte, bevor er mit einem neuen Heft begann. (Aus meiner Kindheit habe ich den Geruch nach verbranntem Leim noch deutlich in Erinnerung, wenn der Rücken des Hefts dann Feuer fing und zu qualmen begann: ein stechender, scheußlicher Gestank.) Mit den Jahren wurde der Ton der Briefe immer querulantischer. Je älter Johannes wurde, desto mehr bildete er sich ein, andere würden sich gegen ihn verschwören. Und immer hielt er es für notwendig, genau mir alle Beweise, die er dafür hatte, dass es sich so verhielt, vorzulegen. Johannes führte Buch über alles und alle, mit denen er im Laufe der Jahre aneinandergeriet: einen großen, schwarzen, dickbauchigen Ringordner, den er Karthago taufte. Im Karthago hatte er private Briefe abgeheftet, dazu Ausschnitte aus im Lokalblatt erschienenen Leserbriefen (eigenen und fremden), Quittungen von Banktransaktionen, Briefe an die Steuerbehörde, an Lieferanten von Heizöl, ans Elektrizitäts- und Wasserwerk oder an den Interessenverband der Insel. Letztgenannte Schreiben betrafen Streitigkeiten, die ständig darüber ausbrachen, wo die Grundstücksgrenzen verliefen, wie das Schneeräumen zu finanzieren war, wie die jährliche Gemeinschaftsarbeit durchgeführt und wie der Anlegesteg mit den festen Bootsplätzen betrieben werden sollte, über den Johannes zusammen mit den anderen aus der Gruppe, die man die zwanzig Grundstückseigner nannte, verfügte. Et cetera, et cetera. Die zwanzig Grundstückseigner waren die ersten fest auf der Insel Ansässigen, für die Kaufmann Baugrund abgeteilt hatte, und sie gerieten sich ständig in die Haare, insbesondere um die Bootsplätze gab es fortwährend Konflikte, da manche sie untervermieten wollten, während andere, beispielsweise van Diesen, so viele Bootsplätze wie möglich aufkaufen wollten, um den gesamten Anleger in eine private Marina verwandeln zu können. Das werde ich im Karthago festhalten, sagte Johannes immer, wenn etwas passierte, was ihn empörte, wie zuletzt das mit van Diesens Plänen. Oder auch: Bestimmt habe ich hier was im Karthago, was dich interessieren könnte. Letztgenanntes sagte er häufig am Telefon, und ich gestehe, oft war es die Aussicht, stundenlangen Vorlesungen aus dem Karthago ausgesetzt zu werden, die mich einen leeren Vorwand nach dem anderen vorbringen ließ, um nicht auf die Insel fahren zu müssen. Je weiter die Jahre voranschritten, desto mehr wurde Johannes von all diesen Streitigkeiten aufgefressen. Irgendwie finde ich das nicht mal im Karthago, schrieb er zuweilen über eine Angelegenheit, die seinen Zorn geweckt hatte, und ich sah ihn vor mir, wie er tagelang Schubladen und Kartons durchwühlte nach dem Beweis, der ihn letztlich freisprechen würde von was auch immer er meinte freigesprochen werden zu müssen. Eigentlich war es ein Wunder, dass Johannes überhaupt schrieb. Er fing an, schlecht zu sehen, verlegte seine Lesebrille, und manchmal vergingen Wochen, ohne dass er sie finden konnte. Auch mit dem Rücken hatte er Probleme, und nach einem Oberschenkelhalsbruch war er auf dem rechten Bein fast...


Sem-Sandberg, Steve
Steve Sem-Sandberg, geboren 1958 in Oslo, ist einer der renommiertesten skandinavischen Autoren. Für den Roman 'Die Elenden von Lódz' bekam er den August-Preis verliehen. Sein neuer Roman 'W.' wurde von der schwedischen Presse gefeiert, gewann den Eyvind Johnson Prize 2020 sowie den Delblanc Preis 2021 und stand auf der Shortlist des August-Preises sowie des Preises des Nordischen Rates. Steve Sem-Sandberg lebt in Stockholm und wurde 2020 in das Komitee der Schwedischen Akademie gewählt.

Steve Sem-Sandberg, geboren 1958 in Oslo, ist einer der renommiertesten skandinavischen Autoren. Für den Roman 'Die Elenden von Lódz' bekam er den August-Preis verliehen. Sein neuer Roman 'W.' wurde von der schwedischen Presse gefeiert, gewann den Eyvind Johnson Prize 2020 sowie den Delblanc Preis 2021 und stand auf der Shortlist des August-Preises sowie des Preises des Nordischen Rates. Steve Sem-Sandberg lebt in Stockholm und wurde 2020 in das Komitee der Schwedischen Akademie gewählt.

Steve Sem-Sandberg, geboren 1958 in Oslo, ist einer der renommiertesten skandinavischen Autoren. Für den Roman »Die Elenden von Lódz« bekam er den August-Preis verliehen. Sein neuer Roman »W.« wurde von der schwedischen Presse gefeiert, gewann den Eyvind Johnson Prize 2020 sowie den Delblanc Preis 2021 und stand auf der Shortlist des August-Preises sowie des Preises des Nordischen Rates. Steve Sem-Sandberg lebt in Stockholm und wurde 2020 in das Komitee der Schwedischen Akademie gewählt.



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