E-Book, Deutsch, Band 2, 352 Seiten
Reihe: Die Burma-Serie
Sendker Herzenstimmen
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-641-07988-8
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 2, 352 Seiten
Reihe: Die Burma-Serie
ISBN: 978-3-641-07988-8
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Zehn Jahre ist es her, dass Julia Win aus Burma als anderer Mensch zurückgekehrt ist. Doch mittlerweile hat sie das rastlose westliche Leben und ihre Karriere in einer New Yorker Anwaltskanzlei wieder eingeholt. Da erreicht sie ein rätselhafter Brief ihres Halbbruders U Ba, und eine fremde, innere Stimme beginnt zu ihr zu sprechen. Bald erkennt sie, dass sie noch einmal zurück muss nach Burma, um dem Geheimnis dieser Stimme auf den Grund zu gehen und die Quelle ihres persönlichen Glücks wiederzuentdecken.
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1
Der Tag, an dem meine Welt aus den Fugen geriet, begann unter einem tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Es war ein klirrend kalter Freitag in der Woche vor Thanksgiving. Ich habe mich seitdem oft gefragt, ob ich es hätte kommen sehen können. Weshalb hatte ich nichts bemerkt? Wie konnte sich ein so folgenschweres Ereignis in meinem Leben anbahnen, ohne dass ich auch nur eine Ahnung davon gehabt hatte? Ausgerechnet ich, die Überraschungen so verabscheute. Die sich auf alles, jede Verhandlung, jede Reise, selbst einen Ausflug am Wochenende oder ein gemeinsames Kochen mit Bekannten so gewissenhaft wie möglich vorbereitete. Ich überließ nichts gern dem Zufall. Ich ertrug das Unerwartete nur schwer. Es zählte nicht zu meinen Freunden.
Amy war sich sicher, es habe erste Symptome gegeben. Es gebe sie immer. Wir seien nur so sehr in unseren Alltag vertieft, Gefangene unserer Routinen, dass wir den Blick für sie verloren haben.
Für die kleinen Geschichten, die uns Großes erzählen.
Sie war überzeugt, dass jeder Mensch sich selbst das größte Rätsel ist und unsere lebenslange Aufgabe darin besteht, der Lösung dieses Rätsels näher zu kommen. Lösen, behauptete sie, würden wir es nie. Aber auf den Weg dorthin müssten wir uns machen. Ganz gleich, wie lang er ist oder wohin er uns führt.
Ich war mir nicht sicher. Amy und ich waren oft unterschiedlicher Meinung. Das sollte nicht heißen, dass ich ihr in diesem Fall nicht bis zu einem gewissen Grad recht gab. Vermutlich hatte es in den Monaten zuvor immer wieder Momente gegeben, die mich hätten warnen können. Aber wie viel Zeit können wir tagein und tagaus damit verbringen, in uns hineinzuhorchen, um mögliche Signale und Zeichen für irgendetwas zu entschlüsseln?
Ich gehörte nicht zu den Menschen, die jede körperliche Veränderung sofort als Anzeichen einer Störung ihres seelischen Gleichgewichts deuteten.
Die kleinen, roten Pickel am Hals, die sich innerhalb weniger Tage in einen schmerzhaft brennenden Hautausschlag verwandelten, für den kein Arzt eine Erklärung fand, und die nach einigen Wochen so plötzlich wieder verschwanden, wie sie gekommen waren, konnten viele Ursachen haben. Das gelegentliche Rauschen in den Ohren ebenfalls. Meine Schlaflosigkeit. Meine zunehmende Gereiztheit und die Ungeduld, die sich in den allermeisten Fällen gegen mich selber richtete. Beides war mir nicht unbekannt, und ich führte das auf die Belastungen im Büro zurück. Der Preis, den jeder von uns in der Kanzlei zahlte und auch zu zahlen bereit war. Ich beklagte mich nicht.
Der Brief lag in der Mitte meines Schreibtisches. Es war ein leicht zerknitterter, hellblauer Luftpostumschlag, wie ihn heute kaum noch jemand benutzt. Ich erkannte seine Handschrift sofort. Niemand schrieb mit solcher Hingabe. Nur er nahm sich die Zeit, aus Briefen kleine Kunstwerke zu machen. Die geschwungenen Linien hatte er mit schwarzer Tinte so fein säuberlich gezogen, als handle es sich um eine Kalligrafie. Jeder Buchstabe ein Geschenk. Zwei Seiten eng beschrieben, jeder Satz, jede Zeile mit einer Sorgfalt und Leidenschaft aufs Papier gebracht, wie es nur Menschen vermögen, für die das Schreiben eine Gabe ist, die man nicht hoch genug achten kann.
Auf dem Kuvert klebte eine amerikanische Briefmarke. Er musste es einem Touristen mitgegeben haben, das war der schnellste und sicherste Weg. Ich schaute auf die Uhr. In zwei Minuten sollte die nächste Konferenz beginnen, nicht genug Zeit, um den ganzen Brief zu lesen, aber meine Neugier war zu groß. Ich öffnete den Umschlag und überflog in aller Eile die ersten Zeilen.
Kalaw, der neunte November,
im Jahre zweitausendundsechs
»Meine liebe kleine Schwester,
ich hoffe, … erreicht Dich … guter Gesundheit. Bitte … Schweigen, das letzte Mal … ein paar Zeilen …?
Eine Ewigkeit … erkrankt … bald sterben … ein Kommen und Gehen … das Leben … wie schnell sich Deine Welt dreht.
Gestern … etwas Sonderbares … Eine Frau … tot zusammengebrochen. … um Vergebung gebeten. Tränen … groß wie Erdnüsse …«
Ein kräftiges Klopfen holte mich zurück. Mulligan stand in der Tür. Sein wuchtiger, durchtrainierter Körper füllte fast den ganzen Rahmen aus. Ich wollte ihn um einen Augenblick Geduld bitten. Ein Brief meines Bruders aus Burma. Ein kleines Kunstwerk, das … Er lächelte, und bevor ich ein Wort sagen konnte, tippte er mit dem Finger auf seine große Armbanduhr. Ich nickte. Mulligan war einer der Partner von Simon & Koons, unser bester Anwalt, aber von Tränen, groß wie Erdnüsse, verstand er nichts. Von Buchstaben als Geschenk auch nicht. Seine Handschrift war unleserlich.
Die anderen Kollegen warteten bereits. Es roch nach frischem Kaffee, Marc steckte sich den letzten Bissen eines Muffins in den Mund und grinste mir zu. Wir hatten eine Wette laufen, ob es ihm gelingen würde, bis Weihnachten fünf Kilo abzunehmen. Es wurde ruhiger, als wir uns setzten. In der kommenden Woche würden wir eine Klageschrift für unseren wichtigsten Mandanten einreichen müssen. Eine komplizierte Geschichte. Copyright-Verletzungen, Raubkopien aus Amerika und China, mutmaßliche Wirtschaftsspionage. Internationales Wirtschaftsrecht. Schadenssumme mindestens hundert Millionen Dollar. Die Zeit war knapp.
Mulligan versenkte nach und nach vier Zuckerwürfel in seinem Kaffee, rührte in Ruhe um und wartete, bis es völlig still geworden war. Er sprach leise, und doch drang seine tiefe Stimme bis in den letzten Winkel des Raums. Mir aber fiel es schon nach wenigen Sätzen schwer, ihm zu folgen. Ich versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren, doch irgendetwas zog mich weg. Fort aus diesem Raum. Fort aus dieser Welt von Verdächtigungen, Beschuldigungen, Vorwürfen und Gegenvorwürfen.
Ich dachte an meinen Bruder in Burma. Er war mir plötzlich so gegenwärtig, als hätte er mir nicht einen Brief geschrieben, sondern wäre persönlich gekommen. Ich dachte an unsere erste Begegnung in dem heruntergekommenen Teehaus in Kalaw. Wie er mich angestarrt hatte, plötzlich aufgestanden und auf mich zugekommen war. In seinem vergilbten weißen Oberhemd, seinem verwaschenen Longy, den ausgeleierten Gummisandalen. Mein Halbbruder, von dem ich nichts gewusst, nicht einmal etwas geahnt hatte. Für einen verarmten Alten hatte ich ihn gehalten, der mich anbetteln wollte. Ich erinnerte mich, wie er sich zu mir setzte, um mir eine Frage zu stellen. »Glauben Sie an die Liebe, Julia?« Noch heute habe ich den Klang seiner Worte im Ohr. Als wäre die Zeit für diese Frage stehen geblieben. Ich hatte laut lachen müssen – und er hatte sich nicht aus der Ruhe bringen lassen.
Während Mulligan etwas vom »Wert des geistigen Eigentums« erzählte, fielen mir seine ersten Sätze wieder ein. Wort für Wort. »Ich meine es ernst«, war U Ba nach meinem Lachen unbeirrt fortgefahren. »Ich spreche von der Liebe, die Blinde zu Sehenden macht. Von der Liebe, die stärker ist als die Angst. Ich spreche von der Liebe, die dem Leben einen Sinn einhaucht …«
Nein, hatte ich ihm irgendwann geantwortet. Nein, daran glaubte ich nicht.
In den folgenden Tagen war ich von ihm eines Besseren belehrt worden. Und jetzt? Fast zehn Jahre später? Glaubte ich noch an eine Kraft, die Blinde zu Sehenden macht? Würde ich in diesem Kreis jemanden überzeugen können, dass der Mensch über Eigensucht triumphieren kann? Sie würden mich auslachen.
Mulligan sprach vom »wichtigsten Fall des Jahres … deshalb müssen wir …« Ich bemühte mich noch einmal mit aller Kraft um Konzentration, doch meine Gedanken drifteten fort, willenlos wie ein Stück Holz, mit dem die Wellen spielen.
»Julia.« Mulligan zerrte mich zurück nach Manhattan. »Du bist dran.«
Ich nickte ihm zu, warf einen hilflosen Blick auf meine Notizen, wollte mit ein paar Standardsätzen beginnen, als mich ein zaghaftes Flüstern unterbrach.
Ich stockte.
Wer bist du?
Hingehaucht und doch nicht zu überhören.
Wer bist du?
Eine Frauenstimme. Immer noch leise, aber klar und deutlich.
Ich schaute über meine rechte Schulter, um zu sehen, wer mich mit so einer Frage ausgerechnet in diesem Moment unterbrach. Niemand.
Wo mochte sie sonst herkommen?
Wer bist du?
Ich drehte mich unwillkürlich nach links. Nichts. Ein Flüstern aus dem Nirgendwo.
Was wollen die Männer von dir?
Gespannte Stille um mich herum. Ich atmete tief ein und wieder aus. Mir wurde warm. Ich schwieg beklommen und hielt die Augen gesenkt. Jemand räusperte sich.
Nimm dich in Acht vor ihnen.
»Julia?«
Kein Wort. Nicht eins. Atemnot. Woher kam diese Stimme? Wer sprach zu mir? Was wollte sie? Warum sollte ich mich vor meinen Kollegen hüten?
»Du kannst beginnen. Wir sind ganz Ohr.« Mulligans wachsende Ungeduld. Erstes Hüsteln.
Du musst ganz vorsichtig sein. Pass auf, was du sagst. Pass auf, wen du anschaust.
Ich hob den Kopf und ließ meinen Blick vorsichtig kreisen. Das unruhige Wippen mancher Oberkörper. Marcs besorgte Miene, er litt mit mir. Vermutete ich. Über Franks breites Gesicht flog ein spöttisches Lächeln. Als hätte er immer geahnt, dass der Tag käme, an dem ich den Druck nicht mehr aushalten und kläglich scheitern würde.
Du darfst ihnen nicht trauen, egal was sie sagen.
Die Stimme schnürte mir die Kehle zu. Ich war wie gelähmt. Vor meinen Augen begannen die Gesichter zu verschwimmen. Handschweiß. Ich spürte, wie mein Herz...